Annalee Newitz: Autonomous. Tor

düster, dicht, spannend

AutonomousDer Text hat mich auf den ersten Seiten sofort eingesogen: Jack lebt auf einem U-Boot und liest in den Nachrichten von einer Studentin, die nicht mehr aufhören konnte, an ihrer Hausarbeit zu arbeiten und daran starb. Kann es sein, dass Jack mit schuldig ist? Vor den Lesenden breitet sich eine sehr reiche und detailgetreu gezeichnete Welt ab, die immens düster daherkommt: purer Kapitalismus regiert, alles, auch Menschen, kann jemandem gehören. Menschen und Bots sind kaum noch unterscheidbar, alle sind modifiziert und regulieren sich mithilfe von Substanzen.
Jack, so erfahre ich, ist Medikamentenpiratin: Sie baut teure Medikamente nach, so dass alle, die sie brauchen, sie sich leisten können. Sie finanziert diese idealistische Tätigkeit mit dem Verkauf leistungsfördernder teurer Drogen, die mitunter gravierende Nebenwirkungen haben: Ist die Studentin wegen einer solchen Droge arbeitssüchtig geworden und gestorben? Jack möchte ihren Fehler, diese Droge verfügbar gemacht zu haben, rückgängig machen. Aber natürlich ist der Konzern ihr schon auf den Fersen: Eliasz, ein Mensch, soll mit seinem Bot-Partner Paladin die Piratin Jack aufspüren. Das könnte ein Wettlauf zwischen Gut und Böse sein, wären nicht Eliasz und Paladin ähnlich sympathisch wie Jack. So verschwimmen die Grenzen und angenehme Grautöne dominieren die Erzählung.

Nach dem für mich fulminanten Beginn ließ meine Begeisterung für diesen Roman leider nach. Er blieb zwar durchgängig spannend, aber die ausführlichen Folterschilderungen der Arbeit von Eliasz und Paladin bereiteten mir zunehmend Mühe, wobei weder Mensch noch Bot irgendwelche Probleme damit zu haben scheinen, dass kaum jemand ihre Verhöre überlebt. Meine Sympathie für dieses Team nahm so sehr ab, dass ich mich damit quälte, ihm zu folgen. Leider gibt es im Buch immer wieder massive und detaillierte Gewaltschilderungen. Mir ist einerseits klar, warum das Buch diese braucht – so wird deutlich, dass die Corporations wirklich keinerlei Skrupel kennen –, andererseits machen sie für mich den Text schwer erträglich. Gemeinsam mit dem fast durchweg düsteren Weltenbau wird eine sehr schwere Atmosphäre kreiert, wer so etwas mag, ist hier sicher gut bedient. Ich kann auch nicht umhin anzuerkennen, dass diese Atmosphäre gezielt und gekonnt gesetzt ist, viele kleine und gut ausgearbeitete Details im Weltenbau tragen dazu bei.

Schwierigkeiten hatte ich auch mit den beiden lange weitgehend parallel laufenden Haupterzählsträngen: Jack trifft Threezed, einen versklavten Menschen, und geht mit ihm eine sexuelle Beziehung ein. Gleichzeitig haben auch Eliasz und Paladin Sex. In beiden Beziehungen ist eine Person ohne freien Willen beteiligt, es geht also um sexuelle Ausbeutung im Rahmen einer Herr*in-Sklav*in-Beziehung. Was das emotional und für die Beziehung bedeutet, ist für meinen Geschmack im Buch nicht ausreichend beleuchtet, obwohl es zum titelgebenden zentralen Thema des Buches gehört. Es kann aber natürlich auch sein, dass sich mir die Thematisierung nicht ausreichend erschlossen hat oder das Newitz sich gezielt dafür entschieden hat, hier keine Position zu beziehen und Lesende damit zu zwingen, ihre eigene Position zu suchen. Threezed bekommt nur wenig eigene Stimme, aber das wenige, was ihm zugeschrieben wird, ist sehr stark: In einem (fiktiven) Blog schreibt er, dass kein Mensch einer sexuellen Beziehung zu einem Sklaven widerstehen könne, ein Satz, über mich lange beschäftigt hat.
Paladin hat viel mehr Raum: Seine Stimme trägt einen ganzen Erzählstrang, allerdings hatte ich meine Schwierigkeiten mit seinen Überlegungen rund um die Beziehung zu Eliasz. Der muss nämlich, um seine Beziehung zu Paladin vor sich selbst zu rechtfertigen, Paladin ein weibliches Geschlecht zuschreiben. Da Eliasz keinesfalls schwul sein will und offensichtlich eine agender-Identität wie Paladins nicht denkbar ist, wechselt Paladin im Laufe des Romans ihr Pronomen zu sie. Die offene Entwertung schwuler Männer inklusive einschlägiger entwertender Worte und die etwas verstecktere Entwertung von agender-Personen war für mich schwer aushaltbar. Hinzu kommt, dass Paladin sich nicht traut, jemandem die eigene Geschlechtsidentität offenzulegen. Bis zum Schluss verheimlicht sie diesen Teil ihrer Identität vor Eliasz – der gleichzeitig auf sämtliche ihrer Gedächtnisinhalte Zugriff hat und sich daher jedes Wissen verschaffen könnte, wenn er nur wollte. Hier ist der Text unlogisch bzw. wird das Wegsehen und Nichtwahrhabenwollen von Eliasz nicht thematisiert. Oder vielleicht doch, aber eben sehr subtil? Schwierig finde ich auch die Gleichsetzung bzw. Verwechslung von Liebe und Begehren. Möglicherweise ist dies aber auch der begrenzten Einsicht Paladins geschuldet, aus dessen Sicht der Strang erzählt wird. Trotz dieser für mich gravierenden Kritikpunkte finde ich es sehr lobenswert, dass Newitz sich diesen Themen gewidmet hat und das ohne erhobenen Zeigefinger oder moralisierende Wertungen.
Newitz entschied sich im Text mehr und mehr für (sehr gekonnte) Rasanz und schnelle Kämpfe zuungunsten von Tiefe und Charakterentwicklung. So denkt Jack nicht darüber nach, warum sie sich für Sex mit jemandem entscheidet, der nicht frei zu- oder absagen kann, und auch Paladins Gedanken werden zunehmend weniger thematisiert. Bis zum Schluss, wo sie eine gravierende Entscheidung trifft, ohne dass wir wissen können, wie frei sie in ihren Entscheidungen ist. Dieser Schwebezustand ist eine Stärke des Textes, auch wenn die Implikationen schwer auszuhalten sind. Je länger ich über meine Enttäuschung nachdenke, hier etwas vorenthalten bekommen zu haben, desto mehr denke ich, dass gerade dieses Vorenthalten eine starke Aussage ist: Was können wir darüber wissen, ob jemand autonom und frei entscheidet?

Jack ist zunächst eine Piratin, die sich irgendwie durchschlägt und all ihre Möglichkeiten für einen guten Zweck einsetzt. Im Verlauf des Romans verfügt sie jedoch über immense Möglichkeiten, besitzt ein sich selbst auflösendes Wegwerfboot (ist das nicht gefährlich, wenn man zu lange für den Weg braucht?), lässt ihr U-Boot zurück, ohne dass klar ist, wie sie zurückkommt, hat einen geheimen Unterschlupf mit toller Ausstattung, einen selbstfahrenden Truck usw. usf. Sie wirkt nun eher wie Batman oder James Bond, was nicht zum zunächst gezeigten Bild der Lebenskünstlerin mit geringen Mitteln passt. Auch stieß mir im Verlauf des Romans zunehmend auf, dass von vielen gezeigten Dingen unklar ist, wie sie funktionieren könnten – biologisch abbaubare Straßen klingen erstmal toll, aber wie garantiert man, dass sie zum richtigen Zeitpunkt verrotten und nicht vorher?

Im letzten Viertel kommen zwei weitere Erzählstimmen hinzu – neben Eliasz bekommt nun auch Med, ein weiterer Roboter, eine Stimme (eine, die ich geliebt habe) – und der Roman steuert auf einen großen Showdown zu. Jack, Eliasz und Paladin treffen aufeinander. Ich möchte hier nicht zu viel verraten, weil das in diesem sehr spannungsgetriebenen Buch doch sehr spoilern würde, daher nur so viel: Das von mir erhoffte finale Gespräch findet nicht statt, stattdessen gibt es eine rein kämpferische „Lösung“. Für mich ist dieses Aufeinandertreffen ziemlich enttäuschend, vor allem deshalb, weil die Entscheidungen, die die Hauptpersonen des Romans treffen, nur knapp abgehandelt werden. So wird den zentralen Veränderungen der Protagionist*innen, auf die der Roman hinarbeitet, wenig Raum gegeben. Natürlich geht es dabei um die Autonomie der versklavten Personen. Meines Erachtens müsste außerdem die Autonomie von Jack und Eliasz thematisiert werden, denn nicht nur, wer offensichtlich versklavt ist, unterliegt massiven Zwängen. Diesen Schritt geht die Autorin aber nicht – oder vielleicht doch, denn ich habe mir die Frage beim Lesen ja gestellt. Die Behandlung des zentralen Themas der Autonomie bleibt für mich unbefriedigend, auch deshalb, weil Paladin zum Ende hin seine Stimme zu verlieren scheint. Die Frage, ob in einer kapitalistischen Welt Freiheit möglich ist und wenn ja in welchem Maß, steht trotzdem im Raum und dafür feiere ich dieses Buch gern.

Fazit
Trotz der benannten Schwächen ist „Autonomous“ ein spannender, in schnoddriger Sprache geschriebener Roman mit einem sehr eigenen und detailreichen Weltenbau und spannenden Figuren. Wer nichts gegen gewaltvolle Schilderungen hat und rasante Bücher mag, ist hier sicher sehr gut bedient. Hervorzuheben ist auch die Behandlung eines sehr vielschichtigen und komplexen ethischen Themas ohne moralisierende Ansätze.

Unterhaltung: 2 von 3
Sprache/Stil: 2 von 3
Spannung: 3 von 3
Charaktere/Beziehungen: 2 von 3
Originalität: 3 von 3
Tiefe der Thematik: 1,5 von 3
Weltenbau: 2 von 3

Gesamt: 15,5 von 21

Ich habe das Buch auf englisch gelesen.