Ingrid Pointecker (Hrsg.): Hereinspaziert. Ohneohren

solide erzählte Texte

hereinspaziert cover webEine Steampunk-Anthologie, bei der marginalisierte Personen im Fokus stehen – das konnte ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Das im Inhaltsverzeichnis angekündigte Vorwort habe ich in meinem ebook nicht finden können, mein Buch beginnt mit Content Notes und der Vita des ersten Autors.

Fangen wir mal ausnahmsweise mit dem Fazit an, denn meine Einzelrezensionen der Texte spoilern teilweise. Diese Anthologie ist für mich etwas Besonderes: Es ist die erste Antho, die ich gelesen habe, in der ich alle Geschichten „ganz gut“ fand: Weder gab es eine, die mir gar nicht gefiel, noch gab es eine, die mich wirklich nachhaltig berührte und mir darum besonders gut gefiel. Viele der Texte hätte ich besser gefunden, wenn sie nicht so viele ähnliche Elemente enthalten hätten. Das bringt mich zu der Frage, was eigentlich ein gutes Thema für eine Anthologie ist. Ist die Klammer zu lose, fehlt der Textsammlung der rote Faden, ist sie zu eng, fehlt die Vielfalt. Hier habe ich das Gefühl, dass das Thema zu eng gestrickt war, denn mich haben die vielen thematischen Wiederholungen genervt: Immer wieder die Idee, dass Leute wegen ihrer Hässlichkeit ausgestoßen werden oder nicht liebenswert sind – auch wenn die Texte das implizit meist thematisieren, hat mich die Häufung des Themas doch abgeschreckt. Und immer wieder der böse Zirkusdirektor: Nach der dritten Geschichte, in der er vorkam, hat er mich doch gelangweilt. Ebenso wiederholt sich das Motiv, dass der Direktor dafür sorgt, dass seine Exponate geschaffen werden, er also an Menschen experimentiert oder experimentieren lässt, was mich in der Menge auch nicht recht überzeugen konnte.
Oft ist es Thema, wie die Unterdrückten und Ausgestoßenen ihr Leben selbst gestalten können, zu oft sind sie aber auch passiv und müssen sich retten lassen. Es geht um Rache, um ein anonymes Publikum, das zum Gegner wird. Fast alle der Texte spielen in Wanderzirkussen. Fast alle Texte sind sprachlich schön, aber nur wenige haben jene Perlen, die ich so genieße. Auch hat mich kein Text wirklich tief berührt, auch wenn sie fast alle atmosphärisch dicht sind.
Gibt es also keine Überraschungen? Doch: Nicht alle Geschichten haben ein düsteres Ende, wie ich es bei der Ausschreibung erwartet hätte. Erstaunlicherweise haben viele der Geschichten Enden, die mich nicht überzeugt haben. Also ist entweder meine Messlatte für gute Enden sehr hoch oder die Herausgeberin hat einfach einen anderen Ende-Geschmack als ich. In dieser Sammlung gab es einige Texte, die für mich sehr gut hätten sein können – wenn das Ende anders gewesen wäre.
Und dann noch die Frage der CNs und Vitae vor den jeweiligen Texten. Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, fand ich es , was die CNs angeht, für ein ebook gut. So finden Personen, die sie benötigen, sie gut, ich kann sie aber recht leicht wegwischen. Die Vitae hätte ich doch lieber nach dem jeweiligen Text gelesen. Davor machen sie sich sehr wichtig. Allerdings lässt sich festhalten, dass viele der hier vertretenen Autor*innen es hinbekommen haben, ihre Vita interessant zu gestalten ...

Olaf Lahayne – Prothetik

Der Text schildert die Ermittlungen eine Majorin, die ich erst für eine Armeeangehörige halte, die sich dann aber als Polizistin herausstellt. Sie spricht mit einem Mann und das Ganze wird aus einer allwissenden Perspektive geschildert, wobei irgendwann deutlich wird, dass uns der Erzähler Dinge vorenthält. Ich gebe zu: Ich mag unzuverlässige Erzählstimmen – aber nur dann, wenn sie personal sind. Daher fühle ich mich hier mit jemandem, der allwissend tut, es aber nicht ist, etwas an der Nase herumgeführt.
Vom Inhalt will ich nicht zu viel verraten, sonst wäre der Krimiplot nicht mehr spannend. Mir erscheint der Plot etwas zu gewollt und daher unglaubwürdig, allerdings ist der Text in einer flüssigen Sprache geschrieben und so spannend, dass ich ihn trotzdem gern gelesen habe.
Bliebe noch die Frage nach dem Thema und Genre. Auch wenn ich den Text gern gelesen habe, weil er atmosphärisch stimmig ist, passt er für mich als Einstieg in diese Anthologie nicht. Das einzige Steampunkelement sind die dampfbetriebenen Prothesen, die aber für mich nicht genau genug beschrieben werden, um sie vor meinem inneren Auge erstehen zu lassen. Und für die Ausschreibung waren Freakshows gefordert, ein Element, das mir in dieser Geschichte etwas zu kurz kommt – was offenbar auch daran liegt, dass es das bis zum Schluss verschwiegene Element ist.

Julia Winterthal - Elfenbein und Bronze

Bei diesem Text liebte ich die Sprache, bildhaft und bildgewaltig: „Das Warten vergeht in einem zittrigen Atemzug.“ Leider führt diese Sprache für mich auch dazu, dass ich von der Bilddichte so überwältigt bin, dass es mir zeitweise schwerfiel, die Handlung wahrzunehmen. Mehrere Abschnitte las ich mehrmals – und habe trotzdem das Gefühl, dass der Inhalt des Textes sich mir nicht ganz erschlossen hat.
Die Hauptfigur Bee ist, so habe ich das verstanden, eigentlich gestorben, hat dann aber ein künstliches Herz bekommen. Sie lebt weiter und arbeitet in einem Zirkus, in dem sie als Madonna auftritt, die sich bei jeder Vorstellung zur Musik einer Opernarie das Herz aus der Brust reißt und es dem Publikum darbietet. Irgendwie behandelt der Zirkusdirektor sie nicht gut und sie will mit den Artist*innen fliehen und etwas Eigenes aufbauen. Gleichzeitig hat sie sich verliebt und wartet auf ihre Geliebte. Dazwischen gibt es kursive Einschübe, die sich mir nicht erschließen. Das Ende war für mich unbefriedigend, erklärt es doch nur einen Strang der Nebenhandlung und lässt den Hauptstrang offen.
Auch bei diesem Text muss man die Steampunkeinflüsse suchen, viktoranische Mode oder Dampf habe ich gar nicht entdecken können, nur einen Hinweis auf Zahnräder als Herzersatz (was mir gefällt, auch wenn es gruselig ist).

Cel Silen - Die Feenkönigin

Eine Frau mit Flügeln leidet in einem Wanderzirkus und flieht. Es wird intensiv beschrieben, wie sie leidet und wie sie entwürdigend zur Schau gestellt wird, wie die verschiedenen Mitwirkenden in ein System eingespannt sind, das ihnen kaum Freiräume lässt.
Die Geschichte ist leicht erzählt und unterhaltsam lesbar, die düstere Atmosphäre gut eingefangen. Auch hier halten sich die Steampunkelemente in Grenzen.

Lisanne Surborg - Das Kurbelkind

Auch hier haben wir wieder eine Frau mit einer Körperzurichtung. Sie wurde als Kind zersägt und ihr ein Projektor eingesetzt, den sie mit einer Kurbel bedienen kann. Auch hier ist die Atmosphäre dicht beschrieben, Lichtblicke gibt es im Zusammenhalt der Zirkusangestellten untereinander, was mir sehr gefallen hat. Die Hauptperson entfesselt schließlich ein Monster in sich – und so nehmen die bisherigen „Monster“ ihr Leben nun selbst in die Hand.

Marcel Streit - Der menschliche Müllschlucker

Auch hier geht es wieder um Bloßstellung und Rache. Auch wenn der Text gut geschrieben ist und die Idee, dass ein künstlicher Körper von Müll angetrieben werden kann, für mich neu ist, war ich doch etwas gelangweilt. Einfach weil es der fünfte Text dieser Antho ist – und ich das Gefühl habe, er hat das gleiche Thema wie die vier Vortexte. Ja, es gibt leicht andere Schwerpunkte, aber irgendwie wünsche ich mir doch etwas mehr Abwechslung.
Dabei tue ich dem Text wahrscheinlich Unrecht: Er ist flüssig geschrieben und atmosphärisch schön. Allerdings bleibt die Hauptfigur etwas blass und dass plötzlich Verbündete da sind, kommt für mich etwas zu sehr aus dem Nichts. Auch hätte ich mir etwas mehr Sinnlichkeit gewünscht.

Andi Zobernig – Drachenherz

In schöner Sprache aber leider ohne sprachliche Perlen wird von einem Kämpfer erzählt, der nach Absprache gewinnt oder verliert. Als er eine schöne Frau erspäht, wird er verletzt und verliert schließlich, im wahrsten Sinne des Wortes, sein Herz an sie.
Ich mochte die Schilderungen und die Atmosphäre, aber irgendwie ist dieser Text für mich nicht ganz rund. Sowohl sprachlich, wo ich ihn an manchen Stellen als holprig empfand, als auch inhaltlich. Das Ende hat mich verwirrt und ich kann mich nicht entscheiden, ob ich es unnötig brutal oder doch irgendwie hoffnungsvoll empfinde.

Kornelia Schmid – Eselsfrau

Eine Frau mit Eselsbeinen sucht Befreiung – wobei lange unklar bleibt, ob wir wohl wünschen, dass die Befreiung gelingt, oder doch besser nicht. Dass Gut und Böse so lange in der Schwebe gehalten werden, halte ich für eine große Stärke dieses Textes. Leider hat mich das Ende dann nicht wirklich befriedigt, es schien mir etwas zu sehr gewollt.

Ilka Mella - Der Mondscheinzirkus

Zunächst mochte ich die Sprache mit ihren für mich oft etwas schiefen, atmosphärisch ansprechenden Bildern. Dann hat mich der Text aber doch recht schnell hinausgeworfen, er holperte für meinen Geschmack und die Phrasendichte war mir viel zu hoch. Ein Zirkusdirektor taucht hier als Retter auf – aber er nennt seinen Preis nicht und letztlich erweist sich dieser als zu hoch. Der Plot erscheint mir unlogisch und unglaubwürdig, das Ende ist für mich Schauerkitsch.

Kris Gosen - Anomalie des Herzens

Ein Kommissar ermittelt einen Mordfall in einem Zirkus, wobei uns die „Attraktionen“ vorgeführt werden, als er sie nacheinander befragt. Es wird immer deutlicher, dass der Direktor sie alle erschaffen hat und natürlich wird der Kommissar selbst zum Opfer. Ich mochte den Text nicht, vor allem, weil niemand im Text mir nahe kommt und weil ich ihn als recht empathielose Vorführung der Artist*innen erlebe. Pluspunkt sind die teilweise gelungenen Dialoge, insbesondere die des künstlichen siamesischen Zwillings.

Andreas Acker – Zahnrad

Ein klassischer „Freak“, die bärtige Frau, hat einen stummen Verehrer, der ihr nach und nach die Bauteile einer Maschine schenkt. Das Ganze ist atmosphärisch und sprachlich schön beschrieben, hier gibt es auch Perlen, wie „Einige Sekunden, in denen das metallische Geräusch in den unaufgeräumten Weiten meines Wohnwagens verklang, geschah nichts“. Leider bietet der Text auch einige abgedroschene Wendungen wie „Alleine der Gedanke verursachte eine klaffende Wunde in meiner Seele“ und gleitet für meinen Geschmack in Kitsch ab, als der Verehrer ihr schließlich einen Heiratsantrag macht, ohne sie zu kennen. Das Ende enthält immerhin eine Wendung, überraschend ist diese aber leider nicht wirklich.

L. Lancetta - Die Frau, die die Sonne hält

Auch in diesem Text gibt es schöne Perlen, wie „Die Nacht blutet in den Morgen“. Und es gibt mit der Frau, der die Sonne aus dem Mund scheint, auch eine Protagonistin, der ich mich nahe fühlen kann. Leider sind die Versatzstücke mittlerweile altbekannt: ein Zirkusdirektor, der seine Ausstellungsstücke herstellen lässt und ansonsten wenig schätzt und eines dieser Ausstellungsstücke. Ich habe diesen Text trotzdem gern gelesen. Auch hier geht es wieder um einen Herztausch, zunächst scheint es die selbe Geschichte wie in „Drachenherz“, dann biegt sie doch in eine andere Richtung ab. Leider ist mir die damit einhergehende Änderung der Prota nicht nachvollziehbar und auch das Ende ist mir zu breit interpretierbar und damit letztlich zu offen.

Tessa Maelle - Der Ruf des Panthers

Die Hauptfigur dieser Geschichte ist nicht jemand aus dem Zirkus, sondern ein versklavtes Kind, das auf einem Dampfschiff arbeitet. Es begegnet Fahrgästen, die zum Zirkus gehören und dann kommt die Chance, das eigene Leben zu verändern. Ich fand die Geschichte gut erzählt, aber doch sehr vorhersehbar. Die beiden für mich nicht vorhersehbaren Wendungen empfand ich als sehr gewollt und wenig organisch, zumal die eine nur funktioniert, weil vorher falsche Informationen über die Hauptfigur gegeben werden, ohne dass die Erzählstimme als unzuverlässig erkannt werden kann.

Katja Rocker - Wir sind Wunder

In dieser etwas naiv wirkenden Geschichte flieht eine Frau zum Zirkus, weil eine medizinische Behandlung schiefgegangen ist und sie entstellt hat. Sie findet hier eine neue Familie, die ihr auch hilft, als ihre Vergangenheit sie einzuholen droht. Bei diesem Text war ich mir nicht ganz sicher, ob die sprachliche Unbeholfenheit die Protagonistin gelungen charakterisiert, oder auf mich doch etwas störend wirkt. Besonders die Dialoge wirkten doch recht hölzern, auch wenn der Text sich großenteils gut weglesen lässt.

Fabian Elfeld - Signora Frencinis Fliegender Circus

Diese Geschichte von einer Person mit mechanischem Gehirn ist witzig erzählt und spielt auf irritierend-charmante Weise mit Sprache. Ich habe das anfangs sehr genossen, allerdings wird es dann so wirr, dass der Text mich zunehmend abgehängt hat. Wir sehen der Person beim Denken zu, wobei das Gefühl entsteht, es seien zwei Personen in einem Kopf, von denen eine fortlaufend binäre Sprache kritisiert. Ich hätte ja gern gewusst, wie man „Deutsche*r“ ausspricht, was die Person im Text tut. Leider kommt der Text ohne Audiodatei.
Auch im Außen gibt es rasante Handlung, der fliegende Zirkus wird geentert und angegriffen und dann passiert – ja was? Ich fand es ziemlich unbefriedigend, dass das trotz mehrfachen Lesens offen blieb. Es zu verstehen, hätte für mich aus einer vergnüglichen Geschichte eine richtig gute gemacht.

Peter Michael Meuer - Die vier famos-fantastischen Wesen aus der Urzeit

Diesmal gastiert der obligatorische Wanderzirkus an der Kriegsfront. Für meinen Geschmack wird etwas zu ausführlich beschrieben, wie ein besonders gemeiner Soldat die Ausgestellten beleidigt. Dann holt der Krieg sie ein und sie retten den vorher gemeinen Soldaten, eine vorhersehbare und sehr gutmenschenartige Wendung, die mich nicht überzeugt hat, weil ich sie schon so oft gelesen habe. Das Ende, wie sie selbst einen Zirkus gründen und sich ganz ähnlich ausstellen, ist zwar irgendwie folgerichtig, aber auch traurig.

Michael Schwendinger – Ella

Der Text ist abwechselnd aus der Du- und der Ich-Perspektive geschildert und bleibt leider immer etwas distanziert, auch wenn die Sprache eigenwillig fließt, als würde jemand etwas erzählen. Ella, ein Mädchen mit fehlgebildeten Knien wird an einen Zirkus verkauft, wobei der Grund dafür mir nicht einleuchtet. Dort wird sie als Kamelfrau ausgestellt und von allen verabscheut – bis ein Mann kommt und sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Natürlich befreit er sie und natürlich geht dabei einiges schief. Und dann wird doch alles gut.
Ich mochte dieses sprachliche Experiment ganz gern und die Geschichte ist auch spannend, allerdings ist der Plot für mich derart lückenhaft, dass er mich nicht begeistern konnte. Warum ein Mädchen mit fehlgebildeten Knien als Kamelfrau verkauft werden kann, leuchtet mir ebensowenig ein wie, warum es eine Sensation sein soll, dass sie kein Kamel ist. Und dass sie sich natürlich in den ersten und einzigen und ach so edlen Mann verliebt, der sie mal sieht, finde ich eine zu oft erzählte Geschichte, in der die Frau letztlich in der passiven Rolle bleibt.

kategoriale Einschätzung:


Aufmachung 2 von 3 (e-book)
Unterhaltung 2 von 3
Textauswahl 1,5 von 3
Originalität 1,5 von 3
Diversität 2 von 3
Tiefe 1 von 3
Gesamtfazit: 10 von 18 möglichen Punkten