Sylvana Freyberg und Uwe Post (Hg.) Future Fiction Magazine Nr. 4, April 23: Deutsche Ausgabe

Berührende düstere Texte

Jean-LoCover der Zeitschriftuis Trudel (Kanada): Mit dem Fahrrad zum Zombie-Strand (Übersetzung aus dem Englischen)

Eine Frau entscheidet sich, zum Zombie zu werden. Langsam erfahren wir, dass dies in ihrer Welt bedeutet, offline zu gehen und ein paralleles Leben zu führen. Ich mochte diesen Text zu Beginn sehr, er ist vom Nachdenken der Prota über ihren „Tod“ bestimmt. Dann wandelt sich der Text und wird zu einer Verfolgungsgeschichte, in der die Prota vor ihren Kindern flieht, die sie von ihrem Entschluss abhalten wollen. Warum sie das wollen, bleibt fraglich. Dann wandelt sich der Text erneut und die Prota führt Gespräche mit anderen Zombies, die sie erkennen. Welche Rolle sie in der Vergangenheit gespielt hat und wofür sie erkannte wird, habe ich aber auch nach mehrfachem Lesen nicht verstanden, so dass dies für mich ein Text mit einem starken Beginn und einem schwachen Ende bleibt, der mich nicht in Gänze überzeugen konnte.

 

 

Roderick Leeuwenhart (Niederlande): Was kostet Premierminister?

Schon beim Titel war ich etwas verwirrt: Fehlt da nicht mindestens ein Artikel? So ging es mir auch auf den ersten beiden Seiten der Geschichte. Jemand wird von einer Polizistin bedroht und fast erschossen, dann gerettet. Oder doch nicht? Auf der dritten Seite verstand ich, dass in dieser Welt die eigene Identität von einem Chip abhängig ist, und dass man mithilfe des Chips die Identität wechseln kann. Der Autor schildert lebendig und in eindringlich-spielerischer Sprache, was das bedeutet, und schließt den Text mit einem schönen Twist ab. Extrapunkte gibt es auch für die unaufdringliche Thematisierung von Migration, Ausgrenzung und Privilegien. Das habe ich gern gelesen, eindeutig ein erwähnenswerter Text!

Christian J. Meier: Frieden mit der anderen Intelligenz

In diesem Artikel geht der Autor, Physiker, Journalist und Buchautor Meier der Frage nach, was KI kann und was wir von ihr zu befürchten haben. Meier vertritt die Meinung, dass bereits seit einigen Jahren die jetzigen Entwicklungen absehbar waren, und wundert sich darüber, dass Schulen und Universitäten darauf nicht vorbereitet sind. Sein sehr humorvoller und ansprechend KI-bebilderter Artikel zeichnet ein freundliches Bild von Teamarbeit mit KI-Hilfe, das mir angesichts kapitalistischer Zwänge etwas zu optimistisch erscheint. Auch bekommt Meier es wie viele andere vor ihm nicht hin, mir genau zu erklären, wie KI-Systeme eigentlich funktionieren. Möglicherweise liegt das daran, das die Entwickler*innen die Details nicht verraten. Oder ich stehe einfach auf dem Schlauch.

ChatGPT. Ein futuristisches Erlebnis in der Mittagspause

Dieser Text ist das Ergebnis des Versuchs, das beliebte künstliche neuronale Netzwerk FlashFiction schreiben zu lassen. Man kann den entstandenen Text nicht als Geschichte bezeichnen, dazu fehlt ihm der Spannungsbogen. Allerdings ist die Erzählung einer Person, die sich auf einer Bahnfahrt mit dem intelligenten Handy einer Mitreisenden unterhält, durchaus eine kreative Leistung, so eine absurde Idee ist schließlich nicht naheliegend. Wirklich unterhaltsam oder gar anregend ist der Text trotzdem nicht. Und genau das sollte wohl auch gezeigt werden.

Steff.Dewin: KI-Illustration

Hier erfahren wir etwas über den Künstler der Cover-Art, die mit KI-Hilfe entstanden ist. Leider ist der auf einen Schwarz-Weiß-Druck geschriebene Text nicht gut lesbar und sein Informationsgehalt für mich gering, da ich nicht wirklich weiß, auf wen sich Dewin bezieht. Das Cover selbst spricht mich sehr viel weniger an als die bisherigen Cover. Bei näherem Betrachten liegt das vor allem daran, dass die dargestellte Welt für mich keinen Sinn ergibt: Warum sind da Stielhäuser? Wo genau stehen sie wie auf dem Boden? Warum leuchten sie, obwohl es hell ist, und warum leuchten sie wie ein Auge? Für mich sind hier die typischen Darstellungslücken von KI-Bildern sichtbar. Leider erklärt der Text mir auch die wichtige Frage nicht, wessen Werk das Cover nun ist. So oder so wünsche ich mir für die nächsten Ausgaben wieder menschgemachte Cover.

Kris Brynn (Deutschland): Nur du und ich

Ein offensichtlich wohlhabender Mann muss zu einem wichtigen Termin und wird aufgehalten, weil ein Kind auf der Straße steht. Aus dieser kleinen Begegnung, die sprachlich sensibel und dicht geschildert wird, entfaltet sich eine kleine Welt: „Und da stand sie. Steif. Mit Augen, die alles zu beobachten, nahezu aufzusaugen schienen.“
Das Chaos, das Kinder verbreiten, die Unberechenbarkeit, macht dem Protagonisten Angst und Brynn schildert eindrucksvoll, was dadurch passieren kann. Natürlich geht es auch um Kunst, ein Twist, der gut angelegt ist und den ich schon früh vermutete, der aber am Ende trotzdem noch berührend und überraschend wirkt. Ich liebe diesen Text!

Future Fiction Talk: Kris Brynn im Gespräch

In diesem Interview erzählt Kris Brynn von KIs und ihrem Schreiben mit mehreren Pseudonymen. Besonders interessant fand ich Brynns Aussagen über Kunst zu KI-Themen, denn natürlich gibt es Künstler*innen, die sich auch mit diesem Themenfeld auseinandergesetzen.

Oyedotun Damilola Muees (Nigeria): Lagbot-45

Zwei Reporter berichten von einem Gerichtsprozess, bei dem, so wird behauptet, die ganze Nation an den Fernsehschirmen klebt (was für mich eher retro wirkt als futuristisch). Eine Frau hat einen mächtigen Mann beschuldigt, sie körperlich angegriffen zu haben. Es folgen Logbuchauszüge eines Roboters mit unklarer Funktion, wobei ich ziemlich lange brauchte, um zu verstehen, was die mit dem Gerichtsprozess zu tun haben. Sie erzählen offenbar die Vorgeschichte, allerdings in einer Weise, die sich mir nur teilweise erschließt. Weder der Beschuldigte, noch Klägerin, Bot oder das Umfeld werden für mich fassbar.
Ich habe mich mit den geschilderten Belanglosigkeiten ziemlich gelangweilt, zumal der Text mich mit seinen vielen Phrasen und dem kühlen Schreibstil auch sprachlich wenig anspricht. Warum der Bot am Ende plötzlich beschließt, so zu handeln wie er handelt, bleibt für mich nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar. Unbefriedigend ist für mich auch, dass das, was den Täter letztlich zu Fall bringt, sein privates Schuldeingeständnis gegenüber der Frau und die Berichte des Bots über eigene Übergriffe sind – und nicht die Tat an sich, die weiter im Dunkeln bleibt.

Tania Huerta (Peru): Natürlicher Instinkt

Die Ich-Erzählung aus der Sicht von MaMa beschreibt ihren Alltag als Hausfrau und Mutter. Es gelingt der Autorin schnell, eine beklemmende Atmosphäre zu schaffen, in der wir MaMas Kind wegen der vielen Regeln bedauern und die Erzählerin als unzuverlässig erkennen. Ich habe auch schnell geahnt, dass MaMa kein Mensch ist. Als die Schule des Jungen anruft, habe ich sofort die Ahnung, dass das Kind der MaMa weggenommen werden soll, wie sie es fürchtet. Das Ende hält leider keine Überraschungen bereit, sondern erklärt nur, dass und warum all meine Befürchtungen stimmen. Schade, mit einem besseren Ende (mit Twist oder Tiefe) hätte das ein richtig guter Text werden können.

Sarah Raich (Deutschland): Dieses Habenwollen

Aus der Sicht von Janine folgen wir einer Gruppe Jugendlicher, die zu einem Fest geht. Raich beschreibt die Interaktionen der Jugendlichen, wobei wir Janines immense Wut und Sehnsucht, die sie nicht zulassen will, hautnah miterleben. In mir hat der Text intensive Abneigung gegen Janine entfacht, ich habe mich gefragt, warum sie so wütend ist, konnte ihre zerstörerische Energie kaum aushalten. Immer mehr verdichtete sich der Verdacht, dass da etwas im Außen nicht stimmt, dass sie einen guten Grund für ihre Wut hat. Dieser Verdacht erhärtet sich zum Schluss. Das Ende bleibt offen, was zwar folgerichtig, aber für mich doch unbefriedigend war.

Das Heft endet mit der Vorschau auf das Comic „Parade der Hundert Geister“ von Xia Jia, mit Zeichnungen von Serena Meo und Gabriele „Caelpher“ Ghirelli über einen Jungen, der in einem alten Vergnügungspark lebt. Wie so oft bei Comics kann ich damit nichts anfangen und die Vorschau lässt mich ratlos zurück.
Es folgt Werbung für den Roman „Errungenschaft freigeschaltet“ von Uwe Post, das Magazin „fantastisch!“ und dann, in Interviewform, für die spanische Ausgabe des Future Fiction Magazins. Das Interview liest sich für mich leider ziemlich nichtssagend, über die veröffentlichte SF erfahre ich fast nichts, außer dass sie utopisch sein soll. Das ist schade, da hätte ich mir mehr gewünscht.

Fazit:

In diesem Heft kommen die Kurzgeschichten deutlich düsterer daher als in den vorigen Heften des FFM. Alle Geschichten spielen in dystopischen oder sehr realitätsnahen Settings. Den Text von Kris Brynn empfinde ich als mit positivem Ausgang, bei den anderen bleibt das Ende offen, neutral oder deutlich negativ. Ich finde das etwas schade, denn ich schätzte bislang gerade die optimistische Grundhaltung des Future Fiction Magazins und hoffe, das Magazin findet textlich wieder dorthin zurück.
Die Textauswahl finde ich ansonsten ansprechend, sprachlich sind fast alle Texte auf hohem Niveau, inhaltlich gibt es einen, der mich richtig begeistert und einen den ich wirklich toll finde, was bei sechs Texten eine enorm gute Quote ist. Die Texte, die mich begeistern, sind von deutschen Autor*innen, daher frage ich mich natürlich, ob da international nicht doch mehr zu holen gewesen wäre. Der nigerianische Text bildet für mich einen Ausreißer nach unten, was aber vielleicht auch Geschmackssache ist.

kategoriale Einschätzung:
Aufmachung 2 von 3
Unterhaltung 2 von 3
Textauswahl 2 von 3
Originalität 2 von 3
Diversität 2 von 3
Tiefe 2 von 3
Gesamtfazit: 12 von 18 möglichen Punkten