S.M. Gruber, Liv Modes, Jen Pauli, Nadja Kasolowsky & Katharina Stein (Hg.) : GroßstadtGeheimnisse. Funkentanz im Dämmergrund. bod

 stilistisch und inhaltlich ansprechende Sammlung

Berlin Authors Grostadtgeheimnisse Cover klein

 

26 Kurzgeschichten sind eine Menge – meiner Erfahrung nach gelingt es fast nie, so viele Geschichten zu sammeln, bei denen ich Freude am Lesen habe. Umso erfreulicher, dass hier mein Geschmack so gut getroffen wurde: eine Perle reiht sich an die nächste. Ja, es sind einige Texte dabei, die mich weniger ansprechen, aber es gab nur einen, bei dem ich keine Qualitäten entdecken konnte – und das kann auch gut Geschmackssache sein oder ich stand einfach auf dem Schlauch. Da mein eigener Text in dieser Anthologie dabei ist, weiß ich, dass das Lektorat sehr sorgfältig war, das macht sicher viel aus, vor allem stilistisch.

Auch interessant: Nicht wenige Geschichten haben fantastische Anteile und fast alle sind irgendwie traurig, haben eine melancholische Grundstimmung. Es geht um Einsamkeit in all ihren Facetten, um die meist vergebliche Suche nach Anschluss – etwas, was viele mit Großstadt assoziieren und somit thematisch auch gut passt.

Ähnlich interessant ist für mich, dass viele Texte Beispiele für eine gute Repräsentation von Personen mit psychischen Störungen sind: Da gibt es Depressionen und Sucht, Demenz und sogar einen Text zu Schizophrenie, der mal nicht in die Klischeefalle tappt.

Annabella Kittel: Engels Ende

Diese Geschichte von einem Kioskbesitzer, der nach über 40 Jahren Kiosk in Rente geht, hat mich gleich für sich eingenommen. Ich liebe den Schreibstil, die Verbindung lyrischer und berlinerisch-flapsiger Elemente, die genaue Beschreibung des Milieus. Leider hat mich das Ende gar nicht überzeugt: Es ist zwar überraschend (und ich denke, genau darum ist es, wie es ist), aber es ist nicht logisch und was die Queerness der Story angeht (die ich echt gern gesehen hätte) auch enttäuschend.

Thomas Frick: Funky Vlad

Der Einstieg in diese Geschichte fiel mir nicht leicht, weil ich zunächst versuchte, ihr mit Logik beizukommen. Aber das ist bei den kursiven Einschüben kein Weg. Erst als es mir gelang, mich den Assoziationsketten zu überlassen, konnte ich den Text mehr und mehr genießen. Hier geht es meines Erachtens nicht so sehr um das, was passiert, sondern um die Beschreibung einer verflossenen Liebe und die Verwirrung, die ich empfinde, wenn ich einem Relikt aus einer Lebensphase begegne, der ich lange entwachsen bin: Ich weiß, das war mal ein Teil von mir, aber ich kann mich nicht mehr verbinden, nicht mehr verstehen. Der Schrecken, der mit dieser Konfrontation verbunden sein kann wird in dem Text meine Meinung nach gut dargestellt.

Anna Heitger: Vielleicht drei Zentimeter

Eine Person geht in einen Frisiersalon und in diesem kleinen Moment spannt sich alles auf: Die Frage, wer sie sein will, wer sie ist und wo sie erkannt wird. Eine schöne kleine Geschichte rund um Queerness und Coming out.

S. M. Gruber: Der Aufpasser

Mit diesem Text habe ich mich schwer getan. Ich mochte die Sprache, aber die Geschichte erschloss sich mir nicht. Ich fand es sehr unangenehm, wie der Prota immer mehr zum Stalker wurde, immer mehr Grenzen überschritt. Die kursiven Einschübe blieben für mich großenteils kryptisch und so blieb ich am Ende ratlos zurück, mit dem Gedanken, dass hier die Geschichte selbst ein Geheimnis geblieben ist.

Tanja Ganser: Käferflug

"Käferflug" ist so eine Geschichte, wo ich denke: "Wow!" Super Repräsentation, super Sprache, mal eine Darstellung von Psychose, die nicht in die Klischeefalle tappt. Auch der Mutismus des Jungen ist nachvollziehbar dargestellt und am Ende kullerte bei mir echt ein Tränchen. Sehr berührend.

Ich mag es, wie in diesem Text paranoide Schizophrenie jenseits von Klischeebildern dargestellt ist, wie es ein funktionierendes Helfersystem dargestellt wird und nicht nur dessen Versagen. Das Nebenwirkungsspektrum der Neuroleptika ist gut dargestellt, auch dass Personen sie deswegen absetzen, ist nachvollziehbar und wird nicht bewertet.

 

Bahati Glaß: Unter Beobachtung

 

Bei dieser Geschichte fielen mir sprachliche Perlen auf, dann wieder ein merkwürdiges Stocken in der Sprache, das mir das Lesen schwer machte. Inhaltlich hätte ich es besser gefunden, wenn die Auflösung etwas unterschwelliger daher gekommen wäre.

 

Petra Lohan: Das pinkfarbene Mädchen 

 

Diesen Text mochte ich sowohl sprachlich als auch inhaltlich, er gibt mir gerade die richtige Menge Rätsel auf, ist phantastisch und doch irgendwo realistisch. Gerade die Sehnsucht der Prota-Person, der sie nicht nachgehen kann, hat mich angesprochen, die Verheißung von etwas, das gewünscht wird und dann doch nicht kommt – vielleicht auch, weil man es sich nicht nehmen kann.

 

Alexandra Resch: Von oben

 

Ich mochte den Ton dieser Geschichte, etwas melancholisch und erfreut über die "Erlaubnis" zum Voyeurismus. Das kennen wir alle, denke ich. Auch hier bleibt viel offen, aber es störte mich gar nicht, ich bin gern eingetaucht in diese Assoziationen.

 

Lukas Meisner: Woher nimmt man sich?

 

Hier geht es um ein verschlepptes Geheimnis, das sich erst am Ende des Textes erschließt und das eine neue Interpretation des Titels ermöglicht. Die Sprache war mir immer mal wieder etwas zu manieriert, aber ich fand immer wieder hinein. Wie so oft bei etwas manierierten Texten gibt es viele sprachliche Perlen, die zu finden Freude macht. Gleichzeitig entsteht durch die Sprache eine Distanz: Die Einsamkeit des Protagonisten und seine Sehnsüchte blieben mir die ganze Zeit über fremd, da wäre ich gern etwas näher herangerückt. Was bei mir ja immer Extrapunkte gibt, weil ich es so liebe, sind sich schließende Bögen. Den gibt es hier.

 

Dennis Stephan: Neunhundert Mark

 

Oh ja, wie kann einen die Schuld drücken. Man hat einen Fehler gemacht und das Gefühl, sich damit alles verbaut zu haben. Und hofft, es irgendwie noch gut machen zu können. Ich mochte auch die Relativierung zum Schluss, das Augenzwinkern dabei. Schuld ist eben doch oft etwas Relatives.

 

Tobias Jesse: Traumstadt

 

Ich habe mich in dieser Geschichte wiedergefunden und gleichzeitig war ich etwas ungeduldig mit der Hilflosigkeit des Protas, der seinen Wünschen so gar nicht nachgehen kann, nicht einmal in der Uni Anschluss findet. Seine sexuelle Gier fand ich gut beschrieben – und auch, dass es eigentlich nicht um Sex geht.

 

Mira Seesemann: Denken im Berliner Verkehrsnetz

 

Jemand sitzt in der S-Bahn, ziemlich betrunken, und hängt den Gedanken nach. Es entstehen Assoziationen, die nicht wirklich Sinn ergeben, aber irgendwie schön sind, eine melancholische, bierselige Stimmung entsteht. Mich hat dieser Text nicht wirklich angesprochen, er ließ mich ratlos zurück – und unbefriedigt. Als bislang erster Text finde ich auch das Geheimnis darin nicht.

 

Constantine Helm: Stasitelefon

 

Nach fünf Jahren ohne Kontakt telefonieren zwei Leute, versuchen, Worte zu finden für Gefühle, die sie selbst kaum verstehen. Ich mochte diesen Text, gerade weil so vieles vage bleibt. Das zutiefst Melancholische daran hat mich sehr angesprochen.

 

Jennifer Pfalzgraf: Zelluloid und Kaugummi

 

Diese Geschichte über die Schwierigkeit des Coming outs und die Sehnsucht, sich mit anderen queeren Personen zu verbinden, ist sehr nachvollziehbar. Die Schwierigkeit, das eigene Sosein zu akzeptieren, wird eindrücklich benannt. Trotzdem fehlte mir irgendwie was in diesem Text, etwas worauf ich nicht ganz den Finger legen kann.

 

Claudia van Gozer: Berlin Zombie

 

Eine unzufriedene Frau möchte Männer anbeißen. Sie findet einen, der sich beißen lassen will, aber als sie sich treffen, passt es dann doch nicht. Bei diesem Text war ich ambivalent: Die Lust, die Gier ist eindrücklich und wundervoll sinnlich beschrieben, aber am Ende ist mir der Text doch zu eklig.

 

Hartmut Kühne: Das Geheimnis der Möbel

 

Hier mochte ich vor allem den Beginn: Er ist schön szenisch und in mir entstehen Fragen. Leider lässt sich die Geschichte dann dazu verleiten, sie alle zu beantworten. Ich hätte es schöner gefunden, weiter szenisch zu bleiben und die Fragen und Antworten in meinem Kopf entstehen zu lassen.

 

Liv Modes: Ein Sommernachtstraum

 

Ein berührender Text um eine schwerkranke Frau (oder ein Mädchen?), der wenig erklärt und gerade darum viel zeigt. Meines Erachtens geht es um Suizid, der weder beschönigt noch verurteilt oder romantisiert wird.

 

Nadja Kasolowsky: Der Raum

 

Eine Gruppe junger Leute dringt in ein Spukhaus ein. Was passiert, bleibt ebenso unklar, wie ich den Stil als unklar empfand: Da gibt es wunderschöne Bilder und Formulierungen, dann ist der Text irgendwie unrund. Für meinen Geschmack bleibt das Erzählte zu kryptisch, durch die zu vielen Leerstellen wird meine Fantasie nur wenig angeregt. Aber wie so vieles ist das vielleicht auch einfach Geschmack.

 

Katharina Stein: Briefe ins Nichts

 

Auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit findet die Prota unliebsame Geschichten. Ich mochte den Text, auch wenn mir das Ende etwas zu abrupt war.

 

Clint Lukas: Dem Tod von der Schippe

 

Ein Text über Depression und Suizidalität, in dem eine fiktive Person als Rettung auftaucht. Ich mochte die Sensibilität, mit der das beschrieben ist.

 

Hannah Steinfeldt: Alter Falter

 

Zusehen, wie der ein geliebter Ort sich ändert, ist nicht leicht. Hier gleitet der Prota in Verschwörungstheorien ab und muss dann erfahren, dass das durchaus Auswirkungen hat. Ein schöner Text, der nachvollziehbar beschreibt, wie man sich in Gedankengebilde versteigen kann. Auch hier liegt die Stärke meines Erachtens darin, dass nicht bewertet wird.

 

Jana Thiel: Ich bin E

 

In diesem Text über personifizierte Einsamkeit gibt es kleine Enblicke in verschiedene Leben, die für meinen Geschmack etwas länger hätten sein können. Was ich sehr mochte ist, dass Einsamkeit hier etwas Normales und der Text darüber gar nicht düster ist.

 

Alicia Voigt: Wenn Gras wächst

 

Das ist einer der wenigen Texte in dieser Anthologie, der sich mir nicht mal im Ansatz erschlossen hat. Es geht um Tinnitus, aber das ist auch alles, was ich verstanden habe.

 

Sofia Banzhoff: Unter Masken

 

Im Wesentlichen lese ich diese Geschichte als einen Text über Demenz: Es geht um Liebe und Sehnsucht, um den Alltag einer alten Frau, die ihre Würde behalten will. Wer jetzt eigentlich dement ist, bleibt offen. Ich mochte diesen Text sehr.

 

Jol Rosenberg: Eine Frage des Stils

 

Es geht um Gewalt in der Partnerschaft und es ist einer meiner wenigen in den letzten Jahren veröffentlichten nicht SciFi-Texte. Zum Rest schweige ich still.

 

Alina Schad: Das Geburtstagsgeschenk

 

Ein Obdachloser begegnet einem Kind und hat etwas zu geben. Ich mochte diesen Text, der viel offen lässt und meine Fantasie anregt, eine sensible Milieuschilderung mit fantastischem Einschlag.