Janika Rehak, Yvonne Tunnat (Hrsg.): Der Tod kommt auf Zahnrädern. Amrun

Atmosphärisch dichte Steampunk-Geschichten

Zahnrder

 

Diese Anthologie enthält 15 Texte, von denen mir zehn so gut gefallen haben, so dass ich sie hier erwähnen möchte. Das ausführliche Fazit folgt am Schluss, ich kann aber schon jetzt verraten, dass diese Textsammlung für mich das Anthologie-Highlight das Jahres 2022 ist. Umso mehr freut es mich natürlich, dass ein Text von mir Teil davon ist!

 

Angelika Brox: My Happiness

Jemand unternimmt eine Zeitreise und landet in einer Steampunkwelt, die in flüssiger Sprache, allerdings ohne Perlen, beschrieben wird. Ich fand den Text kurzweilig und die Pointe, die eines der großen Rätsel unserer Vergangenheit klärt ;) witzig, allerdings gab es für meinen Geschmack etwas zu viele Beschreibungen und auch keine Tiefe. Aber das ist meines Erachtens auch nicht das, was dieser Text möchte, ich denke, hier geht es um kurzweilige Unterhaltung, und die ist gegeben.

 

Lina Thiede: Damenopfer

Die Geschichte erzählt von einem Schachspiel, bei dem die Figuren von Menschen verkörpert werden. Ich mochte die gelungene Atmosphäre und die flüssige Sprache, allerdings ging es mir hier wie beim Schach: Ich verstehe die Regeln zwar grundlegend, verstehe aber nicht recht, wie man daraus ein spannendes Spiel macht. Die Geschichte hat trotzdem Spannung und auch ein irgendwie folgerichtiges Ende – trotzdem hätte ich es lieber gehabt, wenn ich auch auf der Schachebene verstanden hätte, was passiert. Gibt es da nicht Könige, die matt gesetzt werden müssen? Und welche Geschichte wird hier eigentlich erzählt? Die einer Revolution? Da hätte ich gern noch etwas mehr von der Welt drumherum gewusst.

 

Tessa Maelle: Tempus Fugit

Diese Geschichte hat mich atmosphärisch und von der Sprache her sofort eingefangen: Eine Frau hat eine versteckte Maschine, welche die Zeit für einzelne Personen schneller vergehen lassen kann. Und sie nutzt sie, um gewalttätige Männer zu ermorden. Sie wird fast erwischt und dann findet sie eine Nachfolgerin – und wir erfahren, dass sie zu einer Gruppe Frauen gehört, die das Recht in die eigenen Hände nehmen.
Dem Plot konnte ich im Detail nicht immer ganz folgen (warum muss ein Finger von ihr in die Maschine?) und das Thema ist mir etwas plakativ geschildert: Wenn man die Macht einer solchen Maschine hätte, wäre das eine gute Einsatzmöglichkeit? Mir legt der Text etwas zu nahe, dass männliche Gewalt an Frauen eine Sache ist, die im Einzelfall gelöst werden kann und sollte – bei Ausblendung der Strukturen, die diese Gewalt ermöglichen und befördern und bei der Bagatellisierung von Selbstjustiz, die ich nicht befürworte. Trotzdem ist das ein spannender und sprachlich schöner Text.

 

Carolin Gmyrek: Die Jagd nach Dampf

Wow! Der Beginn dieser Geschichte hat wirklich einen sehr schön ausgeprägten Sense of Wonder: Wir sehen einem Jungen zu, der halbmechanisch ist und von cyborgischen Tierwesen versorgt wird. Das wird atmosphärisch dicht und in gelungener Sprache geschildert. Leider gelingt es dem Text nicht, die passende Emotionalität nachvollziehbar einzufangen: Es wird gezeigt, wie der Junge mit seinen nachlassenden körperlichen Funktionen ringt und gleichzeitig behauptet, dass der Junge keine Angst kenne – ein Widerspruch, den der Text nicht auflöst und den wohl jede Person, die mit nachlassenden Körperfunktionen konfrontiert ist, als gravierend anerkennen wird.
Dann springt die Perspektive zu einer Frau, die den Jungen mit drei Männern jagt, um ihn zu untersuchen. In einem riesigen Block Infodump erfahren wir den Hintergrund des Jungen und seine Verbindung zur Jägerin. Hier wurde meines Erachtens viel Potenzial verschenkt, zumal nicht nachvollziehbar ist, warum die Frau die Männer mitnimmt, wenn sie weiß, dass sie eine Gefahr für den Jungen sind. Am Ende begegnet die Frau dem Jungen, hier wäre Raum gewesen für eine intensive Schilderung der Begegnung mit einem Wesen, das seit hunderten von Jahren allein und wahrscheinlich auch einsam ist, und sie wird leider verschenkt. Stattdessen bleibt die Frau ein hilfloses Gegenüber, das den Männern trotz ihrer vorhandenen Expertise wenig entgegensetzen kann. Wirklich schade, aber die intensiv geschilderten Bilder machen es für mich trotzdem zu einem erwähnenswerten Text.

 

Aiki Mira: Die Zukunft

Aus der Sicht von Oskar, einer Fotografin, die sich in ein Ebenbild ihres Vaters verwandelt hat, erfahren wir von ihrer unerfüllten Liebe zu Aurelie, einer Frau, die verheiratet ist, aber trotzdem wirkt, als würde sie sich nicht einfangen lassen. Autorx Aiki Mira schildert in gewohnt dichter Sprache voller schöner Bilder die Begegnungen der beiden, Oskars Sehnsucht und ihre hilflosen Versuche, der Geliebten nahe zu kommen. Dabei spielt Mira gekonnt mit Klischees. Zeitweise schlägt der Text mit Lebensweisheiten nur so um sich, die Sprache scheint wichtiger zu werden als der Inhalt: „Dauernd wollen wir mit irgendetwas Kontakt aufnehmen. Am liebsten mit Dingen, die außerhalb unserer Reichweite sind.“
Ich liebe die melancholische Stimmung des Textes, die mich tief berührt hat, auch wenn ich finde, dass es mir zeitweise etwas zu wenig Handlung war. Die einzelnen Personen und Szenen verschwimmen fast traumhaft und ich hatte Mühe, mich zurechtzufinden. Oskar ringt mit Gustav um Aurelies Gunst, dabei bleibt das Verhältnis der drei Figuren vage. Schließlich verschwindet Aurelie – Oskar und Gustav bleiben übrig und entwickeln eine von tiefer Einsamkeit und Sehnsucht geprägte Nähe, die mich traurig werden lässt und anrührt. Ob Aurelie schließlich ihren Traum verwirklichen konnte und mit welchen Kosten, bleibt vage, hier sind verschiedene Lesarten möglich. Einer meiner Lieblingstexte im Buch.

 

Janika Rehak: Mechanical Circus

Ein Junge eines reichen Elternhauses entflieht den Anforderungen des Umfeldes und der Härte seines Vaters in eine Spielzeugwelt. Diese wird einfühlsam und atmosphärisch schön beschrieben, dabei gibt es auch gut eingesetzte sprachliche Perlen, wie „An guten Tagen lachte Vater dann. Es muss solche Tage gegeben haben.“ Ich finde es grandios, wie Janika Rehak hier mit zwei kurzen Sätzen die Atmosphäre in der Familie schildert und Raum für meine Vorstellungskraft lässt.
Als die Mutter des Jungen stirbt, ist dieser sehr verlassen. Er sucht Halt bei dem Spielzeughändler, aber dieser kann die Leerstelle nicht füllen, was auch folgerichtig ist. So bleibt dem Haupthelden nur die Flucht in die Fantasie – wobei offen bleibt, ob diese mit dem Leben vereinbar ist.
Ich mag diesen Text, er berührt mich und malt schöne Bilder. Auch dieser Text gehört zu meinen Lieblingstexten.

 

Thorsten Küper: Hayes Töchter und Söhne

Diese Geschichte ist sowohl sprachlich, als auch inhaltlich grandios! Ein Mann sucht nach seinem Sohn, seinen halb dementen Schwiegervater nimmt er mit. Er weiß, dass sein Sohn entführt und in eine willenlose Maschine verwandelt worden ist, und versucht, nicht nur ihn, sondern alle Kinder, denen das widerfahren ist, zu retten. Thorsten Küper zeichnet eine düstere, beklemmende Atmosphäre: Die gesamte Fabrik mit ihren Sklaven, die Leute, die wegsehen, die eigene Ohnmacht. Daneben fächert er das Ringen amerikanischer Ureinwohner nach Anerkennung und eigenen Räumen auf, stellt Fragen nach Herkunft und Vaterschaft und schafft einen Protagonisten, der mir wirklich nahe gerückt ist. Dahinter werden auch politische Themen aufgemacht, Fragen danach, wer warum für marginalisierte Gruppen eintritt und wie gern Leute wegschauen. Auch hier gibt es ein Rachemotiv, aber anders als in „Tempus Fugit“ wirkt es auf mich nicht kühl und berechnend, sondern aus der individuellen Hilflosigkeit und Not geboren. So wird es für mich nachvollzieh- und gleichzeitig hinterfragbar. Das ist mein Favoritentext!

 

Jol Rosenberg: Sehnsucht

Da fehlt auf der letzten Seite eine Leerzeile. Schade. ;)

 

Yvonne Tunnat: Morsche Haut

Schon der Titel löst in mir ein Kopfkino aus, das Ekel hervorruft: sinnlich, aber auf eine widerwärtige Art und Weise. Yvonne Tunnat erzählt von einer Begegnung der Hauptperson mit einer Mutter samt Kind im Speisewagen eines Zuges und sie tut dies atmosphärisch und alle Sinne ansprechend: „Seine Stirnhaut wirkt zerfurcht und seltsam marmoriert.“
Die eigentliche Handlung des kurzen Textes ist sehr überschaubar, viel findet im Inneren der Hauptperson statt, der wir nah folgen dürfen: Sie hat vor 30 Jahren einen Sohn verloren und sich dagegen entschieden, ihn maschinell am Leben zu erhalten und sie sieht nun, was hätte passieren können, wenn sie sich dafür entschieden hätte.
Mich hat dieser Text sehr angesprochen, der gut beschriebene Ekel, die Trauer, aber auch das Mitgefühl, das über den Ekel hinwegreicht. Auch das ist einer meiner Lieblingstexte.

 

Oliver Bayer: Die Nacht des toten Gärtners

Den Einstieg in diesen Text habe ich geliebt! Mit Sprachwitz und Humor wird aus der Sicht von Rosina erzählt, wie sie glaubt, versehentlich jemanden umgebracht zu haben. Rosinas Hintergrund als Prostituierte wird gefühlvoll aufgeblättert, ihre Hilflosigkeit im Umgang mit der Situation einfühlsam geschildert. Leider kommt dann ein Perspektivwechsel und eine ganze Seite lang Infodump, die uns erklärt, was die Hintergründe sind. Dann wandelt sich die Sache in eine Kriminalgeschichte, der ich nicht mehr folgen kann: Rosina hat den Gärtner offenbar nicht ermordet und insgesamt passt hier einiges nicht zusammen. Warum glaubt sie, die Leiche entsorgen zu müssen, wo diese doch auf einem Grundstück liegt, das niemand betritt?
Sie bittet den Doktor um Hilfe, der, so wird immer klarer, dort einen Trank braut, der Lebensenergie von einer Person auf andere übertragen kann. Aber was es nun mit der Stadtpolitik und dem Trank auf sich hat und warum die Personen handeln, wie sie handeln, bleibt mir leider schleierhaft. Auch geht der Humor des Textes nach dem Beginn völlig verloren, die Erzählstimme wandelt sich und die Perspektiven bleiben unklar. Schade. Meines Erachtens hätte Bayer seiner Rosina treu bleiben sollen (perspektivisch, meine ich!).

 

Fazit:

Insgesamt ist diese Anthologie eindeutig die Beste, die ich diesjahr gelesen habe: Von 15 Texten gefallen mir nur fünf nicht. Vier gefallen mir richtig gut, sie haben Tiefe und sprachliche Besonderheiten, die das Lesen zu einem Genuss machen. Viele Texte bewegen sich im Mittelfeld, sie sind unterhaltsam und gut lesbar oder sie haben gute Ideen (die nicht gut genug durchgehalten sind, um sie zu sehr guten Texten zu machen). Die Textauswahl erscheint mir insgesamt gelungen, die Texte sind abwechslungsreich und es gibt einige mit in vielerlei Hinsicht diversem Cast, was mich oft besonders anspricht.
Die Aufmachung des Buches hat einen Pluspunkt verdient: Das Cover ist ansprechend. Die steampunkigen Überschriften und die Zahnräder unten auf jeder Seite werten das Buch optisch auf. Allerdings tue ich mich etwas schwer, die Anthologie als Science-Fiction-Werk einzuordnen. Obwohl Steampunk offiziell als Science-Fiction-Gattung gilt, zeigt die Anthologie doch einen recht großen Teil an Texten (fünf insgesamt), die ich eher der Fantasy zuordnen würde: Da gibt es Magie, Zaubertränke und magische Wesen, Wissenschaft spielt kaum eine Rolle. Vielleicht liegt das darin, dass in vielen Texten Steampunk eher Staffage ist und für die Handlung selbst kaum eine Rolle spielt. Für mich ist Steampunk viktorianisch inspiriert und beginnt bei der Frage, was passiert wäre, wenn die damalige Gesellschaft weiter dominiert hätte. Der hier nicht rezensierte Text von Michael Schmidt spielt in den 1920ern, eine Zeit, die ich nicht mit Steampunk verbinde.
Es stellt sich also die Frage: Was ist Steampunk heute? Und ist es möglich, Science-Fiction als Genre klar abzugrenzen? Ich würde sagen, dass Steampunk im weiteren Sinne von einer gewissen Atmosphäre lebt, von Mode, Kupfer, Zahnrädern und Dampfantrieb. Es gibt immer eine gewisse rebellische Komponente und ein fantastisches Element, das Fantasy oder Science-Fiction sein kann. Das trifft auf fast alle Texte dieser Anthologie zu. Somit bewegt sich das Subgenre Steampunk, so wie es heute gefüllt wird, meiner Meinung nach am Rande der SF.

kategoriale Einschätzung:
Aufmachung 3 von 3
Unterhaltung 2,5 von 3
Textauswahl 2 von 3
Originalität 2 von 3
Diversität 2,5 von 3
Tiefe 2 von 3
Gesamtfazit: 14 von 18 möglichen Punkten