Ray Nayler: Die Stimme der Kraken. Tropen
Spannend und berührend
Auch wenn mir der Einstieg in dieses Buch nicht leicht fiel, ist es ganz klar ein 2024er Lesehighlight. Es beginnt mit einem Auszug aus dem fiktiven Buch „Wie Meere denken“ von Ha Nguyen, der Hauptfigur des Romans. Diese lernen wir zunächst ausschließlich über Zitate kennen, die zwischen den Kapiteln stehen. In mir hat das Neugier hervorgerufen, die Person kennenzulernen, die diese Worte geschrieben hat.
Das Buch selbst zeigt uns erst einmal Lawrence, der von einer kryptischen Frau befragt und dann ermordet wird. Dann gibt es wieder ein Zitat und erst dann lernen wir Ha kennen, die auf Con Dao, einem heute vietnamesischen Archipel landet. Damit zeigt sich auch schon die Grundstruktur des Buches: Die Haupthandlung um Ha und eine Personengruppe auf Con Dao wird immer wieder unterbrochen durch Einschübe aus anderen Perspektiven, die von fiktiven Zitaten gesäumt werden. Neben „Wie Meere denken“ wird dabei aus einem weiteren fiktiven Buch zitiert, das eine Figur aus dem Buch geschrieben hat, die wir erst später kennenlernen: „Die Mauern des Geistes“ von Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan.
Mir fiel es zunächst schwer, mich im Buch zurechtzufinden, denn viele Perspektiven enden mit dem Tod des Perspektivträgers, sodass die Figuren danach nie wieder vorkommen. Erst im letzten Drittel des Buches verstand ich, wie diese Personen zusammenhängen. Trotzdem sehe ich hier eine Schwachstelle des Buches, denn die nicht zentralen Figuren bleiben teilweise blass und tragen für meinen Geschmack nicht ausreichend zur Geschichte bei. Wichtig sind neben Has Perspektive meines Erachtens nur drei: die von Eiko, einem japanischen Mann, der entführt und auf einem Fischfangtrawler versklavt wird, und die von zwei Programmierern/Hackern, die in eine umfangreiches Programm eindringen sollen.
Ha, so erfahren wir, ist eine berühmte Meeresforscherin, die sich auf Kraken spezialisiert hat. Auf Con Dao trifft sie auf Altantsetseg, eine Kriegsveteranin und Kämpferin, die die Verteidigung des Archipels übernimmt, und Evrim, eine nichtbinäre Androidenperson, die als einzige ihrer Art Anlass für Aufstände und Morde gab. Zu dritt sollen sie erforschen, ob auf dem Archipel eine Gruppe von Oktopoden lebt, die Symbolisierungsfähigkeit und damit Kultur entwickelt hat. Während Ha sich zunächst in ihre Forschungsarbeit stürzt und sich von ihren Teammitgliedern fern hält, wird schnell klar, dass ihre Arbeit nur gelingen kann, wenn sie wirklich ein Team bilden.
Das Buch entwickelte sich für mich schnell zu einem spannungsgeladenen Pageturner, wobei die Spannung für mich vor allem von den Perspektiven von Ha und Eiko getragen wurde. Denn für beide gibt es, so wurde schnell klar, massive Bedrohungen. Die Zitate zwischendurch erlebte ich als retardierende, zum Nachdenken anregende Elemente rund um die Themen, die im Buch sowohl anhand der Kommunikation mit den Kraken, als auch anhand von Evrim behandelt wurden: „Doch noch immer haben wir keine klare Definition von Bewusstsein – obwohl es der wichtigste Bestandteil unserer eigenen Erfahrungen auf diesem Planeten ist.“ Ich mochte es sehr, wie Nayler über philosophische Fragen rund um KI und Kommunikation nachdenkt. Dabei gibt es nicht selten weite Dialoganteile, die sehr theoretisch sind. Interessanterweise haben diese mich nie gestört: Ich fand sie interessant genug und sie passten immer zu den Figuren, die allmählich an Tiefe gewannen. So wird Altantsetseg als traumatisierte Kämpferin geschildert, die ihr Trauma bündig in einem Satz zusammenfasst: „Nach dem Krieg war ich nicht mehr derselbe Mensch“, ein Satz, der im Verlauf des Buches eine andere Bedeutung erfährt.
Im Buch geht es sehr viel um Verantwortung: „Wir fürchten nicht das Ende der Welt – wir fürchten das Ende der Welt wie wir sie kennen“, wird Mínervódottir-Chan zitiert. In einem Interview stellt sie die Hypothese auf, dass Menschen Schuldgefühle hätten, weil sie so viel zerstört haben, und dass die Angst davor, von KI oder Robotern (wie Evrim) ermordet zu werden, Ausdruck von Schuldgefühlen sei: „Jemand muss uns dafür bezahlen lassen, was wir getan haben.“ Auch wenn diese Sichtweise sicher vor allem die Figur charakterisiert, bot sie für mich einen interessanten neuen Blickwinkel auf viele heutige und in der SF beliebte Themen.
Berührt hat mich in dem Text vor allem, wie verschiedene Facetten von Einsamkeit und Sehnsucht beleuchtet werden und wie geschildert wird, wie es gelingt, die Einsamkeit immer wieder zu durchbrechen. Dabei spielen auch Begegnungen über Speziesgrenzen hinweg eine Rolle. Es wird konkret gezeigt wie Einfühlung gelingt. Das Puzzle, die Symbole der Kraken verstehen zu lernen, fand ich sehr anregend.
Ein Schwachpunkt ist, leider, das Ende. Nayler macht viele verschiedene Stränge auf und das Buch ist trotz der philosophischen Anteile sehr plotgetrieben. Da möchte ich natürlich, dass jeder dieser Stränge einen Sinn ergibt und zu Ende geführt wird. Ich möchte hier nicht zu viel verraten, weil das arg spoilern würde, aber meines Erachtens gelingt diese Zusammenführung und Auflösung nur zum Teil, was mich nach einem grandiosen Buch etwas unbefriedigend zurücklässt. Meines Erachtens gibt es hier ein Logikloch (Spoiler: warum sollte Altantsetseg erst alle Ertrinkenden ermorden und dann zwei retten?) und die Figuren handeln teilweise out of Charakter. Hier wurde die Chance einer weiteren Vertiefung verpasst.
Einen weiteren Schwachpunkt sehe ich in der Abbildung nichtbinärer Personen: Evrim wird als geschlechtslos dargestellt, was das bekannte Narrativ der nichtbinären Person als die ultimative nichtmenschliche Andere zementiert. Evrims Geschlecht wird dabei an den fehlenden primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen festgemacht und dabei Biologismus zementiert. Leider geschieht etwas Ähnliches an der einzigen anderen Stelle, in der Nichtbinarität benannt wird, als jemand eine Tarnung verwendet, die sich über das eigene Gesicht legt: „Ihr Abglanz wechselte etwa zweimal pro Sekunde das Gesicht (…) Männer Frauen und faszinierende nichtbinäre Kreationen. (…) Waren das echte Menschen? Zufällig generierte Gebilde?“ Auch hier wird so getan, als könne man Geschlecht am Gesicht einer Person ablesen – und als sei Nichtbinarität stärker konstruiert als Männlichkeit oder Weiblichkeit. Mich hat das geschmerzt, auch weil das Buch ansonsten eine beeindruckende Vielfalt von Personen und Hintergründen abbildet. Die meisten handelnden Figuren haben asiatische Hintergründe, verschiedene psychische Erkrankungen (Depressionen, Traumafolgen, Angststörungen) werden gezeigt und sensibel behandelt.
Ein Wort noch zur Übersetzung von Benjamin Mildner: Sie erscheint mir sehr gelungen. Ich kenne den englischen Originaltext nicht, aber der deutsche Text fließt leicht und enthält trotzdem genaue und beeindruckende Bilder, wie ich sie liebe.
Fazit: „Die Stimme der Kraken“ ist ein spannendes Buch, das dem Begriff Thriller gerecht wird und trotzdem eindeutig SF ist. Mit gut ausgearbeiteten Hauptfiguren und den enthaltenen und tiefgründig bearbeiteten ethischen und philosophischen Problemen hat es mich sehr überzeugt, auch wenn einige Plotlöcher auffallen. Klare Leseempfehlung!
Unterhaltung: 3 von 3
Sprache/Stil: 2,5 von 3
Spannung: 3 von 3
Charaktere/Beziehungen: 2,5 von 3
Originalität: 2 von 3
Tiefe der Thematik: 2,5 von 3
Weltenbau: 2,5 von 3
Gesamt: 18 von 21
