Octavia E. Butler: Dämmerung. Xenogesis Trilogie 1. Heine

bedrückend und eindringlich

Xenogesis 1Lilith, die Hauptfigur dieses Romans, erwacht in einem Raum. Sie ist allein, gefangen und nackt. In sehr nüchterner Sprache beschreibt Butler, wie Lilith mit dieser Situation umgeht, wie sich die Grenzen dessen, was Lilith willens ist zu ertragen, mehr und mehr verschieben. Butler gelingt es dabei, sowohl große Intimität zu erzeugen als auch eine Sprache zu wählen, die stets eine gewisse Distanz wahrt. So blieb Lilith mir einerseits fremd, während ich sie andererseits schnell liebgewann: eine sture, unglaublich starke und nur selten sanfte Frau, deren Sehnsucht nach Sicherheit immer wieder zerstört wird.

Lilith befindet sich, so lernt sie nach Wochen der Gefangenschaft, auf einem Raumschiff. Außerirdische, die Oankali, haben die letzten Überlebenden eines Atomkriegs von der Erde geborgen und gerettet. Sie haben auch die Erde wieder bewohnbar gemacht. Aber natürlich erwarten sie eine Gegenleistung: Lilith soll dabei helfen, eine neue Spezies zu züchten, eine Mischung aus Mensch und Oankali.
Liliths einzige Möglichkeit, damit umzugehen, ist die Hoffnung darauf, dass es ein Später geben wird, eine Zeit, zu der sie aus der Gefangenschaft fliehen und ihre eigene Idee von Menschlichkeit leben kann. Aber die Außerirdischen haben ihr Aufgaben zugedacht, und um diese zu erfüllen, muss Lilith sich verändern. Sie gibt nach und nach Teile dessen auf, was sie für den Kern ihrer Menschlichkeit hält, nimmt immer mehr Oankali-Fähigkeiten an – und gleichzeitig bleibt sie doch zutiefst menschlich. Butler beschreibt berührend, wie Lilith den Oankali näher kommt, wie tiefe, intime Beziehungen entstehen, deren Fremdartigkeit Lilith anekelt, erschreckt und immer wieder auch beglückt. Der Weltenbau und die Kultur der Oankali werden dabei nebenbei vermittelt, Vieles bleibt unverständlich und rätselhaft.

Als besonders erschreckend und dystopisch erlebte ich die Stellen, an denen Lilith anderen Menschen begegnet. Da sie zwischen den Oankali und den von ihnen geborgenen Menschen vermitteln soll, wird sie von anderen Menschen immer wieder als Feindin gesehen, angegriffen und gefährdet. Der erste ersehnte Mann dem sie begegnet, ermordet sie fast und auch später kommt es immer wieder zu gewalttätigen Konflikten. Ich würde gern schreiben, dass „Dämmerung“ ein Text seiner Zeit sei – er wurde 1987 erstveröffentlicht – aber leider erscheinen mir die benannten Themen und Rollenbilder auch heute noch aktuell: der Anspruch auf sexuelle Verfügbarkeit von Frauen für Männer, die Suche nach Schuldigen für Unaushaltbares, der Rückgriff auf Rassismus, um jemanden zu finden, dem man Schuld zuschieben kann und der mangelnde Gemeinschaftssinn der Menschen angesichts einer gemeinsamen Bedrohung. Butler hat das alles gut durchdacht und gut beobachtet.
Die Frage, wer über Reproduktion und Nachwuchs bestimmen darf, ist für den Text zentral, denn bei den Oankali sind es die Ooloi, ein drittes Geschlecht, das die Gene der Elternteile (das können beliebig viele sein) mischt und dafür sorgt, dass Frauen Kinder austragen. So besteht eine Familie immer aus mindestens drei Elternpersonen, oft auch mehr. Im Text führt das dazu, dass die Menschenmänner die Ooloi hassen, weil ihnen die Zeugungskraft genommen wird. Gleichzeitig erlebt Lilith immer wieder, wie ihr die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper abgesprochen wird, wie das Ooloi, das sie braucht und liebt, sich ihrer bemächtigt und darauf besteht zu wissen, was gut für Lilith ist. Butler bekommt es hin, hier tiefe Themen aufzumachen und in einer spannend erzählten Geschichte zu verpacken – ohne eine Lösung oder Wertung auch nur nahezulegen.

Kritikpunkte habe ich nur wenige. Ich fand die düstere Stimmung des Textes teilweise schwer auszuhalten, ebenso wie die Sprachlosigkeit von Lilith und anderen Hauptfiguren. Gleichzeitig leuchtete mir ein, dass eine Ehrlichkeit darin liegt zu schweigen, wenn man nicht lügen will. Ich persönlich bevorzuge eine größere Nähe zu den Figuren, als sie hier gegeben ist. Lilith blieb für mich an vielen zentralen Stellen schwer fassbar, was mich immer wieder unbefriedigt zurückgelassen hat. Gleichzeitig liegt genau darin eine Stärke des Textes, lässt diese Vagheit mir doch Raum für eigenes Denken und Fühlen.
Inhaltlich wundert es mich, dass im Text die Wörter „Rasse“ und „Volk“ benutzt werden, wenn „Spezies“ gemeint ist, aber mit dieser Verwendung steht Butler nicht allein da, sie ist in der SF und Fantasy üblich.

Ich habe den englischen Originaltext nicht gelesen, aber mir fällt auf, dass die Übersetzung von Barbara Heidkamp außerordentlich gut ist; die für Übersetzungen typischen Stellen, an denen man aufgrund von Satzbau und Wortwahl noch merkt, dass es eigentlich ein englischer Text ist, habe ich hier fast gar nicht gefunden. Nur vom Buchsatz gab es im e-book manchmal Fehler, wenn in Dialogen Umbrüche fehlten und es so schwer machten, das Gesagte den richtigen Personen zuzuordnen. Und dann ist da ein ärgerlicher Fehler in der Überschrift des e-books.

Fazit: „Dämmerung“ ist ein eindringliches und bemerkenswertes Buch mit beeindruckendem Weltenbau und einer einfachen, aber eindringlichen Sprache. Besonders bemerkenswert finde ich, wie es Butler gelingt, Graustufen zu schaffen und sich zwischen dem, was als richtig und falsch, als gut oder böse gelten kann, zu bewegen. Dadurch fordert der Text dazu heraus, den eigenen Standpunkt immer wieder zu hinterfragen.

Unterhaltung: 3 von 3
Sprache/Stil: 2 von 3
Spannung: 2,5 von 3
Charaktere/Beziehungen: 2,5 von 3
Originalität: 3 von 3
Tiefe der Thematik: 3 von 3
Weltenbau: 3 von 3
Gesamt: 19 von 21