Roxane Bicker, Sarah Malhus (Hrsg.): X. Die zehnte Anthologie der Münchner Schreiberlinge

viel Luft nach oben …

Cover X Die Zehnte 2Dani Aquitaine: Das zehnte Kind
In einem Ort wird jedes zehnte Kind einem Drachen geopfert. Eine junge Mutter denkt, dass dies ihr Kind beträfe. Als dann deutlich wird, dass ein anderes Kind das zehnte ist, macht sie sich auf, es zu retten.
Was als klassische Kampf-gegen-den-Drachen-Geschichte beginnt, hat natürlich so einige Wendungen und ist dann doch ganz anders als gedacht. Mir hat besonders der Humor gefallen und auch der Zusammenhalt der Dorfbewohner*innen. Und natürlich der Drache. :)

E.B. Branger: Der Sprung
Ein Junge steht auf dem Zehnmeterbrett und traut sich nicht zu springen. Was erst wie eine normale Szene wirkt, wird zur Zombiapokalypse. Der Text ist gut lesbar und die Hauptfigur auch recht plastisch, allerdings finde ich den Plot weder besonders spannend noch wirklich originell. Der rettende Sprung würde meines Erachtens auch plottechnisch nicht funktionieren. Trotzdem ist das ein unterhaltsamer Text.

R.F. Krammer: Sprengkraft
Ein Bombenentschärfungsteam bei der Arbeit: Ein frischer Lehrling bekommt sofort gefährliche Aufgaben, das Finden der Bomben übernimmt eine Ratte und irgendwas hat das Ganze mit Dimensionen zu tun. Ich konnte dem Text nur mit Mühe folgen, empfand den Stil als holprig, die Figuren blass und die Motive undurchsichtig, dazu schienen mir Plot und Weltenbau unlogisch und undurchdacht. Das hat mich nicht überzeugt.

Jassi Etter: Ärger in Utopia
Eine Gruppe von Leuten ist auf der Flucht und rennt zu Motorrädern. Aber offenbar gibt es nicht nur Benzinmotoren, sondern auch Magie. Ich glaube zu verstehen, dass diese Geschichte rückwärts erzählt ist, ich erfahre erst, was in Minute zehn geschah, denn in der neunten Minute usw. Als ich in Minute acht noch orientierungslos durch den stilistisch holprigen Text stolperte, wollte ich dem nicht weiter folgen.

Katrin Biasi: Zwischen Bäumen und Asche
Stilistisch nimmt mich dieser Text sofort ein: Er ist gut geschrieben, flüssig und humorvoll. Wir folgen einem Professor, der mit einer Gruppe Studierender zur Weltklimakonferenz geschickt wird, obwohl er das nicht will. Außerdem soll jede Person irgendwo auf der Welt zehn Stunden arbeiten, während das Wetter verrückt spielt, und wir folgen verschiedenen Arbeitenden.
Die Idee des verrückt spielenden Wetters während der Klimakonferenz fand ich interessant und war gespannt auf die Lösung. Leider gibt es keine, ebensowenig wie die plötzlichen Ortswechsel der Freiwilligen erklärt werden. Nach dem guten Beginn ist der Text somit leider einer von der Sorte, die ich bereits x Mal gelesen habe: Hach ist das alles schlimm und was bin ich privilegiert. Ich fand ihn nicht nur unlogisch, sondern auch langweilig.

Andreas Jung: Die zehnte Welt
Einem Professor wird das Geld für seine Forschung gestrichen und er muss das seinem Assistenten mitteilen. Leider bleibt völlig unklar, was da wie erforscht wird und warum die Forschung sofort beendet werden muss. Die Pointen am Schluss habe ich in ähnlicher Form schon oft gelesen, was sie vorhersehbar macht; die Dialoge sind infodumpig und für mich langweilig. Und: Wenn, wie eine Pointe behauptet, alle Figuren Aliens sind, warum handeln sie dann wie alte weiße Männer in den 1990ern? Auch vom Stil her hat mich der Text nicht überzeugt, vor allem die vielen Halbsätze in den Dialogen machten ihn für mich zäh zu lesen. Auch die ausschließlich männlichen Figuren empfand ich sämtlichst als blass.

Tino Falke: Laika
Wie der Titel schon nahelegt, tauchen wir hier in die Gedanken der berühmten Weltraumhündin ein. Mir scheint, dass es Tino ähnlich ging wir mir: Als ich als Jugendliche*r erfuhr, dass das Überleben meiner Kindheitsheldin nie eingeplant war, brach für mich eine Welt zusammen.
Der Text lebt von der Benennung dieser Ungerechtigkeit und spielt mit der Idee, wie sich Laika hätte retten können. Leider ist für mich das Eintauchen in eine Hundegedankenwelt nicht überzeugend gelungen und durch zahlreiche Redundanzen zieht sich der Text etwas. Schade, ich mochte Schreibstil und Grundidee an sich gern.

Roxane Bicker: Oma Lisbeth und die verlorenen Zehne
Eine alte Frau steht auf und sucht ihre Zähne. In ihrem Haus leben Kobolde und plötzlich plündern zehn Männer ihre Vorräte.
Das war ganz witzig zu lesen und ist auch sprachlich schön gemacht, enthält aber keinen wirklichen Plot und auch keinerlei für mich erkennbare Aussage.

Saskia Dreßler: + Regeln
Eine Gruppe von Jugendlichen trifft sich in einer aufgegebenen Baustelle und spielt nach einer Internetanleitung ein Gruselspiel mit japanisch klingendem Namen. Ich denke, das soll eine Gruselgeschichte sein, für mich funktioniert sie aber nicht. Dass es eine Geschichte sein wird, in der die Personen nach und nach verschwinden, war für mich von Beginn an vorhersehbar. Für mich gibt es hier weder plastische Figuren (ich begreife nichtmal, ob es drei oder vier Leute sind, die spielen), noch begreife ich die Spielregeln oder was passiert. Dadurch liest sich der sprachlich flüssige Text für mich etwas langweilig.

Maria E. Seychaska: Hauptquest Part X. Nebenquest: Fange den Mardukdrachen
Ich mochte die lyrische Sprache dieses Textes und die Idee, dass in einem heroischen Fantasy-Setting ein Pferd an den langen Haaren des Helden kaut. Allerdings wartet der Text leider mit grammatikalischen Fehlern auf (Zeitformen und Fälle), was mir das Lesen erschwerte, und die Handlung wird sehr ausgebreitet, ohne dass viel passiert. Mich hat das bald so sehr gelangweilt, dass ich es abgebrochen habe.

Marie Tėres: Ein Zehnt zu tragen
Die Sprache dieses Textes hat mich sehr angesprochen: lyrisch, dicht, mit eigenwilligen und genau beobachteten Beschreibungen. In einem Dorf, in dem es böse Feen gibt, die mit Eisen verscheucht werden können, stirbt eine Person, die Eisen verarbeitet hat. Im Beisein der erzählenden Notargehilfin und neun der zehn Kinder des Verstorbenen wird das Testament eröffnet.
Leider erschloss sich mir der Weltenbau nicht ausreichend, um zu verstehen, was hier passiert. Mein Gefühl ist, dass zwischen dem Erstgeborenen und der Notargehilfin eine Liebesbeziehung bestand, die nur angedeutet wird, ebenso wie die magische Fähigkeit der Hauptfigur (mir scheint, sie ist Empathin und trägt die emotionale Last des geliebten Mannes, was, nunja, allzu nah an der Realität ist). Da die Beziehung der Hauptfigur zum Verstorbenen so vage bleibt, kann mich auch das Ende des Textes nicht wirklich packen. Das ist schade, denn ich mochte vieles: den beiläufige eingewebten Weltenbau, die gebärdende Hauptfigur, die tolle Sprache …

Sarah Malhus: Nicht genug
Dieser Text entführt mich in ein Klischeebild: England zwischen 1850 und 1900, ein Pfarrer und eine lustlose Gemeinde, eine düstere Gestalt und eine Beichte. Das Ganze ist stimmungsvoll beschrieben, nur leider wirkt es auf mich wie eine Mischung aus Texten, die ich schon x Mal gelesen habe.
Das trifft dann leider auch auf den Plot zu: Die Gestalt will gar keine Beichte ablegen, sondern den Pfarrer zwingen, zehn Leute in einem bestimmten Grab zu beerdigen. Warum er dafür zu Mord greift, natürlich Gift bei der Hand hat und gar nicht daran zu zweifeln scheint, dass das machbar ist, leuchtet mir gar nicht ein. Ebensowenig verstehe ich, warum er am Ende dann plötzlich doch Skrupel bekommt. Dann taucht noch ein Monster auf, von dem unklar bleibt, was es mit der Sache zu tun hat. Immerhin: Stilistisch ist es ganz gut gemacht und es ist auch recht unterhaltsam. Allerdings fällt auf, dass die Handelnden hier nur Männer sind, die Frauen sind reine Kulisse.

Paul Liedvogel: Die Glücklichen
Hier gibt es Frauen nicht einmal als Kulisse, es kommen nur Männer vor und die hocken, aus welchem Grund auch immer, in einem Schweinepferch. Es sind offenbar ehemals desertierte Legionäre, die nun wieder zurück geholt wurden. Der Text wirft mit Namen um sich, liest sich stilistisch holprig und die Figuren bleiben allesamt vage. Ich habe mich so sehr damit gequält, dass ich das abgebrochen habe.

Lena Hepting: Zehn Phasen für das schlimmste Date (garantiert)
Eine Frau geht auf ein Blind Date mit einem Mann, weil ihr Freund sie verkuppeln will. Aber eigentlich will sie das Date gegen die Wand fahren. Ich kaufe weder die gegebenen Erklärungen dafür noch die auf mich peinlich pubertär wirkenden Dinge, die sie unternimmt, um den Mann von sich weg zu halten. Irgendwann löste der Text in mir so viel Fremdscham hervor, dass ich ihn abgebrochen habe.

Nadja Kasolowsky: Nachtfalter
Eine Jugendliche fühlt sich allein und fragt sich, was mit ihr nicht stimmt. Da trifft sie ein anderes Mädchen, in das sie sich verliebt.
Der Text schildert in sehr schöner Sprache und mit eigenen Bildern die Sehnsucht nach dem anderen Mädchen und später der Frau: „Wie Zeit sich in so etwas Simplem wie Haaren verfangen konnte.“ Ich mochte die gut eingefangene Stimmung, die genauen Beobachtungen, die Sehnsucht der Hauptfigur, die sehr gut spürbar wird. Vom Plot her bleibt der Text leider in romantischen Klischees von der „einen wahren Liebe“, was ich schade finde.

Diana Menschig: Groschengrab
Ein Jemand liegt in einem Grab und leidet, er will endlich erlöst werden. Aber im 21. Jahrhundert glaubt niemand mehr an alte Legenden. Zum Glück kommt dann doch eine junge Frau und durch Mithilfe einer Elster klappt es dann mit der Erlösung.
Das ist recht gut geschrieben, leider fehlt mir die Logik darin: Wieso hilft die Elster? Was ist das für ein Fluch und warum konnten andere ihn nicht brechen? Wieso traf der Fluch diese Person? Und wieso ist Filiz so einsam? So ist das zwar ein gut lesbarer Text, er bleibt aber in Details und Hintergründen so vage, dass er für meinen Geschmack zu beliebig bleibt.

Marina K. Wolf: Schwabinger Ziegenjagd
Jemand eröffnet eine Kneipe und plötzlich steht eine Ziege im Raum und bringt alles durcheinander. Es ist ganz witzig zu lesen, wie immer mehr Leute die Ziehe jagen und dabei durch Zufall vor einem Unglück gerettet werden, allerdings ergibt das Ganze am Ende nicht wirklich Sinn. Ich mochte die diverse Gruppe an Leuten, allerdings fiel mir auf, dass die Rollstuhlnutzerin die ganze Zeit nur passiv durch die Gegend geschoben wurde, ohne wirklich zur Handlung beitragen zu dürfen. Das hätte ich mir anders gewünscht.

Fazit: Die Zusammenstellung der 17 Texte ist für mich leider ziemlich enttäuschend. Zu viel hat mich gelangweilt. Die in der Ausschreibung geforderte Zehn ist für meinen Geschmack mitunter zu gewollt eingebaut oder auch im Text zu belanglos: zehn Teelichter, zehn Minuten Wartezeit, zehn fiese Dinge, die ein potenzieller Partner über sich ergehen lassen muss … Viele Geschichten wirken wie Anfänger*innentexte mit wenig ausgearbeiteten Figuren, vorhersehbaren Plots und hölzernen Dialogen, einige mochte ich nicht einmal zuende lesen. Am besten gefallen haben mir „Das zehnte Kind“ und „Nachtfalter“. Richtig gut fand ich keinen Text.
Die grafische Aufmachung der Anthologie mit verschieden gestalteten Xen vor den Texten finde ich sehr gelungen, ebenso wie das Titelbild. Der Buchsatz ist angenehm.
Fast alle Texte enthalten einen fantastischen Anteil, nur vier würde ich dem Genre Science-Fiction zuordnen. Als Anthologie, die zum Ziel hat, Schreibneulingen Veröffentlichungswege zu bieten, fände ich die Zusammenstellung in Ordnung. Viele der enthaltenen Leute schreiben aber seit längerem – da habe ich mehr erwartet. So kann ich die Sammlung nur empfehlen, wenn man entweder noch nicht viele Kurzgeschichten gelesen oder bescheidene Erwartungen an diese hat.

Aufmachung 2,5 von 3
Unterhaltung 1,5 von 3
Textauswahl 1 von 3
Originalität 0,5 von 3
Diversität 1,5 von 3
Tiefe 0,5 von 3
Gesamtfazit: 7,5 von 18 möglichen Punkten