Elizabeth Moon: Speed of Dark. Orbit

intim und berührend

Speed of darkLou ist Autist, eine Krankheit, die in seiner Welt nur noch bei älteren Menschen vorkommt, die also weitgehend eliminiert ist. Er lebt allein und arbeitet für ein Pharmaunternehmen in einer Abteilung voller Autist*innen, die sehr erfolgreich Muster in Daten analysieren. Als die Firma ihm anbietet, seinen Autismus zu heilen, fragt Lou sich, ob er das möchte. Wer wäre er ohne Autismus?

“Speed of Dark” ist ein langsames Buch, das uns tief in Lous Gedanken eintauchen lässt. Es mäandert mit seinen sich wiederholenden Gedanken, folgt seitenlang seinen Ruminationen. Es fiel mir leicht, mich auf dieses Tempo einzulassen, denn ich empfand die Intimität der Ich-Erzählung als berührendes Geschenk: Lou nahm mich mit zu sehen, wie er die Welt sieht, wie er sich an Wortbedeutungen oder Krawattenmustern aufhängt. Seine Welt ist sehr anders als meine und dann doch wieder sehr ähnlich, besonders das Überfordertsein mit sensorischem Input kenne ich gut. Hinzu kommen Lous Ringen darum, in einer Welt, die auf neurotypische(re) Personen zugeschnitten ist, bestehen zu können, sowie Begegnungen mit Personen, die Dinge erwarten, die Lou nur mit Mühe leisten kann: seine Schwierigkeit, zu verstehen, was andere ihm mitteilen, wo ich beim Lesen oft genau wusste, worum es geht. Moons großes Verdienst ist es meines Erachtens, diese Einblicke einfühlsam und ohne Wertung zu gewähren und dabei zu vermitteln, was es heißt, immer wieder einem großen Normativitätsdruck ausgesetzt zu sein, immer wieder die Erfahrung zu machen “nicht normal” zu sein: “Even as hard as I try, the real people still want me to change, to be like them.” Dass der Text dabei an manchen Stellen zuspitzt, habe ich ihm nicht übelgenommen, zumal ich mir leider vorstellen kann, dass uneinfühlsame Fachpersonen (Psychiater*innen, Psycholog*innen und Berater*innen), wie sie im Buch geschildert werden, keine Seltenheit sind. Lou hat leider ausschließlich Kontakt zu solchen Fachpersonen.

Auf der Handlungsebene verflicht “Speed of Dark” verschiedene Ebenen miteinander. Auf einer Ebene folgen wir Lous streng durchgetaktetem Alltag in einer Zukunft, die wahrscheinlich in den USA in dreißig oder vierzig Jahren spielt. Lou geht einmal wöchentlich fechten, dort trifft er Marjory, in die er sich verliebt. Die sanfte Erzählung der Liebesgeschichte ist eine zweite Ebene. Sie hat mich sehr berührt, auch wenn ich mich immer wieder gefragt habe, warum Marjory Lou nicht einfach auf ein Date einlädt, wenn er sich nicht traut, diesen Schritt zu gehen. Aber die Frau bleibt hier in einer weitgehend passiven Rolle (oder in einer, die Lou so wahrnimmt). An anderer Stelle gibt es herrliche Beispiele für das Zurückweisen von Sexismus, wenn eine Figur fragt “Is she getting … you know … sort oft midlife?” und eine andere antwortet: “No. She’s expressing an opinion.”
Ein weiterer Erzählstrang widmet sich Lous Kontakten zu den autistischen Kolleg*innen, die alle zur Behandlung genötigt werden und unterschiedlich damit umgehen. Es gibt außerdem noch einen Kriminalfall, Lau wird von einer Person aus seinem Umfeld angegriffen, was Lou verständlicherweise zutiefst verunsichert. In dieser Zukunft gehen Leute kaum noch ins Gefängnis, sondern werden mit Gehirnchips behandelt, und Lou fragt sich, ob dies ethisch vertretbar ist und er sich das für seinen Angreifer wünscht.
Der Hauptstrang dreht sich um die Frage, ob Lou der Behandlung zustimmt oder nicht. Möchte er ein anderer werden? Welche Vorteile hätte es, normal zu sein? Und heißt der Wunsch nach Veränderung abzulehnen, wer man ist? Wer wäre Lou nach der Behandlung? In dem Maße, wie Lou mir als Person ans Herz wuchs, hoffte ich immer mehr, dass er die Behandlung ablehnt.

Ich möchte hier nicht verraten, welches Ende des Buch findet. Auch wenn “Speed of Dark” keinem klassischen Spannungsbogen folgt, ist doch die Frage, ob er sich für oder gegen die Behandlung entscheidet und was das dann für ihn (und für seine Beziehung zu Marjory, seinen Kolleg*innen und anderen) bedeutet, eine tragende. Moon findet ein Ende, das folgerichtig ist und sich weder als Happy End noch als tragisch kategorisieren lässt. Zwischendurch habe ich geweint, weil ich einen Teil des Buches so schwer aushalten konnte. Das sind aber zum Glück nur wenige Seiten.

Dass Moon Themen zu Ende denkt, ist meines Erachtens eine ganz große Stärke des Buches. Neben Lous persönlicher Geschichte werden so Fragen darum aufgemacht, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn bestimmte Behinderungen oder Abweichungen vom „Normalen“ nicht mehr existieren und was dieses „Normale“ eigentlich ist. Für mich stellt sich die Frage, ob das Leid Einzelner durch individuelle Behandlungen gelindert werden sollte oder vielleicht nicht doch vielmehr dadurch, dass die Gesellschaft Besonderheiten und Bedürfnissen gerecht zu werden versucht. Wenn zweiteres nicht der Fall ist, kann es wirklich eine freie Entscheidung für oder gegen eine Behandlung, die letztlich Anpassung an eine fragwürdige Norm bedeutet, geben?

Das Buch ist in einer einfachen Sprache geschrieben, oft sehr nah an Beobachtungen und Phänomenen. Ich habe es auf englisch gelesen und so gut wie keine Phrasen gefunden, bin im Englischen dafür aber auch nicht so sensibel. Mich haben die eigenwilligen und sehr spezifischen Beobachtungen Lous berührt, auch wenn sich durch Wiederholungen der immer gleichen Alltage und Strategien häufig Doppelungen und teilweise Längen ergaben. Hier habe ich teilweise Absätze quergelesen, verstehe aber inhaltlich sofort, warum es dem Text nicht gerecht geworden wäre, diese Ruminationen zu kürzen – sie bestehen ja gerade darin, dass sie sich nicht abkürzen lassen.

Fazit:
Ein bemerkenswertes, grandioses, berührendes und auf so vielen Ebenen empfehlenswertes Buch, das sich einem gesellschaftlich relevanten Thema annimmt, ohne je mit erhobenem Zeigefinger daherzukommen. Science-Fiction mit Tiefe und Spannung, mit dreidimensionalen Figuren und hohem Unterhaltungswert. Eins von diesen Büchern, bei denen ich mich frage: Wieso gibt es sowas nicht von deutschen Autor*innen? Und warum ist es nicht einmal übersetzt worden?

Unterhaltung: 2,5 von 3
Sprache/Stil: 2 von 3
Spannung: 2 von 3
Charaktere/Beziehungen: 3 von 3
Originalität: 3 von 3
Tiefe der Thematik: 3 von 3
Weltenbau: 2,5 von 3
Gesamt: 18,5 von 21