Amal El-Mohtar und Max Gladstone: Verlorene der Zeiten. Piper

verstörend, sprachgewaltig und schwer zu fassen

Coverbild des BuchesEin Buch, abwechselnd von zwei Autor*innen geschrieben, zwei Perspektiven (Rot und Blau) und in jeder Briefe – das ist insbesondere im Genre Science-Fiction eine ungewöhnliche Struktur. Der Text wirft Lesende in die Perspektive von Rot und schon im zweiten und dritten Satz tauchen wir in Sprachgewalt: “Blut klatscht ihr die Haare an den Kopf. In der letzten Nacht dieser sterbenden Welt bildet ihr Atem Dampfwolken.” Es sind düstere Welten, durch die die Hauptfiguren wandern, und es wimmelt nur so von Mord, Krieg und blutigen Bildern. Ich empfand die Sprache an vielen Stellen als gewaltvoll, die geschilderten Szenen als widerlich. Achtung, Beispiele: Da werden Menschenknochen geschnitzt und Augen aus Höhlen genommen, Menschen gefoltert usw.
Die zweite Schwierigkeit bestand für mich darin, dass der Inhalt des Textes so schwer fassbar ist. Gladstone und El-Mohtar erklären nichts und so habe ich bis zum Schluss nur sehr sehr wenig davon verstanden, wer da eigentlich warum und in welcher Welt was tut. Am Anfang habe ich es genossen, mir diese Welt allmählich zusammenzupuzzeln, irgendwann fand ich es aber doch frustrierend. Möglicherweise ist das, was ich verstanden zu haben glaube, auch ganz anders gemeint, ich kann hier also einerseits vor Spoilern warnen und andererseits vor jenem Schwebezustand, der den Text durchzieht und Verstehen an vielen Stellen verhindert.


Also, was passiert (möglicherweise): Im Zentrum des Textes stehen zwei Agentinnen, Rot und Blau. Keine von ihnen ist ein Mensch, aber was sie für Wesen sind, bleibt weitgehend unklar. Vielleicht haben sie etwas Menschliches an sich, vielleicht auch nicht. Beide können zeitreisen und beide sind unsterblich. Sie werden von ihren verfeindeten Obrigkeiten mit gottgleichen Fähigkeiten durch Zeiten und Orte geschickt und sollen dort Aufgaben erfüllen, die oft mit Mord einhergehen. Rot erscheint mir als eine Art Cyborg, ihre vorgesetzte Instanz ist die Kommandantur. Blau ist anscheinend ein biologisches, gezüchtetes Wesen, ihre Vorgesetzte heißt Garden, wobei Blau ein Teil von Garden ist. Rot sorgt für schnelle Effekte, Blau für langsame. Die beiden begegnen einander und sind Gegenspielerinnen in einem Krieg von Garden gegen die Kommandantur, ein Krieg, der in allen Zeiten und allen Welten ausgefochten wird und riesige Schlachtfelder hinterlässt. Aufgrund der riesigen Dimensionen kann das Buch mit wahren Leichenbergen aufwarten, wobei bis zum Schluss nicht einmal annäherungsweise deutlich wird, worum es in dem Kampf eigentlich geht. Der englische Originaltitel “This Is How You Lose the Time War” legt nahe, was ich oft gedacht habe: Dass es in diesem Krieg kein Gewinnen gibt.
Aber zurück zum Inhalt: Rot und Blau begegnen sich auf einem Schlachtfeld und Rot findet einen Brief von Blau. Er ist, wie fast alle Briefe in diesem Buch, ein versteckter Brief, verschlüsselt und rätselhaft. Rot liest ihn und antwortet. Im Folgenden schreiben und lesen die beiden in Asche und Blut, in Pflanzen und Wolken. Während sie sich anfangs gegenseitig aufziehen und verhöhnen, entwickelt sich bald Intimität und später Liebe. Im Mittelteil habe ich die Briefe und die Sehnsucht der beiden als warm und weich empfunden. Es wird immer deutlicher, dass die beiden Superheldinnen nicht über ihr eigenes Leben verfügen können. In den Briefen entwickeln sie die Sehnsucht nach so etwas wie Freizeit oder Privatsphäre – und nach Beziehung. Erstmals scheinen sie empathiefähig zu sein, lassen sie doch vorher die vielen Morde scheinbar völlig kalt. Aber was so sanft beginnt, wird bald brachial: Sie verlieben sich zwar ineinander, aber es ist eine sadomasochistische Liebe, in der sich Fantasien voneinander darum ranken, sich einander zu bemächtigen und einzuverleiben. Das passt zu der gewaltvollen Welt, in der beide dauernd fürchten, ertappt und zu Tode gequält zu werden, weil ihre Liebe verboten ist, gleichzeitig ist es für mich auch sehr abstoßend, weil jede Weichheit sofort vernichtet werden muss. Der Text funktioniert dabei wie ein Vexierspiegel: Rot und Blau scheinen austauschbar, werden sich im Austausch miteinander immer ähnlicher.
Hatte ich am Anfang gehofft, zwei Schreibstile und individuelle Stimmen genießen zu können, so wurde immer deutlicher, dass dies nicht der Fall ist: Beide lesen sich ähnlich und auch der Schreibstil der Briefe ist nicht wirklich unterscheidbar. So ging mir zwischendurch immer wieder verloren, in welcher Perspektive ich mich befinde und Rot und Blau verschwammen immer wieder zu einer einzigen, nicht fassbaren und vagen Person. Dabei werden zahlreiche Sagen, Mythen und historische (meist männliche) Personen aufgenommen und ich war oft an griechische Mythologie erinnert: Auch dort haben die Götter immense Fähigkeiten aber einen bedrückenden Mangel an Empathie.
Was mich animiert hat, trotzdem weiterzulesen, war die Schönheit der Sprache: “Briefe sind Strukturen, keine Ereignisse. Deine schaffen eine Bleibe für mich in mir selbst.” Hier wird sensibel eine wachsende Beziehung geschildert, Intimität und Intensität erreicht, die mich immer wieder tief berührt hat. Und gleichzeitig wird diese Intimität immer wieder brachial zerstört: “Sie schiebt den Finger unter die Lasche und zieht. Das Siegel bricht so rasch wie eine Wirbelsäule.” Dass die Autor*innen dann trotzdem nicht umhin können, die Phrase der brechenden Herzen zu verwenden, hat mir dann ziemlich das Herz gebrochen – mal wieder.
Zum Ende hin gibt es dann doch eine Art Handlung, denn natürlich werden die beiden enttarnt. Hatte ich bislang mit Faszination bemerkt, dass hier eine Zeitreisegeschichte ohne Logikknoten daherkommt, weil sie sich in ihrer Vagheit jeder Logik entzieht, so funktioniert das nun nicht mehr und das übliche Logikwirrwarr von Zeitreisegeschichten entsteht. Das Ende lese ich als Hinweis auf die Tatsache, dass in einer korrumpierten Welt individuelles Glück nicht wirklich möglich ist – eine düstere “Moral”, die zur Stimmung des Textes passt und den Hauptfiguren Gestaltungsmöglichkeiten sehr weitgehend verwehrt.

Ist das nun ein Science-Fiction-Text? Ich bin mir nicht sicher. Es gibt klar phantastische Elemente und mit Zeitreisen wird ein klassisches SF-Thema aufgegriffen. Aber der Weltenbau bleibt so vage, dass ich nicht sagen kann, ob er auf wissenschaftlichen Prinzipien fußt oder nicht. Die Fähigkeiten der Protagonistinnen erscheinen teilweise magisch, teilweise auf möglicherweise futuristische Techniken bezogen. Sind Garden oder die Kommandantur Wissenschaftlicher*innen oder Magier*innen? Das bleibt völlig unklar. In jedem Fall sind die Obrigkeiten ohne jede Einfühlung, Rot und Blau sind ebenso Werkzeuge wie die von ihren Handlungen betroffenen Menschen und Tiere zu Ameisen verkommen, die man achtlos zertritt. Dazu passt es dann auch hervorragend, dass die Orte, Zeiten und Kulturen, durch die die Protagonistinnen reisen, verschwimmen und unwichtig werden und dass ich den Figuren beim Lesen nie wirklich nahekomme.

Fazit: Der Text ist aufgrund der eindringlichen sprachlichen Bilder und der dichten Stimmung eine Besonderheit und hier auch von großer Stärke. Meiner subjektiven Meinung nach hätte ich ihn trotzdem nicht mit einem Preis bedacht und schon gar nicht mit sechs (darunter Hugo, Nebula und Locus, den Britisch SF Award, Aurora (höchster kanadischer SF-Preis) und Ignyte (Preis der Black, Indigenous, and People of Color). Mir fehlen dazu ein wirklich nachvollziehbarer Plot, ein verständlicher Weltenbau und greifbare Figuren, vor allem aber fehlt mir jede Hoffnung. Aber, das wird hier sehr deutlich: Das ist eine Geschmacksfrage.

Unterhaltung: 1,5 von 3
Sprache/Stil: 3 von 3
Spannung: 1,5 von 3
Charaktere/Beziehungen: 2 von 3
Originalität: 2 von 3
Tiefe der Thematik: 2 von 3
Weltenbau: 1,5 von 3
Gesamt: 13,5 von 21