René Moreau, Hans Jürgen Kugler und Heinz Wipperfürth (Hrsg.): Exodus 45, 10/22
solide, aber ...
Wie immer liegt schon die nächste Exodus hier, wenn ich mit meiner Rezension soweit bin. Diesmal gab es einige Texte, die mich angesprochen haben. Aber auch einiges für mich Schwieriges ...
Uwe Schimunek: KIM
Ein Musiker hat einen Auftritt – und es ist fraglich, wer hier eigentlich die Musik macht. Diese kurze Geschichte hat mich nicht nur gut unterhalten, sondern auch nachdenklich gemacht und fasziniert: „Seit dem letzten Update schleift die Software die Ecken aus meinen Bewegungen und synchronisiert mein digitales Alter Ego auf den Beat ...“ heißt es da. Es ist schwer, darüber zu schreiben, ohne zu spoilern, denn die Stärke des Textes liegt meines Erachtens nicht nur in der sehr eigenen fantasievollen Sprache, sondern in dem, was zwischen den Zeilen verhandelt wird: Ein Weltenbau, der Menschen letztlich überflüssig macht. Die Frage, ob Maschinen Menschen dienen oder umgekehrt, ist keine neue, wird hier aber einmal im Rahmen von Musik verhandelt.
Leszek Stalewski: Some Time in Mozambique
In einer Forschungsstation in Mozambique hat eine Forscherin den Auftrag, Menschen beim Sterben zu beobachten. Eine Art Seuche ist ausgebrochen, Pilze befallen Menschen und töten sie schnell. Die Forscherin sucht vergeblich nach einer Heilmethode, während sie einem Sterbenden zusieht, der im Delirium philosophiert.
Der Text ist in einer dichten, teilweise unverständlichen Sprache geschrieben, wirkt stellenweise wie ein Ausdruck des beschriebenen Deliriums, der sich mir nicht erschließt. Atmosphärisch dicht kann ich die Einsamkeit der Forscherin spüren, allerdings habe ich bis zum Schluss nicht verstanden, mit wem sie wie kommuniziert. Zunächst dachte ich, sie hat dort Kollegen, aber scheinbar ist sie allein mit einer KI. Der Text endet mit ihrem Tod, plötzlich scheint sie alles verstanden zu haben, aber da sie es, ebenso wie die Sterbenden, denen sie zuschaut, nicht verständlich kommunizieren kann, verstehe ich als Leser*in es nicht. Das ist zwar folgerichtig, aber auch unbefriedigend.
Vlad Hernández: Flux (Übersetzung aus dem Spanischen von Pia Biundo)
In dieser Ich-Erzählung ist eine Person an einem unbestimmten Ort. Die Person trifft eine Rigeliana, wobei unklar bleibt, was das ist: eine Außerirdische? Eine veränderte Frau? Sie will etwas vom Ich-Erzähler und er gibt es ihr, das Ganze erscheint surreal. Später sieht er sich Fernsehsendungen an, in denen die Frau in unverständlicher hochwissenschaftlicher Sprache über Drogen spricht, von denen sie und er abhängig zu sein scheinen. Und plötzlich hat er die Droge und nimmt sie ein.
Mich hat dieser Text abgestoßen, die eklig wirkende Illustration passt dazu: das Bild einer feminin wirkenden Person, die maximal abstoßend und natürlich nackt präsentiert wird. Ich finde das zu voyeuristisch und zu wenig freundlich im Blick.
Aber zurück zum Text: Die unverständliche Sprache fand ich mühsam, die Handlung großenteils unverständlich – wie ein Drogenrausch, der sich dem Verständnis entzieht. Das passt irgendwie zum Inhalt, aber ich finde es weder interessant noch unterhaltsam.
Wolf Welling: Eindringling
Ein Mann ist in einem Büro, in dem er einen inhaltsleeren Job hat, dem er aus unbekannten Gründen gewissenhaft nachzugehen versucht. Der Text zeichnet gekonnt eine bedrückende, dichte Atmosphäre von Sinnlosigkeit, in der der Protagonist blass bleibt. Der Text wird immer surrealer, macht dann eine überraschende Wendung, die ich nicht spoilern will, und kommt zu einem raschen Ende, das ich vier Mal gelesen habe, ohne eine eindeutige Interpretation entwickeln zu können. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich die Mehrdeutigkeit und dadurch auch irgendwie Beliebigkeit des Endes mag oder nicht. Ich bin zu keinem eindeutigen Schluss gekommen.
Norbert Stöbe: Einer fehlt
Auf einem Raumschiff werden fünf Kolonisten aufgeweckt und „durchgespült“ (was genau das ist, bleibt unklar). Ihre flirtenden Interaktionen werden geschildert, die Protagonist*innen bleiben aber blass, austauschbar. Als einer von ihnen berichtet, dass sie einmal eine Person mehr waren, kommt es zur Eskalation und zum Streit. Das Ganze ist atmosphärisch dicht beschrieben und knüpft in der surrealen, bedrückenden Stimmung an „Eindringling“ an. Auch hier scheint alles unglaubwürdig – ein Raumschiff mit 30 Kolonist*innen ergibt in keinem Fall Sinn. Das Ende fand ich sowohl bedrückend als auch witzig, aufgrund seiner Folgerichtigkeit habe ich ihm die Vorhersehbarkeit nicht so übelgenommen, denn natürlich fehlt als nächstes der Zweifler ...
Christian Endres: In einer Welt, in der du …
Zwei Nerds erfinden ein Gerät, mit dem sie in Paralleluniversen reisen können und halten sie geheim. Der Text ist aus der Perspektive des einen davon geschrieben, der den anderen anklagt. Ich mochte anfangs den vertraulichen und persönlichen Ton, in dem das geschrieben ist, aber dann folgt eine sehr lange Aufzählung absurder Universen, die mich langweilt, weil sie mein Kopfkino nicht im mindesten anregte. Dann gibt es endlich einen Twist, aber der ist leider sehr ausgelutscht: Es ist alles nur eine Eifersuchtsgeschichte und die Reaktion des Protas darauf leider auch alles andere als innovativ.
Lyrik: Hans Jürgen Kugler: Kontakt
Auch hier gibt es wieder ein Bild und ein dazu passendes Gedicht oder besser: eine Mikrofiction. Erzählt wird eine kurze Geschichte, die sprachlich unlyrisch daherkommt: keine Verdichtung, kein Rhythmus, keine Vieldeutigkeit. Daher empfinde ich die Überschrift „Lyrik – Sektion“ als irreführend. Das Ganze ist ganz witzig, mehr aber auch nicht. Leider.
Norbert Fiks: Nach dem Heldentod
Ein Mann erzählt von einer Mondmission, bei der alles schiefläuft und für die er im Nachhinein gezwungen wird, bei einer Lüge mitzumachen, die er nun beichtet. Die Geschichte ist ganz interessant geschrieben, allerdings kann sie mich nicht recht packen. Da der Ich-Erzähler emotionslos und blass bleibt, lässt mich die Sache kalt und auch das Ende entlockt mir nicht viel mehr als ein Schulterzucken. Der enthaltene Rassismus (und Sexismus), dass es nun unbedingt ein weißer Mann sein muss, der den Mond betritt, erscheint mir auch sehr altmodisch. Eine Idee, was eigentlich warum genau passiert ist, hatte ich bis zum Schluss nicht, was ich unbefriedigend finde: so bleibt alles vage.
Volker Dornemann: Oh Venus (Lyrik)
Wie auch Kuglers Gedicht greift dieses die Zerstörung der Erde auf und wie auch Kuglers Text ist es nicht wirklich ein Gedicht, sondern Mikrofiction. Auch hier fehlt ein Rhythmus, eine Verdichtung, eine Mehrdeutigkeit. Die Illustrationen wirken kühler als bei Kugler. Ich empfand die Zusammenstellung und vor allem den Text sehr als mit dem erhobenen Zeigefinger und darum wenig interessant, zumal realistischerweise ja nicht die Erde (oder Venus) sterben wird, sondern „nur“ wir Menschen.
Galerie: Michael Böhme, Begleittext von Prof. Dr. Hans-Ulrich Keller
Die Galerie zeigt diesmal Bilder, die meinen Geschmack nicht so trafen. Die sehr detailreichen und realistisch wirkenden Gemälde fiktiver Landschaften sind alle recht ähnlich und wirken auf mich zu süßlich. Der Begleittext ist recht redundant und für mich wenig interessant. Ich mag es, wenn ein Begleittext mir neue Aspekte der Bildbetrachtung erschließt, das ist hier nicht der Fall.
Marco Rauch: Die Aufpasser
Zwei Männer haben den Job, alte Leute umzubringen, die sich nicht freiwillig einschläfern lassen. Dabei passen sie auch aufeinander auf. Der Text spielt gekonnt mit der Frage, wer hier wen bedroht, und lässt auch den Weltenbau gelungen einfließen. Allerdings hat er für mich deutliche Längen und Redundanzen, die die recht schnörkellose und eher beschreibende Sprache nicht interessant genug gestalten kann. Das Ende ist vorhersehbar, aber folgerichtig.
Peter Schattschneider: Schneller als das Licht
Ein Mann glaubt, ein Gerät erfunden zu haben, das die Lichtgeschwindigkeit verändern kann. Ein zweiter Mann soll das bestätigen. Der Text erzählt von der Begegnung beider Männer und dem Experiment, wobei er mit physikalischem Wissen so um sich wirft, dass man viel Grundwissen braucht, um es zu verstehen. In einem Nachtrag wird dieses Wissen noch einmal expliziert. Auch wenn die physikalischen Grundlagen interessant sein mögen, und die Sprache gut fließt, funktioniert der Text für mich als Geschichte nicht: Die Figuren bleiben blass und der eigentliche Spannungsbogen wird für mich nicht zufriedenstellend beendet.
Alexa Rudolph: Das Wetter ist heute besonders schön. Haben Sie noch Wünsche?
Zwei Frauen leben miteinander, erst hielt ich sie für Partnerinnen, dann wird deutlich: Es sind Mutter und Tochter. Die Mutter hat das Gefühl, zur Last zu fallen, und entscheidet sich zum Umzug in eine Residenz. Diese wird ausführlich und mit ausgefeilten Formulierungen beschrieben, an der Sprache, die auch altmodischen Wörtern einen Platz bietet, hatte ich wirklich Freude. Die Mutter fühlt sich wohl in der Residenz und schildert ihre Zufriedenheit, nur die Tochter bleibt skeptisch. Aber sie bleibt zurück, die Mutter bewegt sich von ihr fort. Die Autorin schürt zwischen den üppigen Schilderungen gekonnt Beunruhigung, bei mir vor allem über den Mangel an Interaktionen zwischen den Menschen in der Residenz. Stets wartete ich auf etwas Drohendes, das gerade dadurch so gruselig war, dass es nie kam ...
Comic von Kostas Koufogiorgos
Das einseitige Comic erzählt nicht wirklich eine Geschichte. Ein Roboter freut sich darüber, dass der letzte Mensch tot ist. Hmm. Da kann ich nur mit den Schultern zucken, weil in mir keine Geschichte entsteht.
Thomas Grüter: Meine künstlichen Kinder spielen im Park
Protagonist Clive, zuständig für Cyber-Security auf einer Raumstation im Uranusorbit, soll einen Kriminalfall lösen. Dafür hat er Hilfe von zwei KIs, seinen künstlichen Kindern. Und wird von Flashbacks geplagt. Als ein außerirdisches Bakterium auftaucht, das jemand nutzen möchte, um die Bewohner*innen der Station zu bedrohen, wird es richtig rasant.
Der Text ist unterhaltsam geschrieben, mit einigen für mich gelungen eingesetzten Phrasen, die Clive charakterisieren. Allerdings empfand ich manche Stellen als infodumpig. Wenn die Motivation des Gegners nur verständlich ist, wenn sie im Text direkt erklärt wird, ist ein Text für meinen Geschmack nicht wirklich ein Glanzstück. So ging es mir hier. Auch fand ich die Flashbacks etwas zu ausgewalzt.
Michael Siefener: Legion TM
Ein Mann kauft sich ein neues Smart-Home-System und das Produkt erweist sich als anders als erwartet. Ich hatte großen Spaß an der Beschreibung der Interaktion und des Aussehens des Gerätes – der aber leider bald verflog, denn der Mann wird darin, wie er das Gerät nutzt, immer unsympathischer. Natürlich taucht eine einzige Frau auf und natürlich ist sie eine Sehnsuchtsfigur, bei der es nur um sexuelle Verfügbarkeit geht, die das Gerät zur Verfügung stellt. Das Ende kam dann schnell, und nach einigem Nachdenken fiel mir auch eine Interpretation dessen ein, wie das Gerät funktioniert und was das Ganze bedeutet. Befriedigend fand ich es trotzdem nicht, vor allem auch, weil der Vorgang magisch erscheint, was ich von einem Science-Fiction-Text nicht erwarte. Wenigstens der Ansatz einer wissenschaftlichen Erklärung sollte für meinen Geschmack vorhanden sein.
Steine-Comic von Volkertoons
Wie so oft bei Comics verstehe ich nicht, warum die dargestellte kurze Begegnung für mich interessant sein soll. Es bleibt für mich ein Fragment, das ansprechend gezeichnet ist, das ich aber sonst nicht verstehe. Aber mein Teenager konnte mir hier weiterhelfen: Es handelt sich um eine kleine Erstkontaktgeschichte.
Angela und Karlheinz Steinmüller: Verlorene Schiffe
Eine Verwaltungsbeamte der relativistischen Flotte arbeitet in einem Büro, das sich um verlorene Schiffe kümmert. Als eine Praktikantin kommt und ihre Arbeit hinterfragt, wird die Frau zunehmend unsicher. Was mir anfangs eine neurodivergente Art wahrzunehmen und zu fühlen scheint, die gekonnt und einfühlsam beschrieben ist, wird schließlich zu der Frage, um was für ein Wesen es sich bei der Protagonistin eigentlich handelt und warum es die nötige bürokratische Kälte so leben kann. Die Frage wird nicht aufgeklärt, stattdessen erfahren wir etwas über die Motivation der Praktikantin. Dies wird als Auflösung präsentiert, die es für mich aber nicht ist, erstens weil ich die Motivation schon auf den ersten Seiten geahnt habe und sie mich daher nicht überrascht, zweitens weil sie keine einzige der sich mir stellenden Fragen erklärt.
Fazit:
Wie bei der Exodus üblich, ist auch die Ausgabe 45 haptisch und optisch ansprechend gestaltet. Die Texte haben ein hohes stilistisches Niveau, wobei mir von 13 Texten zwei sehr gut gefallen haben und sieben gut. Meist fehlt den für mich guten Texten ein überzeugendes Ende, um sie zu sehr guten Texten zu machen – es zeichnet sich immer mehr ab, dass ein gutes Ende wirklich enorm schwer zu schreiben ist.
Auffällig ist die Männerlastigkeit dieser Ausgabe. Da ein Text von zwei Personen verfasst wurde, gibt es 14 Autor*innen, von denen 12 männlich sind. Die Illustrationen sind alle von Männern erstellt worden, wobei vier Männer mehrfach vertreten sind (Michael Vogt sogar vier Mal). Alle anderen Beiträge (Editorial, Comics, Kurzprosa, Lyrik) sind von Männern. Wenn man die Texte der (männlichen) Herausgeber außen vor lässt, ergibt sich bei 41 beteiligten Personen ein Männeranteil von 38. Die Männerlastigkeit setzt sich auch inhaltlich in den Texten fort: Die handelnden Personen sind meist rein männlich, drei Texte (darunter die beiden, bei denen Autorinnen beteiligt waren) haben eine weibliche Prota, in einem weiteren Text gibt es ein handelndes Team mit einer Frau (von insgesamt fünf Personen) und einmal eine Antagonistin, die weiblich erscheint (auch wenn ich sie nicht als Mensch lese).
Was andere Formen von Diversität angeht, so gibt es mit Vlad Hernández einen spanischen Autor kubanischer Herkunft – sein Text ist eine Ausnahme in dieser Sammlung, da es sich um eine Übersetzung handelt – alle anderen Beitragenden scheinen den Fotos und Vitae nach weiß und deutsch. Über andere Hintergründe der Autor*innen (Behinderung, Schicht, kultureller Hintergrund) kann ich mangels Informationen nichts aussagen. Bei den Protagonist*innen sieht es etwas bunter aus, interessanterweise sind zwei der vier handelnden Frauen Schwarz – aber keiner der vielen Männer. In dem Text, der in Mozambique spielt, gibt es auch eine männliche Schwarze Nebenfigur. In einem Fall scheint es eine neurodivergente Figur zu geben, von der bleibt aber unklar, ob sie ein Mensch ist oder nicht.
Interessant ist, dass die Themen eine breite Vielfalt aufweisen, naturwissenschaftliche Themen sind ebenso vertreten wie philosophische oder gesellschaftliche. In einem Fall (Legion) würde ich den Text nicht als Science-Fiction einordnen, sondern als Horror.
Insgesamt hat mich das Heft zwar gut unterhalten, insbesondere bei der Diversität von Autor*innen, Grafiker*innen und Figuren sehe ich aber noch ziemlich viel Luft nach oben.
kategoriale Einschätzung
Aufmachung 3 von 3
Unterhaltung 2 von 3
Textauswahl 2 von 3
Originalität 2 von 3
Diversität 1 von 3
Tiefe 2 von 3
Sonderpunkte für Illustrationen: 2
Gesamtfazit: 13,5 von 21 möglichen Punkten