Roxane Bicker, Sarah Malhus (Hrsg.): X. Die zehnte Anthologie der Münchner Schreiberlinge

viel Luft nach oben …

Cover X Die Zehnte 2Dani Aquitaine: Das zehnte Kind
In einem Ort wird jedes zehnte Kind einem Drachen geopfert. Eine junge Mutter denkt, dass dies ihr Kind beträfe. Als dann deutlich wird, dass ein anderes Kind das zehnte ist, macht sie sich auf, es zu retten.
Was als klassische Kampf-gegen-den-Drachen-Geschichte beginnt, hat natürlich so einige Wendungen und ist dann doch ganz anders als gedacht. Mir hat besonders der Humor gefallen und auch der Zusammenhalt der Dorfbewohner*innen. Und natürlich der Drache. :)

E.B. Branger: Der Sprung
Ein Junge steht auf dem Zehnmeterbrett und traut sich nicht zu springen. Was erst wie eine normale Szene wirkt, wird zur Zombiapokalypse. Der Text ist gut lesbar und die Hauptfigur auch recht plastisch, allerdings finde ich den Plot weder besonders spannend noch wirklich originell. Der rettende Sprung würde meines Erachtens auch plottechnisch nicht funktionieren. Trotzdem ist das ein unterhaltsamer Text.

R.F. Krammer: Sprengkraft
Ein Bombenentschärfungsteam bei der Arbeit: Ein frischer Lehrling bekommt sofort gefährliche Aufgaben, das Finden der Bomben übernimmt eine Ratte und irgendwas hat das Ganze mit Dimensionen zu tun. Ich konnte dem Text nur mit Mühe folgen, empfand den Stil als holprig, die Figuren blass und die Motive undurchsichtig, dazu schienen mir Plot und Weltenbau unlogisch und undurchdacht. Das hat mich nicht überzeugt.

Kir Bulytschow: Oktoberrevolution 1967. Memoranda

entschleunigte Denkanregungen

Oktoberrevolution„Oktoberrevolution 1967“ enthält eine Sammlung erstmals übersetzter Kurzgeschichten des russischen Autors, die in den 1960ern und 70er Jahren entstanden sind. Trotz ihres Alters sind sie überraschend gut zu lesen.

Oktoberrevolution 1967
Ein Vorwort erklärt, dass der 1967 entstandene Text damals so gefährlich war, dass der Autor sich entschied, ihn zu vernichten. 1994 zeigte sich aber, dass ein Freund noch eine Kopie besaß, und so konnte der Text erscheinen.
„Oktoberrevolution 1967“ handelt von der Idee, dass 1967, am 50. Jahrestag der Oktoberrevolution, die Erstürmung der Ermitage in großen Stil nachgestellt wird. Natürlich geht dabei fast alles schief und das Ganze gerät aus dem Ruder.
Als DDR-sozialisierte Person haben mich einige Dinge doch sehr an meine Kindheit erinnert. Trotz dieser biografischen Anknüpfungspunkte hat der Text arge Längen und manche der satirisch anmutenden „Unfälle“ sind wohl auch nur dann lustig, wenn man den Verlauf der Oktoberrevolution genau kennt, was bei mir nicht der Fall ist. Dass „Lenin“ verhaftet wird, bringt aber wohl alle zum Schmunzeln, die ihn als Helden vorgesetzt bekommen haben.
Es spielt nur eine einzige Frau in dem Text eine Rolle. Sie wird zum ONS einer der Figuren und muss Mäntel und dann später ihre Kinder abholen, die dann aber einfach aus dem Text verschwinden (die Kinder, nicht die Mäntel). Auch das sagt wohl einiges über die Oktoberrevolution aus ...

Becky Chambers: To be Taught, if Fortunate. Hodderscape

gelungener Denkanstoß

To be taught

Dieser Kurzroman, der als „Und hoffentlich zu lernen …“ auch auf Deutsch vorliegt (bei Carcosa erschienen), folgt einer Erzählstimme, die einen Brief an die Menschheit schreibt. Es wird die Illusion erweckt, dass auch wir Menschen der Zukunft sind, die diese Nachricht der Raumfahrerin Ari lesen. Sie stammt aus einer Zukunft, die unabhängige, von Spender*innen bezahlte, Raumfahrt ermöglicht. Zusammen mit drei Teammitgliedern ist sie losgeflogen, um vier Planeten und deren Leben zu untersuchen.
Der Text beschreibt einerseits die Gruppe der vier, die eng zusammengewachsen ist, andererseits die nötige Technik (Langzeitschlaf, Körperveränderungen, um sie an die neue Umgebung anzupassen) und die Ethik, der die Raumfahrt folgt und was das bedeutet: Um jegliche Kontaminationen zu vermeiden, tragen die Menschen außerhalb des Schiffs auf den Planeten stets Anzüge und vor jeder Tat werden die Folgen der Handlungen überlegt.

 

Hilary Leichter: Luftschlösser. Arche

verwirrend und originell

Leichter LuftschloesserEin heterosexuelles Paar lebt mit seinem Baby in einer zu kleinen Wohnung und leidet unter Armut und Enge. Als sie eine Kollegin einladen, vor der ihnen die kleine Wohnung peinlich ist, öffnet diese einen Wandschrank und findet dort eine Terrasse. Diese wird zu einem Ort des Träumens, an dem sie sich all die Geschichten erzählen, die mit mehr Geld hätten möglich sein können. Die Kollegin wird zum Teil der Familie – aber nur, weil sie es ist, die die Terrasse erschaffen kann, deren Gegebensein vorausgesetzt, aber nie besprochen wird. Als die Kollegin, Stephanie, die Tür zur Terrasse schließt, reißt sie damit die Familie auseinander.

Dieser erste Teil des Buches hat mich fasziniert. Die Idee des rätselhaften Ortes, die Angst, diesen wieder zu verlieren, und Annies Einsamkeit, als ihre Tochter und ihr Mann verschwunden sind – all das hat mich sehr berührt und ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht: „Aber für einen kurzen Moment bemerkte Annie an den Rändern ihrer Stimme ein echte Traurigkeit und versuchte ausfindig zu machen, was für einen leeren Raum diese Ränder umschlossen und womit er sich füllen wollte.“

Im zweiten Teil fällt der Text in eine andere Welt: Ich lese die Geschichte eines Königspaars und eines weiteren Paars, das mit der Geburt des Kindes den Zusammenhalt verliert: „auch eine Familie ist ein Ökosystem, das aussterben kann“. Während ich das herrlich queere und absurde Märchen genossen habe, konnte ich mit der Geschichte um das dritte Paar wenig anfangen: zerfallende Dialoge, eine Absurdität nach der anderen und das Einzige, was ich zu verstehen glaubte, war, dass es auch hier darum geht, wie Einsamkeit nicht überwunden werden kann und eine dritte Person eine Beziehung zum Zerbrechen bringt, weil sie die nicht überwindbare Sehnsucht sichtbar macht. Es geht um Verlust und die Angst vor dem Verlust, die diesen vorwegnimmt.

T.C. Boyle: I walk between the raindrops. Carl Hanser

sprachlich gut, aber deprimierend

Boyle Cover RaindropsDie Sammlung von 13 Kurzgeschichten des bekannten Autors hat mich zunächst irritiert, denn was ich bekam, waren Schnipsel: genau beobachtete und atmosphärisch sehr dicht geschilderte Szenen – aber ohne Anfang und ohne Ende. Bald erkannte ich, dass das zumindest zum Teil der e-book-Formatierung geschuldet war, die unklar werden ließ, ob es sich um eine Zwischenüberschrift handelt oder um eine neue Geschichte. Daher purzelte ich immer wieder aus Texten heraus oder – wenn ich dachte, hier gehe der Text weiter – in einen neuen Text hinein. Da manche Geschichten die Perspektiven wechseln, hatte ich arge Mühe damit, zu verstehen, wann ein Text zu Ende war und wann ein neuer beginnt, denn Zwischenüberschriften waren fett gedruckt und ebenso mitten auf der Seite wie die einfachen Überschriften, die oft nicht einmal Absätze bekamen und denen zu allem Überfluss noch die Leerzeichen fehlten. Hinzu kommt, dass Boyle keine klassischen Enden schreibt: Wir sehen seinen Figuren eine Weile lang zu, sie erleben etwas (meist Deprimierendes) und dann wenden wir mit dem Autor den Blick ab und bleiben mit unseren Gedanken allein. Ich fand das zunächst anregend, es hat mich dann aber doch zunehmend genervt, bekam ich doch mehr und mehr das Gefühl, dass Boyle seine Figuren vorführt, benutzt, und sich dann von ihnen abwendet, wenn ihm nichts mehr einfällt oder er sich nicht wirklich weiter mit ihnen auseinandersetzen will.

Trotz dieser Mängel fingen mich die Texte immer wieder ein, vor allem als ich begriff, dass ich in meinem e-book nach den Enden und Übergängen forschen sollte. Dann wurde nämlich durchaus klar, was zusammengehört und wie geschickt Boyle verschiedene Perspektiven in einer Geschichte verwebt. Er kann gut beobachten und dies in Worte fassen, findet eigenwillige Vergleiche, die neu sind und manchmal trotzdem so klingen, als hätte ich sie schon tausendmal gelesen: „“Wie aufmerksam“, murmelte sie, nahm mit der einen, beinahe durchscheinenden Hand die Blumen …“ Oder, noch besser: „Er bekam nicht viel mit von dem, was geschah, außer dass das Sonnenlicht die Windschutzscheibe des Wagens explodieren ließ wie eine Supernova und der Klang der Sirenen sich wie Tentakel um seinen Kopf legte.“ Hier zeigt sich Boyles Neigung zur Zuspitzung und Übertreibung. Er stellt kleine Beobachtungen neben existenzielle Erlebnisse, da geht es um Leben und Tod und immer wieder um Alkohol. In jeder Geschichte wird nicht nur getrunken, sondern das Trinken zelebriert, häufig neben dem Rauchen. Sämtliche seiner Figuren scheinen dem Alkoholismus verfallen. In den ersten Texten spielt ein gehobener Lebensstil eine große Rolle, die Figuren haben Haushälterinnen und in der Quarantäne-Geschichte, in der ein Paar auf einem Kreuzschiff in Quarantäne gerät, besteht ein ausführlich beschriebenes Problem darin, dass niemand für sie dreimal wöchentlich die Bettwäsche wechselt. Wie es dem Paar miteinander geht, erfahren wir dagegen nicht.

Ray Nayler: Die Stimme der Kraken. Tropen

Spannend und berührend

Stimme der KrakenAuch wenn mir der Einstieg in dieses Buch nicht leicht fiel, ist es ganz klar ein 2024er Lesehighlight. Es beginnt mit einem Auszug aus dem fiktiven Buch „Wie Meere denken“ von Ha Nguyen, der Hauptfigur des Romans. Diese lernen wir zunächst ausschließlich über Zitate kennen, die zwischen den Kapiteln stehen. In mir hat das Neugier hervorgerufen, die Person kennenzulernen, die diese Worte geschrieben hat.

Das Buch selbst zeigt uns erst einmal Lawrence, der von einer kryptischen Frau befragt und dann ermordet wird. Dann gibt es wieder ein Zitat und erst dann lernen wir Ha kennen, die auf Con Dao, einem heute vietnamesischen Archipel landet. Damit zeigt sich auch schon die Grundstruktur des Buches: Die Haupthandlung um Ha und eine Personengruppe auf Con Dao wird immer wieder unterbrochen durch Einschübe aus anderen Perspektiven, die von fiktiven Zitaten gesäumt werden. Neben „Wie Meere denken“ wird dabei aus einem weiteren fiktiven Buch zitiert, das eine Figur aus dem Buch geschrieben hat, die wir erst später kennenlernen: „Die Mauern des Geistes“ von Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan.

Daniel Kraus: Whalefall – Im Wal gefangen. Festa

Vater-Sohn-Story mit hohem Ekelfaktor

Cover WhalefallDer Beginn dieses Buches hat mich richtig begeistert: Kraus schildert einerseits, wie die Hauptfigur Jay sich zu einem Tauchgang aufmacht, andererseits erfahren wir in Rückblenden, wie es dazu kommt, dass er meint, nun tauchen und die Überreste seines Vaters Mitt finden zu müssen, der sich im Meer suizidiert hat. Kraus breitet dabei das Panorama einer Vater-Sohn-Beziehung aus der Sicht des Sohnes aus und findet eine sehr eigene Sprache: „Als er aufhört, die Zähne zusammenzubeißen, dringen die gewohnten Aromen ein. Salz, Sand und Angst.“ Ich liebe es, wie Kraus eigene Bilder findet, wie er die Naturbeschreibungen auf der einen Erzählebene mit den Entwertungen des Vaters auf der anderen kombiniert, wie das stille Zusehen der Mutter und Jays Leiden sichtbar wird. Allerdings erscheint es für mich nicht wirklich glaubwürdig, dass Mitt, Jays Vater, trotz seiner massiven Ausbrüche so beliebt gewesen sein soll.

Erst nach einem Drittel des Romans passiert das, was im Klappentext hervorgehoben wird: Jay wird von einem Pottwal verschluckt. Damit ging es für mich leider mit dem Lesegenuss rapide abwärts. Dass es wissenschaftlich exakt im Walmagen etwas eklig zugeht, habe ich mir schon gedacht. Aber möchte ich das ausführlich beschrieben bekommen? Nein, ich möchte nicht. Wer Freude an ekligen Beschreibungen mit vielen Innereien hat, ist hier gut bedient. Leider verschiebt sich im Fortgang des Romans der Schwerpunkt immer mehr auf die mit psi und bar-Zahlen (die verbleibende Restluft) überschriebenen Szenen im Hier und Jetzt. Dazwischen sind die mit Jahreszahlen überschriebenen Rückblenden. Jay fängt an zu fantasieren und unterhält sich im Magen des Wals mit seinem toten Vater:
„Haben Söhne auch eine Verantwortung?
Die Antwort lautet: Ja, die haben sie.
Sie müssen ihre Väter zur Verantwortung ziehen.“
Leider kann Jay Mitt nicht mehr konfrontieren, denn Mitt, der Vater, ist tot. Jay könnte innerlich den Schritt gehen, seinem Vater die Verantwortung zuzuschreiben, allerdings wäre unglaubwürdig, das er das in den 90 Minuten kann, die sein Sauerstoff reicht, in Not und ohne Gegenüber. Diesen Schritt geht der Text auch nicht. Stattdessen bekommen wir ausgiebig geschildert, wie Jay im Magen des Wales immer mehr verletzt wird. Ich gebe zu, diese Szenen konnte ich nur querlesen, sie sind das, was das Buch meines Erachtens eindeutig zu Horror macht: ausführliche Beschreibungen davon, wie dieser oder jener Knochen bricht, wie Trommelfelle reißen usw. Was als sensible und mit freundlichem Blick auf Jay beschriebene Vater-Sohn-Geschichte beginnt, wird nun zu einem Verletzungsporno, in dem Jay und der Wal zusammen sterben und sich gegenseitig verletzen bzw. zu sterben scheinen und Jay mehr zugemutet wird, als irgendjemand tragen sollte. Meines Erachtens lässt Krause hier seinen Protagonisten im Stich, verlässt den freundlichen Blick auf ihn. Damit ist der Zauber des Buches für mich dahin.

Tino Falke: Die Abenteuer von Pina Parasol. Ohneohren

märchenhafte Held*innengeschichten

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Pina Parasol ist Abenteurerin und professionelle Verliererin: Sie lässt Dinge verschwinden und unterstützt so Kleinkriminelle. Dabei reist sie mittels einer fliegenden Zeppelin-Lok in viele Länder und hat für alle Probleme eine Lösung.
Ich kannte nur eine Geschichte von Pina Parasol aus der Anthologie „Das Dampfbein schwingen“ und gebe zu, dass sie mich nicht wirklich begeistert hatte. Trotzdem war ich auf diese Sammlung gespannt. Sie beinhaltet 14 verschiedene Geschichten mit derselben Hauptfigur, die meistens zeitlich sortiert sind. Mitunter werden Dinge mehrfach erklärt oder der Hintergrund eines Textes später gegeben. Vieles bleibt offen.

Obwohl die Geschichten angeblich verschiedene Erzähler*innen oder Quellen haben, lesen sie sich wie aus einem Guss: stets locker erzählt, leben sie von Sprachhumor und Kalauern und lesen sich oft wie Kindergeschichten oder Märchen mit einer Prise Indiana Jones (erfreulicherweise ohne den dort üblichen Sexismus und Rassismus). Stets gehen die Abenteuer gut aus und meistens ist eindeutig klar, wer gut und wer böse ist. Falke bekommt es dabei hin, bekannte Märchen- und Fantasymotive aufzugreifen und neu umzusetzen: Da gibt es schwule Prinzen, nichtbinäre Captains, Könige im Rollstuhl usw. Die Texte spielen mit Exotismus und Entdeckerfreude, ohne dabei paternalistisch und chauvinistisch zu sein. Und gerade das sind Aspekte, die ich an dieser Sammlung feiere!