René Moreau, Hans Jürgen Kugler und Heinz Wipperfürth (Hrsg.): Exodus 46. 5 / 2023

anregendes Potpourri

Exodus 46Die „Exodus“ ist eine der etablierten Zeitschriften für Science-Fiction: Sie erschien in dreizehn Ausgaben bis 1980, machte dann 23 Jahre Pause und erscheint seit 2003 wieder halbjährlich. Auf rund 115 Seiten bietet die Zeitschrift nicht nur Kurzgeschichten Raum, sondern auch vielen hochwertig gedruckten Grafiken, einer Galerie mit Essay zum vorgestellten Künstler und Gedichten oder Micro-Fiction.

Ulf Fildebrandt: Das Chinesische Zimmer

Der Text greift ein sehr interessantes und philosophisches Thema auf: Ein Regierungsberater soll darüber entscheiden, ob ein Leben Bewusstsein hat oder nicht. Hat das Wesen, wenn es denn eines ist, ein Lebensrecht?
Der Text beginnt locker fließend und wir folgen dem Protagonisten Aiden Baker in ein Militärkrankenhaus. Dort begegnet er der Person, über die er entscheiden soll. Leider überzeugt mich der Text ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. Weder erfahren wir wirklich, wie Baker sich in der Begegnung fühlt, noch kann ich seine Herangehensweise an das Problem nachvollziehen. Auch warum er ausgewählt wurde, um die folgenreiche Entscheidung zu treffen, bleibt unklar.
Sprachlich überzeugt mich der Text nicht wirklich, wartet er doch mit einigen Phrasen auf, die leicht hätten eliminiert werden können. Am enttäuschendsten ist für mich jedoch das Ende: Der Text hört einfach ein einer Stelle auf, ohne dass irgendetwas geklärt wird.

Aiki Mira: Hier leben nur die Enkel von Elon Musk

Zwei Menschen sprechen miteinander und erst allmählich kann man erahnen, wo sie sich befinden: Eine Person ist auf der Erde und eine im Erdorbit oder auf dem Mond. Sie sprechen über Sehnsucht und Einsamkeit, wobei das Gespräch den Eindruck erweckt, dass sie eher ihren eigenen Assoziationen folgen, als sich wirklich aufeinander beziehen. Das dann mit einem anderen Gesprächspartner ein recht ähnliches Gespräch entsteht, verstärkt den Eindruck von Einsamkeit, Sinn- und Hoffnungslosigkeit, der sich dicht durch diese Geschichte zieht. Dazu passt auch das düstere Ende: Denn die Leute im All sind von der Erde abhängig, und wenn dort alle sterben, was der Fall zu sein scheint, gehen sie da oben auch zugrunde.
Nebenbei gibt es noch einen kurzen Exkurs zur Forschung (für die niemand mehr Geld aufbringt), diesen fand ich aber so wenig mit der Handlung verwoben, dass er mich nicht abholen konnte. Insgesamt konnte mich der Text trotz seiner sprachlichen Schönheit und gelungenen Emotionsbeschreibungen nicht wirklich abholen. Dazu blieben mir die Figuren zu fern, des weiteren fand ich den Text zu handlungsarm und durchweg düster. Die Illustration erlebe ich als Pluspunkt, sie fängt die Stimmung des Textes gekonnt ein.

Marcel Meder: Die Welt in guten Händen

Der Text erzählt abwechselnd zwei Szenarien: Eine Weihnachtsmannwerbung wird gehackt und dazu benutzt, die Firma zu kritisieren, für die sie werben soll, und parallel arbeiten zwei Personen in einem Coltanabbaugebiet. Für mich enthält der Text keinen beide Stränge übergreifenden erkennbaren Plot und auch keine wirklich plastischen Figuren. Besonders gestört haben mich aber die enthaltenen Rassismen und Stereotype. Da kommt das N-Wort vor (das soll wohl die Figur als rassistisch definieren, ich hätte es trotzdem lieber vermieden), die Augen einer Person werden rassistisch beschrieben und die Hautfarben werden nur bei PoC benannt. Insgesamt wirkt der Text auf mich misslungen pädagogisch.

Lisa Jenny Krieg: Die Todbringerin

Die Insassen eines Kolonieschiffs sind auf einem Planeten gestrandet und müssen dort überleben. Ranya gehört zu diesen Menschen – und auch wieder nicht, denn sie ist genetisch verändert und somit nicht mehr ganz Mensch. Sie wird ausgeschickt, um einen Pilz zu finden, und muss sich auf den Handel mit einer sprechenden Libelle einlassen, die sie für feindselig hält. Die Interaktionen der beiden sind interessant beschrieben, allerdings wirkten beide auf mich gleichermaßen unsympathisch, was mir nicht ganz leicht machte, dem Text zu folgen. Ein Pluspunkt ist die pointierte Darstellung der gegenseitigen Vorurteile, obwohl beide aufeinander angewiesen sind.
Der Text lebt von einem reichen, mir teilweise zu reichen Weltenbau, der mit vielen biopunk-typischen Wortneuschöpfungen das Lesen streckenweise anstrengend machte. Amüsiert habe ich mich über die berlinernde Libelle, gefreut über oft gelungene Beschreibungen. Insgesamt ein gelungener Text! Die Illustrationen zum Text sind sehr ansprechend, auch wenn ich die handelnden Figuren als wesentlich weniger technisch wahrgenommen habe, als sie dargestellt sind.

Uwe Post: Der Flaschenwal

Drei Kinder finden einen gestrandeten Wal, der neue Flaschen kackt, und wollen ihn retten. Als sich herausstellt, dass das Tier ein Biotool und wertvoll ist, hegen die Erwachsenen ganz andere Pläne. Der Text aus der Sicht eines Kindes erzählt eine berührende Geschichte mit gut gezeichneten, lebendig wirkenden Figuren und einem nebenbei vermittelten dichten Weltenbau. Besonders hervorzuheben ist, dass es Uwe Post gelungen ist, mit der Frage, ob eine bestimmte Art von Hoffnung nicht gefährlich ist, eine Parallele zur Jetztzeit einzubauen, dabei jedoch unter der Grenze der Aufdringlichkeit zu bleiben. Das ist ganz klar einer meiner Lieblingstexte in dieser Exodus!

Maike Braun: Ein vierblättriges Kleeblatt

Ein neurodivergenter supersensibler Protagonist kann mithilfe eines Symbionten besser leben – zahlt dafür aber den Preis, für immer wie ein Kind auszusehen. Außerdem muss er für die Polizei arbeiten. Ich liebe die Figur und auch den Beginn der Geschichte. Leider kommt das Ende, das ich hier aus Spoilergründen nicht verraten möchte, aus dem Nichts und passt für mich nicht zum Rest des Textes (oder ich habe da etwas gar nicht verstanden).

Essay und Galerie widmen sich Horst Relleke, dessen surrealistische Bilder, Architektur und Skulpturen ich nicht mit Science-Fiction in Zusammenhang bringe. Sie sind hübsch anzusehen, erschließen sich mir aber nicht wirklich.

Andreas Eschbach: Das Tor zur goldenen Stadt

In märchenhaftem Stil wird von Männern erzählt, die gegen den Wächter der Stadt kämpfen müssen, nach der sich alle sehnen. Die Stadt, so die Hoffnung, böte Wohlstand und Überleben. Es kämpfen der Großvater, der Vater und der Enkel – dem es schließlich gelingt, das Geheimnis zu lüften.
Der Text ist gut lesbar, spannend und er hat ein überraschendes Ende. Allerdings ist er ohne durch den Weltenbau begründete Notwendigkeit enorm heteronormativ und geschlechtsrollenstereotyp.

Roland Grohs: Die Stunde des Wahnsinns

Ben lebt zusammen mit anderen Menschen in einer Sanduhr-Maschine, die sich gelegentlich dreht. Die Stimmung von Sinn- und Trostlosigkeit ist gut eingefangen, es gibt keinerlei Hoffnung und keine Rettung. Mir bleibt völlig schleierhaft, was das Ganze soll. Meines Erachtens handelt es sich auch nicht um Science-Fiction, denn eine Erklärung für das Phänomen wird nicht geboten.

Uwe Hermann: Die End-of-Life-Schaltung

Ein alleinlebender alter Mann bekommt von seinem Sohn einen Roboter übergeholfen, der ihm im Alltag helfen soll. Der Mann wehrt sich zunächst dagegen, aber dann werden die beiden Freunde. Der Autor schildert sensibel und berührend, wie Bot und Mensch zueinander finden, und die Geschichte hat auch ein überraschendes und überzeugendes Ende. Leider ist der Teil, indem beide sich einander annähern, so straff geschrieben, dass sie unnötig blass bleiben. Wäre das anders, wäre das hier für mich ein richtig grandioser Text. So ist er nur gut.

Scipio Rodenbücher: Ritter, Tod und Teufel

In einem Raumschiff suchen drei Leute nach Sinn – und finden ihn nicht. Der Text ist sprachlich schön und punktet durch herrlich schräge Figuren. Er ist nur assoziativ verständlich. Schade finde ich, dass die eine Frau natürlich der Sidekick eines der Männer ist …

Klaus N. Frick: Im Haus der vielen Fenster

In dieser Schöpfungsgeschichte war ich zunächst fasziniert und dann gelangweilt von der sehr eigenen Sprache, der, um mich nachhaltig zu fesseln, die Höhepunkte fehlen. So plätschert der Text dahin. Plot gibt es wenig, auch die Hauptfigur bleibt wenig fassbar. Auch kann ich diesen Text nicht als Science-Fiction lesen. Schade.

Thomas Grüter: Brandzeichen

Diese verwickelte Räuberpistole handelt von einem genmanipulierten Menschen und einem Außerirdischen, ein schneller, absurder Text, der gut unterhält, dem aber, um ihn richtig gut zu machen, die Tiefe fehlt.

Christian Hornstein: Humanicity

Ein Mann testet Roboter und KIs auf Menschlichkeit – und spricht diese jedem Testsubjekt ab. Dabei ist sein Wunsch, KIs zu entlarven, so groß, dass er nicht erkennt, wenn er einen Menschen vor sich hat. Der Text wimmelt nur so von (teilweise fiktiv wirkenden) Fachbegriffen, die sich zum Ende hin so häufen, dass ich nicht verstanden habe, was da eigentlich im Detail verhandelt wird. Erstaunlicherweise fand ich ihn trotzdem durchweg gut lesbar.

Wie jede Exodus sind neben der Bildergalerie und den Illustrationen zu den Texten auch mehrere Comics enthalten. Diese sind ansprechend.

Fazit: Wie immer ist eine gut lesbare Zeitschrift entstanden. Die Texte sind unterhaltsam, allerdings fand sich für mich nur ein Highlight. Dazu gibt es einen Text, der wegen Rassismen meines Erachtens nicht hätte abgedruckt werden sollen, und einen weiteren, der überkommene Heteronormativität in die Zukunft projiziert. Die Geschlechtervielfalt scheint minimal mehr gegeben als im letzten Heft: von 14 Autor*innen sind den Vitae nach zwei weiblich und eine nichtbinär, ein deutlicher Männerüberhang ist aber nach wie vor zu verzeichnen. Bei den Illustrator*innen sieht es ähnlich aus: zwei Frauen und neun Männer, da im letzten Heft nur Männer vertreten waren, stellt das eine Verbesserung dar (zumindest wenn man, wie ich, der Meinung ist, andere Geschlechter sollten vertreten sein). Allerdings habe ich zugegebenermaßen kein Wissen darüber, wie viele nicht-männliche Illustrator*innen es im Science-Fiction-Bereich gibt. Die Comics wurden beide von Männern verfasst. Auch die handelnden Figuren in den Texten sind zum Großteil männlich – dabei wäre es hier sehr leicht, Abhilfe zu schaffen. Gewundert habe ich mich auch darüber, dass in einem Science-Fiction-Magazin zwei Texte enthalten sind, in denen ich keine Science-Fiction finden kann. Positiv zu benennen ist die thematische und stilistische Vielfalt, so ergibt sich ein anregendes Potpourri.

kategoriale Einschätzung
Aufmachung 3 von 3
Unterhaltung 2 von 3
Textauswahl 2 von 3
Originalität 2 von 3
Diversität 1 von 3
Tiefe 1 von 3
Sonderpunkte für Illustrationen: 3 von 3
Gesamtfazit: 14 von 21 möglichen Punkten