Kir Bulytschow: Oktoberrevolution 1967. Memoranda
entschleunigte Denkanregungen
„Oktoberrevolution 1967“ enthält eine Sammlung erstmals übersetzter Kurzgeschichten des russischen Autors, die in den 1960ern und 70er Jahren entstanden sind. Trotz ihres Alters sind sie überraschend gut zu lesen.
Oktoberrevolution 1967
Ein Vorwort erklärt, dass der 1967 entstandene Text damals so gefährlich war, dass der Autor sich entschied, ihn zu vernichten. 1994 zeigte sich aber, dass ein Freund noch eine Kopie besaß, und so konnte der Text erscheinen.
„Oktoberrevolution 1967“ handelt von der Idee, dass 1967, am 50. Jahrestag der Oktoberrevolution, die Erstürmung der Ermitage in großen Stil nachgestellt wird. Natürlich geht dabei fast alles schief und das Ganze gerät aus dem Ruder.
Als DDR-sozialisierte Person haben mich einige Dinge doch sehr an meine Kindheit erinnert. Trotz dieser biografischen Anknüpfungspunkte hat der Text arge Längen und manche der satirisch anmutenden „Unfälle“ sind wohl auch nur dann lustig, wenn man den Verlauf der Oktoberrevolution genau kennt, was bei mir nicht der Fall ist. Dass „Lenin“ verhaftet wird, bringt aber wohl alle zum Schmunzeln, die ihn als Helden vorgesetzt bekommen haben.
Es spielt nur eine einzige Frau in dem Text eine Rolle. Sie wird zum ONS einer der Figuren und muss Mäntel und dann später ihre Kinder abholen, die dann aber einfach aus dem Text verschwinden (die Kinder, nicht die Mäntel). Auch das sagt wohl einiges über die Oktoberrevolution aus ...
Es folgen zwei Kurztexte. „Nach der Parade“ spielt mit der Idee, dass die Panzer eines Demonstrationszuges während der Feierlichkeiten einen Kampfbefehl erhalten. Auch in „Bei der Parade zum 7. November …“ kommen Panzer vor, diese werden von einer Schreibmaschine abgelöst. Beide Texte lese ich vor allem als politische Friedensbotschaften.
Von der Angst
Auf dem Moskauer Bahnhof begegnen sich zwei Männer. Aus der Perspektive des einen lernen wir den anderen und seine Familie kennen. Der Mann, dessen Perspektive wir einnehmen, scheint sympathisch und hilfsbereit, das Gewühl auf dem Bahnhof wird stimmungsvoll beschrieben. Und dann dreht sich plötzlich alles um und ist ganz anders.
Dass ein Text mit zwei überraschende Wendungen aufwartet, von denen mir eine so in die Magengrube schlägt, ist selten. Meines Erachtens ist der Text außerdem eine gelungene politische Äußerung zu Geheimdiensten, gleichzeitig eindeutig SF (Zeitreisegeschichte) und dann auch heute noch wichtig: Wie viel Verantwortung übernehmen wir für unsere Vorfahren und deren Geschichte? Grandios!
Der reiche Alte
Ein vergrämter alter Mann erbt ein Gerät, das chemische Stoffe finden kann, und hofft, dadurch reich zu werden. Er ist so darauf fokussiert, Schätze zu finden, dass er das Interesse von Menschen an sich und seinem Tun übersieht.
Der Text beschreibt in beeindruckender Weise, wie Gier und Selbstsucht den Mann einsam ihn machen. Als seine Nachbarstochter verschwindet, interessiert ihn das zunächst gar nicht. Auch dieser Text wartet mit überraschenden Wendungen auf, beeindruckt hat mich aber vor allem die fließende Schilderung eines unsympathischen Mannes, den ich trotzdem irgendwie lieb gewinnen konnte.
Kann ich Nina sprechen?
Ein Mann ruft seine Freundin an und landet bei einer anderen Nina. Wie sich herausstellt, telefoniert er in die Vergangenheit. Aber ist das wirklich so? Und lebt die Person, die er angerufen hat, noch?
Eine andere Wiese
Auch hier ist die Hauptperson männlich und Frauen tauchen nur als Objekt seiner Begierde auf. Ein Kollege findet, von Eifersucht getrieben, ein Tor in eine Parallelwelt. Wie bei allen Geschichten dieses Buches, wird das Phantastische wie Nebenbei geschildert, fügt sich in den Text ein.
Sommermorgen
Ein Mann wacht sehr früh auf und weil er sich wach fühlt, beschließt er, hinaus zu gehen: „Heute war Sonntag, mein Tag, den ich, wäre dieser glückliche Zufall nicht gewesen, sinnlos mit scheinbarer Arbeit oder scheinbarerer Erholung verbracht hätte.“ Bulytschow schildert in sehr stimmungsvoller Sprache, wie der Mann sich treiben lässt, wie er die Welt als verzaubert und verändert erlebt. Er fährt mit der leeren Bahn, „jene zehn oder fünfzehn Leute, die sich im Wagen verteilt hatten, ohne seine Leere zu stören …“, steigt irgendwo aus, lässt sich treiben … nur um dann zu bemerken, dass, was wie ein Zufall schien, keiner war.
Das Geräusch hinter der Wand
Hier ist erstmals eine Frau Hauptfigur. Es ist eine alte Frau, die mit ihrer Enkelin lebt und sich nach Kontakt mit den Nachbarn sehnt. Es wird beschrieben, wie Kontakt zu Nikolin entsteht, der neben ihr wohnt, und aus dessen Wohnung seltsame Geräusche dringen. Wie sich herausstellt, hat er dort ein Meer: „Sobald sie den Strand erreichten, bremsten die Wellen sanft ab und beugten ihre grünlichen Kämme nach vorn.“ Das ist jene Bildhaftigkeit, die bei mir nicht zu Kopfkino führt, und trotzdem eine ganz eigene Stimmung erzeugt. Auch hier gibt es eine Pointe und wie so oft kommt diese völlig unvermittelt.
Die Texte dieser Sammlung sind alle in klassisch russischer Manier geschrieben: Eigenwillige Beschreibungen, die sich für mich selten zu Bildern verdichten und trotzdem stimmungsvoll sind, überraschende Perspektivwechsel, die meist einer Figur folgen, aber immer mal in den Kopf einer anderen hüpfen, und viele die gut beobachtete Behauptungen.
Die Geschichten sind stimmungsvoll und langsam, die Pointen sind oft ruhig, fast wie nebenbei. Trotzdem regten sich mich alle an, darüber nachzudenken, was sie eigentlich bedeuten. Ich mag es, dass sie die Geschichten gleichzeitig zum Abschluss bringen und offen lassen, und dass sie keinerlei Aufgeregtheit, Action oder Effekthascherei vermitteln. Sie sind handwerklich gut gemacht, durchdacht und genau präsentiert.
Erwartungsgemäß punkten 50 Jahre alte Texte bei Diversität nicht wirklich. Bis auf den Text „Oktoberrevolution 1967“, wo nichtrussische Figuren vorkommen, sind die Figuren meist männliche Russen und Frauen nur Sehnsuchtsobjekte oder Beiwerk. Bemerkenswerterweise sind Kinder und Kinderbetreuung trotzdem mehrfach Thema und viele der weiblichen Nebenfiguren werden samt Beruf eingeführt. Die meisten Figuren sind körperlich gesund, allerdings spielen Depressionen in mehreren Texten implizit eine Rolle.
Das Buch beinhaltet noch einen längeren Anhang mit Informationen zum Hintergrund der Geschichten, zu Verfilmungen und Preisen und Anmerkungen des Übersetzers.
Fazit: Die Textsammlung zeigt, dass klassisches schriftstellerischen Handwerk und SF gut Hand in Hand gehen können, auch wenn der heutige Lesegeschmack schnellere Texte bevorzugt. Die Texte können uns trotz ihres Alters noch etwas sagen. Mein Favorit ist „Von der Angst“, ein nachhallender, grandioser Text, für den allein sich der Kauf dieses Buches lohnt. Aber auch die anderen Texte habe ich als anregend erlebt.
Aufmachung 2 von 3
Unterhaltung 2 von 3
Textauswahl 2,5 von 3
Originalität 1,5 von 3
Diversität 1 von 3
Tiefe 2 von 3
Gesamtfazit: 11 von 18 möglichen Punkten
