Sylvana Freyberg und Uwe Post (Hg.) Future Fiction Magazine Nr. 2: Deutsche Ausgabe

Lohnenswerter Blick über den Tellerrand

FFM2

 

 

Dies ist die zweite Ausgabe des Future Fiction Magazins, einer neuen Science-Fiction-Zeitschrift, die auch auf Italienisch erscheint und sich moderner, utopisch angehauchter Science-Fiction verschrieben hat, die in der nahen Zukunft spielt. Die Herausgeber verweisen im Vorwort darauf, dass sie das Magazin derzeit als Minusgeschäft betreiben müssen, was die Zukunft der Publikation in Frage stellt. Auch sei es nicht leicht, passende Geschichten zu finden. Diesmal wollten sie auch Geschichten aus Afrika abdrucken.

 

Andreas Eschbach: Die Augenzeugin (Deutschland)

Eschbach ist in der Science-Fiction ein bekannter Name. Wie ich es von ihm kenne, ist seine Schreibe flüssig lesbar, allerdings sehr konventionell, fast glatt. Mich langweilt das immer etwas und so ist es auch hier.
Eschbach erzählt einen Krimi: Jemand wurde ermordet, ein Kind wird befragt, da es den Mord gesehen hat. Da der Text fast in der Jetztzeit spielt, fällt mir auf, dass Eschbach seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Ich durfte einen Teil meines Praktikums in der Forensik machen (und feststellen, wo ich nicht arbeiten mag) und mich mit der Begutachtung von Kindern als Zeugen beschäftigen. Daher fällt mir sofort auf, dass das, was hier beschrieben wird, allen Regeln der Zeugenbefragung widerspricht: Die Befragung ist hochsuggestiv, was sie niemals sein dürfte. Eschbach hätte das durch Lesen auch nur eines Fachartikels erkennen können.
Leider ist auch der Rest der Geschichte ziemlich einfallslos. Der Plot erscheint mir generisch, die Figuren blass und zudem enorm klischeehaft: Natürlich wird einer kinderlosen Frau unterstellt, dass sie sich nichts sehnlicher wünsche als Kinder. Durch die geradlinige Erzählweise wusste ich die Auflösung – dass das Kind den Mord nur in der Virtuellen Welt erlebt hat und nicht real – sehr früh und fragte mich, wieso Eschbach so lange braucht, das Offensichtliche zu erzählen. Auch die Motive sind mir zu banal.

Dilman Dila: Yat Madit (Uganda)

Ich hatte am Textanfang Mühe mit der auf mich holprig wirkenden Sprache. Irgendetwas an dem Sprachrhythmus fand ich merkwürdig, ohne dass ich es richtig greifen kann. Leider sind ein paar Schreibfehler im Text, was mir den Einstieg zusätzlich erschwerte. Aber dann fand ich mich ein und muss sagen, dass mich der Text ziemlich begeistert hat: Eine jung erscheinende Person sitzt auf der Arbeit und denkt über ihren Vater nach. Sie kennt ihn nicht, er saß im Gefängnis und kommt heute frei. Der Text beschäftigt sich mit ihrer Sehnsucht und ihrem Bild des Vaters, parallel mit Fragen nach der Familiengeschichte, denn der Vater war Diktator und die Mutter seine Konkubine. Das Science-Fiction-Element besteht in einer KI-gestützten direkten Demokratie, wobei Dila die Frage aufwirft, ob diese durch einen charismatischen Diktator korrumpiert werden kann.
Der Text verhandelt auf gekonnte Weise Geschichte aus der Sicht einer Schwarzen Person; es geht um Identität und die eigene Korrumpierbarkeit. Manches wirkt etwas plakativ, aber durch die eigenwillige Sprache konnte ich es trotzdem gut aufnehmen.

Future Fiction Talk: SF in Afrika – Interview mit Peter J. Maurits

Maurits schreibt im Rahmen einer Forschungsarbeit ein Buch über afrikanische Sciene-Fiction und berichtet hier fundiert davon. Schon allein die Frage, was afrikanische Sciene-Fiction ist, ist nicht leicht zu beantworten. Maurits unterscheidet sie von Afrofuturismus, der eher von Autor*innen der afrikanischen Diaspora getragen werde, während afrikanische Sciene-Fiction im engeren Sinne von Personen geschrieben wird, die auf dem afrikanischen Kontinent aufgewachsen sind und dort leben.
Maurits schildert eindrucksvoll, wie es der auf Gewinnerzielung ausgerichtete globale Buchmarkt afrikanischen Autor*innen sehr schwer macht, auch weil es in den meisten afrikanischen Ländern keine Verlage gibt. Die Zahl der Personen, die sich Bücher leisten können, ist dort zu klein.
Mir kam beim Lesen dieses Interviews der Gedanke, dass auch im deutschsprachigen Raum viel an der engagierten ehrenamtlichen Arbeit Einzelner hängt. Obwohl wir es uns eigentlich leisten könnten, unsere Kunstschaffenden und die, die ihnen Plattformen bieten, zu bezahlen, ist das viel zu selten der Fall. Literaturproduktion jenseits des Mainstreams ist meist eher das Hobby von Schreibenden und Verleger*innen (worauf ja auch das Vorwort des Future Fiction Magazines in diesem speziellen Fall verweist).

Aiki Mira: Digital Detox (Deutschland)

In intensiver Sprache und mit assoziativen, eindringlichen Bildern nimmt dieser Text mich mit in eine Handlung, die ich als traumartig, teilweise alptraumhaft wahrgenommen habe. Die intensive Stimmung nehme ich als melancholisch und ratlos wahr, die Protagonist*innen, die nicht recht plastisch werden, sind von Gefühlen der Sinnlosigkeit getrieben.
Zunächst nahm ich an, dass die vier Jugendlichen, die im Zentrum der Handlung stehen, in eine psychiatrische Klinik gehen. Aber es passt nicht so recht, dass sie wie in den Urlaub reisen, und was sie erleben, passt auch nicht. Traum und Wirklichkeit scheinen zu verschwimmen, irgendwann scheint alles nur eine Simulation gewesen zu sein, aber der Titel deutet an, dass es gerade darum geht, aus einer Simulation herauszukommen. Ich habe das Gefühl, dass da beim zweiten oder dritten Mal Lesen vielleicht etwas zu verstehen wäre, aber mir ist der Text zu hermetisch, auch wenn ich die Sprache und einige Bilder sehr mag. Insgesamt lässt der Text mich ratlos zurück.

Renan Bernardo: Boden unserer Heimat, Sturm unseres Lebens (Brasilien)

Der Text ist in zwei sich abwechselnden Erzählsträngen erzählt. Ein Strang erzählt von einem Kind, das auf dem Schulhof verprügelt und dessen Oma als Terroristin beschimpft wurde. Der zweite Strang erzählt von der Oma, die Leuten half, die wachsende Häuser pflanzten und als Terroristen verschrien waren.
Ich mochte den Sprachfluss und die schönen Bilder; die erzählte Geschichte ist spannend. Auch der Weltenbau ist interessant, wenn auch teilweise kryptisch, hier hätte ich mir gewünscht, dass ich etwas mehr verstehen kann, was das für eine Welt ist und warum die Oma immer noch beschimpft wird. Schade fand ich auch, dass die Charaktere etwas blass blieben.

Bettina Wurche: Meeresarien und Morsecode

Bei diesem Text handelt es sich um einen wissenschaftlichen Artikel über Walgesänge. Wir erfahren von verschiedenen Walarten und deren Kommunikation: Viele Walarten unterscheiden Individuen, die ihre Nachrichten mit Unterschriftspfiffen signieren. Außerdem haben ihre Laute einige Eigenschaften von Sprache und manche Walgruppen und -arten haben Kultur entwickelt.
Wurche berichtet von der Geschichte der Walforschung, einer Geschichte voller Speziezismus. Immer noch verstehen wir wenig von der Walkommunikation. Heute werden auch Computerprogramme (Wurche spricht von KIs, ich denke, sie meint neuronale Netzwerke) eingesetzt, um zu versuchen, die Wallaute zu entschlüsseln. Immer noch sind uns diese so fremd, dass wir sie (noch?) nicht verstehen können. Wurche stellt die Frage, ob uns dies für das Verständnis von Außerirdischen helfen könnte. Vielleicht ist irgendwann eine gleichberechtigte Partnerschaft mit Walen möglich?

Yazeed Dezele’: Afrinewsia (Nigeria)

In einem vereinten Afrika der Zukunft ringt der Protagonist Baye darum, ob es in Ordnung ist, seine Mutter ermorden zu lassen, um Vorteile für sich und seine Familie zu erringen. Dezele’ erzählt in starken, fast barock anmutenden Bildern von Bayes Ringen. Im Hintergrund läuft das Familienleben, wobei die Beziehungen Bayes zu seinen Kindern, seiner Mutter und seiner Frau zerstört wirken – fast so stark zerstört, dass es auf mich wie eine Parodie wirkt.
Das aufgemachte Thema finde ich interessant, allerdings bleibt der Weltenbau und der Charakter der Beteiligten für mich zu vage, als dass der Text mich wirklich berühren könnte. Das ist schade, denn das Thema ist meines Erachtens grandios gewählt.

Fazit:
Insgesamt mochte ich diese bunte Auswahl verschiedener Texten. Alle Texte sind gut lesbar und sprachlich auf hohem Niveau. Gerade die Möglichkeit, Science-Fiction aus anderen Teilen der Welt mit ihren eigenen Erzähltraditionen zu lesen, empfinde ich als große Bereicherung. Die Nebeneinanderstellung einer eher konventionellen und etablierten Stimme deutschsprachiger Science-Fiction wie Eschbach und einer modernen, progressiven, fast experimentell anmutenden Stimme wie Mira empfinde ich als sehr gelungen, wird so doch deutlich, wie verschieden das Thema Zukunft literarisch behandelt werden kann. Auch das Cover von Kirsten Zirngibl wirkt frisch und freundlich, was ich als angenehm und inspirierend empfinde.

Aufmachung 2,5 von 3
Unterhaltung 2 von 3
Textauswahl 2 von 3
Originalität 2 von 3
Diversität 3 von 3
Tiefe 1,5 von 3
Gesamtfazit: 13 von 18 möglichen Punkten