Sven Haupt: Stille zwischen den Sternen. Eridanus

ethische Fragen lyrisch verhandelt

stille haupt eridanus cover 8579c972Ich gebe zu: Ich habe dieses Buch zunächst links liegen gelassen – und zwar wegen des mich nicht ansprechenden Covers. Ich erwartete eine süßliche Romance-Geschichte und die sind gar nicht mein Ding. Dann wurde es aber für den DSFP nominiert – und ich bin froh, dass ich das zum Anlass genommen habe, dann doch einmal reinzulesen.

Der Einstieg ließ mich zunächst verwirrt zurück: Da lese ich angeblich Aufzeichnungen einer KI und die weiß etwas, was niemand beobachtet hat und daher auch niemand wissen kann. Und dann gibt es (scheinbar) eine zweite KI, die Gefühle und eine Mutter hat – wie kann das sein?

Die Welt, die Haupt baut, wird nur sehr langsam etwas verständlicher, wobei bis zum Ende zahlreiche Fragen offen bleiben. Gleichzeitig entwickelt der Text schnell einen Sog, der nicht eigentlich in Spannung besteht – was passiert, bleibt unklar, vage, irgendwie zwischen Realität und Traum oder auch Wahn.

Das größte Rätsel an diesem Text ist, wie er es schafft, mir Rätsel über Rätsel aufzugeben, mich trotzdem bei der Stange zu halten: Viele der recht kurzen Kapitel bestehen nur aus Gedanken einer KI, es gibt keine wirkliche Handlung und die Erzählweise ist nicht chronologisch, sondern springt zwischen mindestens drei Zeitebenen hin und her (so sicher bin ich mir bei der Anzahl nicht), ohne dass mir ersichtlich wird, warum diese Art der Erzählung gewählt wird. Da sind angebliche Tagebuchauszüge, aber keiner davon ist in der Ich-Form. Auch die Protagonist:innen werden nicht recht fassbar: Da ist Hien, ein Mensch-Maschinen-Wesen, das vielleicht nie wirklich menschlich war. Und da ist die KI Jane, die auf Hien aufpassen soll, aber sehr viel menschlicher wirkt als diese. Daneben gibt es einen Vorgesetzten von Hien und einen Militärpsychologen – wobei sehr schnell sichtbar wird, dass Hien beiden meilenweit überlegen ist, was ihre Handlungsmöglichkeiten angeht – und gleichzeitig meilenweit unterlegen, denn sie scheint nicht in der Lage, irgendeine Form von wirklicher Beziehung einzugehen. Das ist das Spannungsfeld, das der Text für mich aufmacht: Fragen rund um Menschlichkeit und Beziehungsfähigkeit, um Ethik und Machbarkeit, die vage bleiben und gerade deshalb so spannend sind, denn auch in unserem Alltag lassen sie sich erfahrungsgemäß selten wirklich fassen.

Trotz der Faszination für den Text und die intensive, bildreiche Sprache war ich im letzten Drittel genervt: Die aufkommende Handlung rund um eine abzuwendende Katastrophe kommt wieder abhanden und es wiederholen sich immer wieder dieselben lyrischen Beschreibungen. Hier hätte eine Straffung dem Text meines Erachtens sehr gut getan.

Was mich ebenfalls genervt hat, ist, dass der Weltenbau an vielen Stellen so sehr im Unklaren bleibt, dass ich mir unsicher bin, ob man überhaupt von einem Weltenbau sprechen kann: Was genau sind Simulationen, wenn sie die „echten“ Dinge enthalten können? Was ist der Unterschied zwischen einer Simulation und der Realität? Und wie genau funktionieren in dieser Welt KIs: Haben sie wirklich Gefühle? Und wie ist Hiens Verhältnis zu ihrem Körper?

Welche Rolle spielt das Militär in der Welt? Wie leben normale Menschen? Welches Verhältnis hat Hien zu ihrem Körper und dieser zu ihr, warum wird er überhaupt noch gebraucht? Der Text erklärt viele Dinge mehrfach, lässt aber andere bis zum Schluss offen.

Das Ende macht eine weitere Frage auf, die Einordnung, die in der knappen Rahmenhandlung am Anfang angedeutet wird, erfolgt nicht, was mich enttäuscht hat. Das letzte Kapitel besteht aus einem kitschigen gereimten Gedicht, das gar nicht meinen Geschmack traf. Auch wenn die Sprache im Buch lyrische Anklänge hat, die ich größtenteils gelungen finde, geht es mir mit dieser Lyrik nicht so.

Als Bonus möchte ich hier noch über zwei Dinge nachdenken, die der Text anreißt und die mich beschäftigen, weil ich halt ich bin:

Da ist zum einen die Rolle des Militärpsychologen: Der kann Gedanken lesen, wie wir Psycholeute es ja bekanntlich alle können (ja, man muss sich auf Partys vor uns in Acht nehmen) – schade, dass da nicht im Gespräch Dinge transportiert werden, sondern dass er die einfach so weiß. Er stellt nach einer Minute Gespräch eine Diagnose – und diese ist in den benannten Beispielen immer vernichtend. Zwischendurch wird er dann als Arzt bezeichnet – eine Verwechslung zweier Berufe, die leider recht häufig ist.

Kurzer Exkurs: Ein Arzt hat Medizin studiert und dann, wenn er Psychiater (und Psychotherapeut) ist, den entsprechenden Facharzt gemacht. Ein Psychologe dagegen hat Psychologie studiert und dann, wenn er Psychotherapeut werden will, die entsprechende Weiterbildung gemacht. Beide haben also sehr verschiedenes Grundlagenwissen. Theoretisch könnte eine Person beides machen, in der Realität ist das aber äußerst selten der Fall, schon allein weil jeder der beiden Ausbildungswege knapp zehn Jahre dauert. Um die Sache noch komplizierter zu machen: Seit 2021 gibt es Psychotherapie als eigenes Studienfach, auch hier muss aber eine verfahrensspezifische Ausbildung anschließen, um die Heilerlaubnis (Approbation) zu erlangen.

Zurück zum Text: Insgesamt bleibt die Rolle des Psychologen enorm unklar, zum Schluss scheint er wie ein größenwahnsinniger Irrer – auch das ist leider ein bekanntes Stereotyp.

Und dann ist da die Rolle von Geschlecht und der Umgang mit dem generischen Maskulinum: Es gibt Abschnitte, die sich auf zwei weiblich dargestellte Charaktere beziehen (was merkwürdig ist, denn sie haben beide nicht wirklich einen Körper, wenn ich das richtig verstanden habe), es wird aber das Maskulinum benutzt. Einige Seiten später wird das Femininum benutzt, ohne dass Geschlecht (oder die Abwesenheit davon) jemals thematisiert wird. Dass eine KI ein Geschlecht hat, ist für mich ebenso merkwürdig, wie, dass die Wahrnehmung von Geschlecht sich nicht ändert, wenn eine Person sich völlig ändert. Was heißt es denn für die eigene geschlechtliche Wahrnehmung, wenn ich ein Schiff werde? Ergibt es dann überhaupt noch Sinn, weiter in dyadischen, binären Kategorien von Geschlecht zu denken?

Fazit: Ich weiß nicht, was ich von diesem Buch halten soll. Ich mag die lyrische Sprache und die ethischen Fragen, die der Text aufwirft (wie geht es uns mit einer Person, die so vielmächtiger ist als wir?), der Spannungsbogen ist aber für meinen Geschmack nicht ausreichend durchgehalten. Wer eher langsame Texte mag, wird sicher belohnt werden.