Samuel R. Delany: Babel-17. Carcosa

bereichernd, außergewöhnlich, dicht

Babel 17

In einer abgewrackten Hafenstadt, in der die Menschen alles tun, um zu überleben, sucht General Forester Rydra Wong auf, eine berühmte Dichterin und Sprachexpertin. Sie soll aufgenommene Daten entschlüsseln, die man bislang für einen Code hält. Wong hält es dagegen für eine Sprache und möchte herausfinden, von wem sie gesprochen wird. Denn Sprache eröffnet eine Sicht auf die Innenwelt der Sprechenden – und auf die ist sie gespannt.

Wir folgen der Dichterin auf der Suche nach einer Crew durch die Hafenstadt, in der es körperlose und tote Wesen gibt, welche mit chirurgisch veränderten Körpern, Sukkubi und allerlei Fabelwesen. Wong stellt ihre Crew zusammen, eine sehr diverse Crew aus tierähnlichen Menschen mit vier Beinen, Menschen verschiedener ethnischer Hintergründe – und Kindern.
Wong reist am nächsten Morgen ab, sie hat es sehr eilig, denn sie will einen Sabotageakt auf einer Raumstation verhindern, die Waffen herstellt. Während der Reise erfahren wir, dass sie den entschlüsselten Daten entnommen hat, wo die nächste Sabotage geplant ist. Und natürlich bleibt auch das Schiff nicht von Sabotage verschont.

Christoph Grimm (Hg.) Weltenportal Nr 5. 10/2023

 

bunte Mischung

weltenportal 5 front 720x1024Die Zeitschrift beginnt mit einem illustrierten Haiku, den ich nur als solchen erkannt habe, weil es im Inhaltsverzeichnis stand. Ich hielt ihn für ein Zitat. Dann folgen Kurzgeschichten.


Yvonne Tunnat: Die Geburtstagsparty


Finjas wird fünf – aber kein geladener Gast kommt zur Party. Die Geschichte erzählt uns, wie es dazu kam, und flicht dabei gekonnt Weltenbau ein: Finjas ist als einziges Kind im Umfeld kein genetisch designtes Kind. Finjas’ Mütter sind Flüchtlinge und leben nun mit ihm in einer Welt der Designerkinder, in der Finjas Wunsch nach einer Party untergeht.
Obwohl ich den Text thematisch gelungen finde, hatte ich Mühe hineinzufinden, mir gerieten anfangs die drei Personen durcheinander. Dann kam ich gut in die Geschichte, Finjas’ Erleben ließ mich aber trotzdem kalt, ich glaube, weil keine der drei Figuren für mich wirklich plastisch wurde. Auch das Handeln von Finjas’ Müttern kann ich nicht nachvollziehen, erscheint es mir doch, als würde der Raum für Finjas’ Trauer durch ihr Bestehen auf einem positiven Erleben nur kleiner. Gefallen hat mir aber der sozialkritische Aspekt des Textes.

Sven Haupt: Niemandes Schlaf. Eridanus

humorvoll und kryptisch

Niemandes SchlafDer Einstieg in dieses Buch gelang mir schnell. Ich mochte den trockenen Humor und die punktgenauen Dialoge, diese Teile holten mich sehr ab. Dafür haben mich die Beschreibungen gelegentlich irritiert, so die eines quecksilberähnlichen Kopfes, der bronzefarben ist und golden glänzt.
Auch vom Aufbau her hatte ich zunächst Mühe, dieses Buch zu verstehen. Es ist aus der Sicht von Lou erzählt, die sich die Geschehnisse im Nachhinein mithilfe von Erinnerungen und Überwachungsvideos erschließt. Dadurch gibt es zwar eine Ich-Erzählerin, aber sie schaut durch Videos vermittelt auf sich und andere, was für viel Distanz zu den Figuren sorgt.
Lou folgt abwechselnd zwei Erzählsträngen: Der erste Strang zeigt einen General und die für das Militär tätige Wissenschaftlerin Calvin, die entdecken, dass ihre verschwundenen Militärdrohnen merkwürdigerweise in einem Kühlhaus aufgetaucht sind, wo sie aus Knochen und Blut von Schlachttieren eine riesige Rose gebaut haben. Das Zweierteam, das meist nicht gut als Team funktioniert, versucht herauszufinden, wie das passieren konnte.
Der zweite Strang folgt Lou selbst, ihrem Kollegen Tuomas und ihrem Chef Herrn Scholz, die in einer riesigen Klinik leben und ebenfalls seltsame Blumen erforschen. Sie sind Expert*innen für transphysikalische Phänomene, und die beispielsweise in Toilettenspülkästen auftauchenden Blumen scheinen ein solches zu sein. Zum Team stößt sehr bald eine weitere Figur, Eva, hinzu, wobei die Art, wie dieses Team das Phänomen untersucht, für mich bis zum Schluss rätselhaft und wenig nachvollziehbar bleibt, so dass ich nur schwer beschreiben kann, was sie tun.

Mary Robinette Kowal: The Spare Man. Solaris

spannend und klischeereich

Spare Man

 

Ein Mord in einem Luxusreisemittel und niemand kann weg – spätestens seit “Mord im Orientexpress” ist das ein gängiges Krimisetting. Kowal verlegt ihre Reise ins Weltall, wir haben also eine Art Kreuzfahrt zum Mars. Tesla und ihr frisch angetrauter Mann Shal verbringen hier ihre Flitterwochen – auch das mutet sehr klassisch an. Wie das berühmte Original auch lebt der Roman von eigenwilligen Charakteren und sich ergebenden Verwicklungen. Hinzu kommen Science-Fiction-Elemente der Schiffstechnik und des Weltenbaus, wobei wir über die Welt jenseits der Wahrnehmung der Superreichen fast nichts erfahren.

 

 

Octavia E. Butler: Imago. Xenogesis Trilogie 3. Heine

unerwartet schwacher Serienabschluss

Xenogesis 3Ich hatte angenommen, dass der dritte Teil von „Xenogesis“ auf dem Mars spielen würde, der zum neuen Lebensort der Menschen wird, aber das ist nicht der Fall: Wie Teil zwei auch spielt „Imago“ auf der Erde, die von Oankali und Menschen bewohnt wird. Aber anders als die beiden vorigen Teile handelt es sich um eine Ich-Erzählung. Erzählperson ist Jodahs, der erste menschgeborene Ooloi, ein weiteres Kind von Lilith aus Teil 1. Jodahs hat ein verbotenes Geschlecht, denn es sollte männlich werden. Die Oankali wachsen die ersten Jahre ihres Lebens geschlechtslos auf und entscheiden erst dann, auch abhängig von den Bedürfnissen der Lebewesen im Umfeld, ihr Geschlecht. Dies wird durch die Ooloi-Eltern überwacht. Aber Jodah wird nicht, was es werden sollte. Diese Tatsache führt zu einer schönen Thematisierung von Gendertransition, beispielsweise als Nikanj, sein Ooloi-Elternteil, zu Jodahs sagt: „Du willst sein, was du bist. Das ist gesund und richtig für dich.“
Leider fallen hier sprachliche Schnitzer auf: Wie in den Vorbänden auch, verwenden Ooloi das Pronomen „es“, bzw., wenn auf Spanisch gesprochen wird, „er/sie“. Im Buch kommt es immer wieder vor, dass mit männlichen Pronomen auf ein Ooloi rekurriert wird.

Judith Vogt, Lena Richter, Heike Knopp-Sullivan (Hrsg.): Queer*Welten 11-2023


abwechslungsreich und berührend

QW 11

Lünn: Mein schönster Hexenprozess (Kurzgeschichte)
Drei Frauen, Liesl, Dacania und Annemarie werden der Hexerei bezichtigt. Sie sind eingesperrt und noch nicht verurteilt, aber da das Ergebnis der Untersuchung bereits feststeht, ist ihnen der Scheiterhaufen sicher. Die Geschichte ist aus der Sicht von Dacania erzählt, die eine sehr pessimistische Weltsicht und tatsächlich eine besondere Fähigkeit hat: Wenn sie einen Menschen berührt, sieht sie die Vergangenheit, die Zukunft oder – beim dritten Mal – die Gegenwart. Dacania hat mit dem Leben bereits abgeschlossen, aber Liesl, die Kühe heilen kann, weckt in ihr neue Hoffnung.
Der Text ist berührend, düster und sprachlich stark, wenn beispielsweise Liesl zu Annemarie sagt: „Dacania ist eine Hexe, weil sie Angst vor ihr haben, ich bin eine Hexe, weil ich ihnen nicht gefalle, und du bist eine Hexe, weil du ihnen zu sehr gefällst.“ Oder in den Beschreibungen, die oft lyrische Qualitäten haben: „Das Mondlicht schimmert auf ihren dunklen Locken und treibt verloren im schwarzen Meer ihrer Pupillen.“ Auch Parallelen zur Jetztzeit und dem Umgang mit weiblicher Devianz lassen sich ziehen. Das Ende ist fantastisch und bekommt es hin, zwischen Hoffnung und Verzweiflung zu changieren. Das hat mir ausnehmend gut gefallen!

Sylvana Freyberg und Uwe Post (Hg.): Future Fiction Magazine 05/September 23. Deutsche Ausgabe

durchwachsen

FFM 5

Theresa Hannig: Wo acht Arme grillen (Deutschland)

Diese amüsante Geschichte über ein entlaufenes Biotool stellt die Frage nach Freiheit. Sie ist spritzig und liest sich leicht, der stellenweise etwas klamaukige Humor hat mich immer wieder zum Schmunzeln gebracht. Das ist gute Unterhaltung und ein gelungener Weltenbau, wenn ich mir auch teilweise etwas mehr Tiefe gewünscht hätte, besonders bei der Figurenzeichnung.

Kehkashan Khalid: Splitter im Hirn (Pakistan)

In einer digitalisierten Welt lehnen die Eltern der Hauptfigur Shehrazad (eine junge Frau? Oder ein Mädchen?) Digitalisierung ab. Aber alle anderen sind implantiert und Sherazad will das auch. Als ihr ein experimentelles Implantat angeboten wird, sagt sie zu – was natürlich nicht ohne Folgen bleibt.
Die Geschichte folgt Shehrazad und einer anderen Frau auf deren Spuren, wobei beide Figuren miteinander verschwimmen. Mir war nicht ganz klar, ob das Absicht war oder nicht, ebenso wie es mir unwahrscheinlich erschien, dass die Eltern Shehrazads Versinken in virtuellen Welten so gar nicht wahrnehmen. Hier hätte ich mir etwas mehr Einblicke ins Umfeld der Hauptfigur gewünscht. Die Stärke des Textes liegt meines Erachtens in der berührenden nahen Figurenzeichnung und der gelungenen Schilderung dessen, wie sich Shehrazad in der virtuellen Welt verliert. Eine Schwäche liegt für mich in der leider häufigen Verwendung von Phrasen.

Octavia E. Butler: Rituale. Xenogesis Trilogie 2. Heine

berührend und verstörend

Xenogesis 2Ich war zunächst enttäuscht, als Band zwei dieser Trilogie nicht mit Lilith fortsetzte, die ich im ersten Band liebgewonnen hatte. Die zentrale Figur dieses zweiten Buchs ist Akin, Liliths erster Sohn. Akin hat fünf Eltern, zwei davon menschlich, und er ist ein „Konstruierter“, ein bewusst von einem Ooloi genetisch geplantes Kind. Er ist außerdem ein Kind, das wie ein Mann aussieht und einmal männlich werden wird und somit der erste menschgeborene Sohn. Ein Wesen, das als gefährlich gilt, weil es ein Mann ist.
Die Prämisse „Männer sind gefährlich und gewalttätig“ zieht sich durch das gesamte Buch. Das könnte platt oder feindselig wirken, aber Butler hat genau beobachtet und das Buch kann als Studie über toxische Männlichkeit gelesen werden, in der viele schmerzliche Wahrheiten ausgesprochen werden.
Akin wächst auf der wiederbesiedelten Erde in einer gemischten Gruppe aus Menschen und Oankali, den Außerirdischen auf, und er kann beide Spezies gut verstehen. Er ist wissbegierig und kognitiv enorm weit entwickelt, während seine körperliche Entwicklung hinterherhinkt. So kann er, als er mit knapp zwei Jahren von Widerständlern entführt wird, dem nichts entgegensetzen. Eine gewalttätige und sehr rohe Männergruppe versucht, ihn zu verkaufen, weil er menschlich aussieht, und schließlich gelingt das. Ich möchte nicht zu viel vom Plot verraten, weil das Buch sehr wesentlich von Spannung lebt. Auch wenn Akin im Zentrum steht, gibt es eine allwissende Erzählstimme mit Headhopping, wir tauchen also in wechselnde Perspektiven ein, besuchen Lilith aus dem ersten Band und Tino, einen Mann, der freiwillig zu den Oankali zurückkehrt, sowie andere Personen.