Daniel Kraus: Whalefall – Im Wal gefangen. Festa

Vater-Sohn-Story mit hohem Ekelfaktor

Cover WhalefallDer Beginn dieses Buches hat mich richtig begeistert: Kraus schildert einerseits, wie die Hauptfigur Jay sich zu einem Tauchgang aufmacht, andererseits erfahren wir in Rückblenden, wie es dazu kommt, dass er meint, nun tauchen und die Überreste seines Vaters Mitt finden zu müssen, der sich im Meer suizidiert hat. Kraus breitet dabei das Panorama einer Vater-Sohn-Beziehung aus der Sicht des Sohnes aus und findet eine sehr eigene Sprache: „Als er aufhört, die Zähne zusammenzubeißen, dringen die gewohnten Aromen ein. Salz, Sand und Angst.“ Ich liebe es, wie Kraus eigene Bilder findet, wie er die Naturbeschreibungen auf der einen Erzählebene mit den Entwertungen des Vaters auf der anderen kombiniert, wie das stille Zusehen der Mutter und Jays Leiden sichtbar wird. Allerdings erscheint es für mich nicht wirklich glaubwürdig, dass Mitt, Jays Vater, trotz seiner massiven Ausbrüche so beliebt gewesen sein soll.

Erst nach einem Drittel des Romans passiert das, was im Klappentext hervorgehoben wird: Jay wird von einem Pottwal verschluckt. Damit ging es für mich leider mit dem Lesegenuss rapide abwärts. Dass es wissenschaftlich exakt im Walmagen etwas eklig zugeht, habe ich mir schon gedacht. Aber möchte ich das ausführlich beschrieben bekommen? Nein, ich möchte nicht. Wer Freude an ekligen Beschreibungen mit vielen Innereien hat, ist hier gut bedient. Leider verschiebt sich im Fortgang des Romans der Schwerpunkt immer mehr auf die mit psi und bar-Zahlen (die verbleibende Restluft) überschriebenen Szenen im Hier und Jetzt. Dazwischen sind die mit Jahreszahlen überschriebenen Rückblenden. Jay fängt an zu fantasieren und unterhält sich im Magen des Wals mit seinem toten Vater:
„Haben Söhne auch eine Verantwortung?
Die Antwort lautet: Ja, die haben sie.
Sie müssen ihre Väter zur Verantwortung ziehen.“
Leider kann Jay Mitt nicht mehr konfrontieren, denn Mitt, der Vater, ist tot. Jay könnte innerlich den Schritt gehen, seinem Vater die Verantwortung zuzuschreiben, allerdings wäre unglaubwürdig, das er das in den 90 Minuten kann, die sein Sauerstoff reicht, in Not und ohne Gegenüber. Diesen Schritt geht der Text auch nicht. Stattdessen bekommen wir ausgiebig geschildert, wie Jay im Magen des Wales immer mehr verletzt wird. Ich gebe zu, diese Szenen konnte ich nur querlesen, sie sind das, was das Buch meines Erachtens eindeutig zu Horror macht: ausführliche Beschreibungen davon, wie dieser oder jener Knochen bricht, wie Trommelfelle reißen usw. Was als sensible und mit freundlichem Blick auf Jay beschriebene Vater-Sohn-Geschichte beginnt, wird nun zu einem Verletzungsporno, in dem Jay und der Wal zusammen sterben und sich gegenseitig verletzen bzw. zu sterben scheinen und Jay mehr zugemutet wird, als irgendjemand tragen sollte. Meines Erachtens lässt Krause hier seinen Protagonisten im Stich, verlässt den freundlichen Blick auf ihn. Damit ist der Zauber des Buches für mich dahin.

T.C. Boyle: I walk between the raindrops. Carl Hanser

sprachlich gut, aber deprimierend

Boyle Cover RaindropsDie Sammlung von 13 Kurzgeschichten des bekannten Autors hat mich zunächst irritiert, denn was ich bekam, waren Schnipsel: genau beobachtete und atmosphärisch sehr dicht geschilderte Szenen – aber ohne Anfang und ohne Ende. Bald erkannte ich, dass das zumindest zum Teil der e-book-Formatierung geschuldet war, die unklar werden ließ, ob es sich um eine Zwischenüberschrift handelt oder um eine neue Geschichte. Daher purzelte ich immer wieder aus Texten heraus oder – wenn ich dachte, hier gehe der Text weiter – in einen neuen Text hinein. Da manche Geschichten die Perspektiven wechseln, hatte ich arge Mühe damit, zu verstehen, wann ein Text zu Ende war und wann ein neuer beginnt, denn Zwischenüberschriften waren fett gedruckt und ebenso mitten auf der Seite wie die einfachen Überschriften, die oft nicht einmal Absätze bekamen und denen zu allem Überfluss noch die Leerzeichen fehlten. Hinzu kommt, dass Boyle keine klassischen Enden schreibt: Wir sehen seinen Figuren eine Weile lang zu, sie erleben etwas (meist Deprimierendes) und dann wenden wir mit dem Autor den Blick ab und bleiben mit unseren Gedanken allein. Ich fand das zunächst anregend, es hat mich dann aber doch zunehmend genervt, bekam ich doch mehr und mehr das Gefühl, dass Boyle seine Figuren vorführt, benutzt, und sich dann von ihnen abwendet, wenn ihm nichts mehr einfällt oder er sich nicht wirklich weiter mit ihnen auseinandersetzen will.

Trotz dieser Mängel fingen mich die Texte immer wieder ein, vor allem als ich begriff, dass ich in meinem e-book nach den Enden und Übergängen forschen sollte. Dann wurde nämlich durchaus klar, was zusammengehört und wie geschickt Boyle verschiedene Perspektiven in einer Geschichte verwebt. Er kann gut beobachten und dies in Worte fassen, findet eigenwillige Vergleiche, die neu sind und manchmal trotzdem so klingen, als hätte ich sie schon tausendmal gelesen: „“Wie aufmerksam“, murmelte sie, nahm mit der einen, beinahe durchscheinenden Hand die Blumen …“ Oder, noch besser: „Er bekam nicht viel mit von dem, was geschah, außer dass das Sonnenlicht die Windschutzscheibe des Wagens explodieren ließ wie eine Supernova und der Klang der Sirenen sich wie Tentakel um seinen Kopf legte.“ Hier zeigt sich Boyles Neigung zur Zuspitzung und Übertreibung. Er stellt kleine Beobachtungen neben existenzielle Erlebnisse, da geht es um Leben und Tod und immer wieder um Alkohol. In jeder Geschichte wird nicht nur getrunken, sondern das Trinken zelebriert, häufig neben dem Rauchen. Sämtliche seiner Figuren scheinen dem Alkoholismus verfallen. In den ersten Texten spielt ein gehobener Lebensstil eine große Rolle, die Figuren haben Haushälterinnen und in der Quarantäne-Geschichte, in der ein Paar auf einem Kreuzschiff in Quarantäne gerät, besteht ein ausführlich beschriebenes Problem darin, dass niemand für sie dreimal wöchentlich die Bettwäsche wechselt. Wie es dem Paar miteinander geht, erfahren wir dagegen nicht.

Tino Falke: Die Abenteuer von Pina Parasol. Ohneohren

märchenhafte Held*innengeschichten

Pina Parasol 647x1024

Pina Parasol ist Abenteurerin und professionelle Verliererin: Sie lässt Dinge verschwinden und unterstützt so Kleinkriminelle. Dabei reist sie mittels einer fliegenden Zeppelin-Lok in viele Länder und hat für alle Probleme eine Lösung.
Ich kannte nur eine Geschichte von Pina Parasol aus der Anthologie „Das Dampfbein schwingen“ und gebe zu, dass sie mich nicht wirklich begeistert hatte. Trotzdem war ich auf diese Sammlung gespannt. Sie beinhaltet 14 verschiedene Geschichten mit derselben Hauptfigur, die meistens zeitlich sortiert sind. Mitunter werden Dinge mehrfach erklärt oder der Hintergrund eines Textes später gegeben. Vieles bleibt offen.

Obwohl die Geschichten angeblich verschiedene Erzähler*innen oder Quellen haben, lesen sie sich wie aus einem Guss: stets locker erzählt, leben sie von Sprachhumor und Kalauern und lesen sich oft wie Kindergeschichten oder Märchen mit einer Prise Indiana Jones (erfreulicherweise ohne den dort üblichen Sexismus und Rassismus). Stets gehen die Abenteuer gut aus und meistens ist eindeutig klar, wer gut und wer böse ist. Falke bekommt es dabei hin, bekannte Märchen- und Fantasymotive aufzugreifen und neu umzusetzen: Da gibt es schwule Prinzen, nichtbinäre Captains, Könige im Rollstuhl usw. Die Texte spielen mit Exotismus und Entdeckerfreude, ohne dabei paternalistisch und chauvinistisch zu sein. Und gerade das sind Aspekte, die ich an dieser Sammlung feiere!

Zara Zerbe: Phytopia Plus. Verbrecher Verlag

gutes Debüt mit schwachem Ende

Phytopia Cover Web

 

In einem zukünftigen Hamburg, das ich zeitlich nicht genau einordnen kann, arbeitet Aylin als Aushilfe in einer Gärtnerei. Dort können Menschen ihr Bewusstsein auf Pflanzen speichern lassen und Aylin sorgt dafür, dass es diesen Gewächsen gut geht. Nebenbei pflegt sie hingebungsvoll ihre Zimmerpflanzen.
Ich mag diese Ursprungsidee sehr, vor allem, weil Aylin als ausgesprochener Pflanzennerd dargestellt wird, worin ich mich sehr wiederfinde. Sie ist arm und kümmert sich um ihren Großvater, der ihre einzige, noch in Hamburg verbliebene Familie ist. Und hier zeigt sich für mich dann auch eine sich leider durchziehende Schwäche des Textes: Die Beziehung zwischen Aylin und dem Großvater, die wichtigste in diesem Text, bleibt blass. Die beiden sprechen scheinbar nie über irgendetwas von Belang und warum Aylin möchte, dass ihr Großvater in einer Pflanze gespeichert wird, bleibt wenig nachvollziehbar. Ebenso wie, was sie mit dieser Speicherung verbindet.

John Scalzi: Die Gesellschaft zur Erhaltung der Kaiju-Monster. Cross Cult Entertainment

unterhaltsam und witzig

Kaiju Scalzi

 

2020, Corona grassiert und Jamie verliert seinen Job. Aber er hatte als Einziger in der WG noch Arbeit und so langsam wird es finanziell richtig eng. Als ein alter Studienfreund ihm einen ominösen Job anbietet, nimmt er an und betritt eine Parallelwelt, in der die Gesellschaft zur Erhaltung der Kaiju-Monster tätig ist.
Wir schauen Jamie zu, wie er durch die Welt stolpert und „Dinge trägt“, denn zu mehr ist er als Geisteswissenschaftler nicht nütze. Der Text lebt von Kalauern, Popkultur-Anspielungen und den absurdesten Dialogen. Es sind einige tief hängende Früchte dabei, aber wer Lust auf Unterhaltung und Spaß an Absurdität hat, die viele reale Probleme gelungen zuspitzt und aufs Korn nimmt, ist hier gut bedient. Ich jedenfalls habe mich köstlich amüsiert.
Ab der Hälfte des Romans gibt es dann wirklich einen Kaiju zu retten und das Buch wird zum Pageturner, hier gibt es einen Plot, der mich richtig ins Buch saugte.

 

Etece Buch (Hg.): Realitäten. 30 queere Stimmen

dicht, viel, berührend

Realitaeten CoverVorwort

Im Buchmarkt sind marginalisierte Stimmen nach wie vor unterrepräsentiert, die Verlagsgründer*innen wollen Raum für diese Texte schaffen. Die ausgewählten Beiträge sind Ergebnis einer offenen Ausschreibung mit großer Resonanz (ca. 400 Einsendungen).
Zum Kollektiv etece buch gehören: Alex Matheis, Diana Pauly, Franca Bohnenstengel, Henriette Magerstädt, Lea Fraider, Nadin Wildt und Nel Fraider. Ich gehe davon aus, dass sie die Herausgebenden des vorliegenden Buches sind, ganz klar wird dies aber nicht.

Samira El-Maawi: Entsicherung

Dieses Gedicht spielt mit Gedanken rund um Sicherheit: die, die so viel darüber sprechen, machen Räume für die, die sie als die Anderen bezeichnen, unsicher. Dem Text gelingt es, lyrisch und tiefsinnig zu sein. Grandios!

Cam Yildiz: Kuymak

Eine Person mit türkischen und deutschen Wurzeln berichtet in kurzen Szenen von der eigenen Familie und dem Weg als trans* Person. Yildiz denkt über eine Großcousine nach, die einerseits sehr nah und andererseits sehr fern erscheint, über den eigenen Weg und das, was denkbar ist. Mich hat das sehr berührt und angesprochen; Intersektionalität auf den Punkt gebracht.

René Moreau, Hans Jürgen Kugler und Heinz Wipperfürth (Hrsg.): Exodus 48. 06 / 2024

enttäuschend mit einigen Perlen

Exodus 48

Christian Endres: Wichtig ist nur, was die Leute glauben

Eine sympathische und handwerklich gut gemachte Erzählstimme nimmt uns mit auf ihren Job als Fahrradkurierin. Wie häufig bei Endres entwickelt sich das zur rasanten Geschichte inklusive Schießerei und Verfolgungsjagd. Ich habe das gern gelesen und es war unterhaltsam, allerdings wird die Hauptfigur für mich wenig plastisch und das Ende wirkt zu gewollt. Als sei der restliche Text nur dazu da, dieses Ende vorzubereiten. Dieses wirft einen kritischen Blick auf unsere Jetztzeit, ist aber auch zu vorhersehbar, um wirklich spannend zu sein. Ein positiver Aspekt sind für mich die gekonnt eingeflochtenen Weltenbau-Elemente.

Wolf Welling: Der Zähler und der Monolith

Den Einstieg in diesen Text mochte ich: Die Hauptfigur, ein Mann mit Zählzwängen, soll das Verschwinden einer Menschenkolonie untersuchen. Dabei hilft ihm eine KI. Ich war sehr an „Athos 2643“ erinnert, allerdings nur kurz, denn „Der Zähler und der Monolith“ gleitet schnell in Infodump ab, was das Lesevergnügen dann doch sehr trübte. Außerdem ist das Ende sehr vorhersehbar. Dass die Hauptfigur „geheilt“ wird, hat mich geärgert, widerspricht sie doch zu Beginn des Textes der Idee von Heilung ausdrücklich: Er mag seine Zwänge und will sie behalten. Sie ihm dann doch zu nehmen, ist übergriffiger Saneismus. Darüber hinaus bleibt das Ende zu vage, um mich zu befriedigen.

An Brenach: Die Goldene Kanone. (K)ein Detektivroman. Ohneohren

witzig und kurzweilig

Goldene KanoneDer Einstieg in diesen Text fiel mir leicht: In humorvoller, leicht fließender Sprache wird uns der Autor Bartholomew Magroove vorgestellt, der seinem sehr ängstlichen Assistenten Mick van Luch Romane diktiert. Brenach entführt uns in eine steampunkige Welt, in der jede Figur ein Abziehbild ihrer selbst ist: Margroove ist groß und hochnäsig, aber ein brillanter Denker, van Luch klein, mickrig und so ängstlich, dass er keinen Schritt gehen kann, ohne sich zu fürchten. Margroove hat Freude daran, van Luch zu quälen, was aufgrund dessen Angst leicht ist.
Als Margroove eine Einladung zu einer Preisverleihung bekommt, muss van Luch ihn begleiten. Beide treffen auf drei weitere Autor*innen, zwei Frauen und einen Mann, die sich beständig gegenseitig beharken. Aber was eine Preisverleihung sein sollte, wird zum Abenteuer als die Gruppe getrennt wird und sich durch den Keller kämpfen muss.
Wer Freude an Wortgefechten, unfairem Spiel und überraschenden Wendungen hat, wird die folgende Handlung genießen. Wer wie ich schwer aushalten kann, wenn Personen sich gegenseitig entwerten und/oder übergriffig sind, muss vielleicht auch manche Dialogzeilen querlesen. Auch empfand ich die Figuren etwas zu sehr zugespitzt. Die Beziehung zwischen Mick und Bartholomew bekommt zwar eine weitere Nuance (die mich stellenweise berührt hat), mir fehlte aber Figurentiefe und -entwicklung. Beides steht hier nicht im Zentrum: Das Buch nimmt sich von der ersten bis zur letzten Seite nicht ernst, ein Kalauer folgt auf den nächsten, Brenach spielt gekonnt mit Phrasen und Bildern und zieht dazu immer mal wieder einen Teufel aus der Maschine, was überraschende Wendungen erlaubt und viel Situationskomik ermöglicht. Natürlich ist am Ende niemand, wer er zu sein scheint. Das alles ist in höchstem Maße unglaubwürdig, der Text bleibt sich aber in dieser Unglaubwürdigkeit selbst so treu, dass ich da problemlos mitgegangen bin.