René Moreau, Hans Jürgen Kugler und Heinz Wipperfürth (Hrsg.): Exodus 47. 11 / 2023

schwächelnde Sammlung

Exodus 47

Die „Exodus“ ist eine der etablierten Zeitschriften für Science-Fiction: Sie erschien in dreizehn Ausgaben bis 1980, machte dann 23 Jahre Pause und erscheint seit 2003 wieder halbjährlich. Auf rund 115 Seiten bietet die Zeitschrift nicht nur Kurzgeschichten Raum, sondern auch vielen hochwertig gedruckten Grafiken, einer Galerie mit Essay zum vorgestellten Künstler und Gedichten oder Micro-Fiction. Bislang konnte ich allen Ausgaben etwas abgewinnen. Diese hier ist die Erste, die mich fast durchweg enttäuschte.

Stanislaw Lem-Zitat

Die erste Seite des Heftes bietet ein Foto des berühmten Science-Fiction-Autors und ein Zitat. Nun, ich mag Lems Werke eigentlich. Das Zitat hier zeigt, dass er auch sexistische Klischees bedient, es wird Science-Fiction mit einem „gefallenen Mädchen“ verglichen. Ich verstehe nicht, warum jemand das heute unkommentiert abdruckt.

Michael Schneiberg: Die Frau in der Wand

Den Einstieg in diesen Text liebe ich: Fabian tötet kleine Krebse, die er untersucht, und eine Stimme fragt ihn: „Meinst du, das tut ihnen weh?“ Ich nahm also an, es gehe um Empathie für Tiere, aber das erweist sich als falsche Fährte. Sprachlich dicht und atmosphärisch gelungen wird die wachsende Beziehung von Fabian zu Lisa geschildert, wobei Fabian Lisa lange für eine KI hält. Dabei ist der Weltenbau zunächst gekonnt eingeführt, ein großer Genuss sind für mich Schilderungen wie „Die Wohnung zu verlassen hatte immer etwas von einem Sprung ins kalte Wasser. Nur dass dieses Wasser mit psychoaktiven Drogen angereichert war.“ (Kommata fehlen im Original.) Leider kommen manche Infos zum Weltenbau doppelt, während wesentliche Infos fehlen, die ich gebraucht hätte, um mir das Ganze zu erschließen.
Fabian ist einsam und Lisa anscheinend auch. Aber sie wird immer übergriffiger und er wehrt sich nicht, erlaubt, dass sie ihn nachts weckt usw. Der Text zeigt gelungen eine zunehmend bedrohliche Atmosphäre und greift dabei leider auf das Klischee der forensischen Klinik mit psychopathischen Insassen zurück. Gelungen wird Spannung aufgebaut.
Achtung Spoiler: Leider funktioniert das Ende für mich nicht. Plötzlich weiß Fabian, dass die Klinik, die uns vorher als heil gezeigt wurde, nur eine ausgebrannte Ruine ist. Woher? Unklar. Warum er sich nun plötzlich von Lisa lösen kann, und was diese Entscheidung nach sich zieht, bleibt kryptisch. Das macht diesen sprachlich sehr gelungenen Text, der mit einem überzeugenden Ende für mich ein Jahreshighlight gewesen wäre, leider unbefriedigend.

Volker Dornemann: Flat Earth (Micro-SF)

Da passt der Titel zum Text. Ich empfinde das als wenig originelle Parodie auf Coronaleugner-Demos. Bei so einem kurzen Text sollte jedes Wort sitzen. Das hier wirkt leider ziemlich beliebig.

Hans Jürgen Kugler: Mach hin!

Dieser kurze Text lebt von Wiederholungen und Rhythmik, was mich trotz der Kürze (zwei Seiten) ermüdet hat. Auch inhaltlich bietet der Text nicht viel: In einer Welt, in der motorisierter Individualverkehr nicht mehr existiert, verschmilzt ein Raser mit seiner Spielkonsole, um in der Fantasie weiter zu rasen.

Yvonne Tunnat: Trauergeschäfte

Eine Mutter hat gerade ihren Sohn durch einen Unfall verloren und wird von einem Vertreter besucht, der ihr einen Ersatz verkaufen soll. Der Text ist aus Sicht des Vertreters erzählt und sprachlich dicht und angenehm phrasenfrei: „Ich werde nur nervös, wenn ich mir klar mache, wie rasch und zufällig etwas enden kann, das eben noch voller Leben und Potenzial gewesen ist.“ Die Fragilität unseres Lebens ist gut auf den Punkt gebracht.
Trotzdem kann mich der Text nicht recht abholen. Meines Erachtens liegt das daran, dass die Person, aus deren Sicht erzählt wird, recht blass bleibt. Am Ende wird klar, dass dies geschieht, um die Pointe zu ermöglichen. Der Preis dafür ist aber meines Erachtens zu hoch.

Volkertoons: Steine-Comic

Seit ich begriffen habe, dass diese kurzen Comics keine Geschichte erzählen, sondern nur Schlaglichter sind, verstehe ich sie sogar. Sie sind ganz witzig.

Wolf Welling: Stulpa

In einem Labor unterhält sich Dr. Frank N. Stein mit seinem Assistenten. Dabei entwertet er den Assistenten permanent, worauf dieser ebenfalls mit Entwertungen reagiert. Mir macht es keinen großen Spaß, Leuten dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig entwerten, weder im realen Leben noch in Texten. Dieser Text wartet mit zahlreichen Selbstzitaten des Autors auf, die uns in Fußnoten erklärt werden; auf mich wirkt das wie wenig gelungene Werbung für die eigenen Texte.
Stein entwickelt die Idee, sich selbst zu spiegeln, und verfolgt diese dann. Leider baut der Text für mich keinerlei Spannung auf, so dass ich ihn nach fünf für mich mühsamen Seiten abgebrochen habe. Ich denke, das soll lustig sein, aber es ist einfach nicht mein Humor. Und die Zeiten, zu denen ich solch eine Namenswahl originell fand, sind auch lange vorbei.

Victor Boden: Der Garten

Der Mensch Owen lebt auf einem fremden Planeten, auf dem eine Gruppe Menschen kolonisatorisch tätig ist. Die erhoffte Unterstützung bleibt aber aus, und die Kolonisierung erweist sich als sehr mühsam. Als Owen herausfindet, dass es leuchtende Steine auf dem Planeten gibt, verfallen viele Menschen diesen Steinen, die sie sich zu Kontaktlinsen schleifen und einsetzen. Die Menschen spalten sich in zwei Lager.
Mein Hauptproblem mit diesem Text ist das mangelnde Ende. Er hört einfach irgendwo auf, was es mit den Steinen auf sich hat und warum sie diesen Einfluss auf Menschen haben, bleibt völlig unklar. Daneben gibt es für mich zahlreiche Ungereimtheiten im Weltenbau: Wenn die Menschen so wenig Zeit für Wissenschaft haben, warum kommt dann jemand auf die Idee, aus Steinen Kontaktlinsen zu schleifen? Wie kann es sein, dass niemand etwas über Religion weiß? Und warum juckt es scheinbar niemanden, dass so viele Menschen in einen traumähnlichen Zustand fallen? Besonders abstoßend fand ich, dass Owen der Verlust seiner eigenen Familie kalt lässt. Nicht nur das: Seine Frau ist zum kompletten Pflegefall geworden, und alles, was ihm dazu einfällt ist, dass ihre Brüste nicht mehr erotisch sind.
Insgesamt bleibt Owen nach einer gelungenen Einführung als Figur blass. Wie die Kolonie funktioniert und was für Beziehungen die Menschen zueinander pflegen, bleibt offen. Dafür werden andere Dinge mehrfach und redundant erzählt. Die Frage nach den Beziehungen der Leute zueinander ist jedoch für mich angesichts des Plots, in dem Leute reihenweise in Traumwelten fliehen, zentral. Somit bleibt die Handlung für mich nicht nachvollziehbar: Owen und seine Gruppe ignorieren lange, dass es ein Problem gibt, und handeln dann plötzlich aggressiv.
Hinzu kommen einige merkwürdige stilistische Schnitzer, die aus der an sich stimmungsvollen Schreibe herausstechen. Ein Pluspunkt sind die atmosphärischen Illustrationen des Autors.

Kostas Koufogiorgos: Last Question (Comic)

Eine KI entscheidet sich für den Tod der Menschen. Hmm. Wenig originell, wenn auch hübsch gezeichnet.

Norbert Stöbe: Irgendwann, vielleicht

Wieder ein Text über eine scheiternde Kolonie. Diesmal aus der Sicht eines Jugendlichen, der leider als Figur ebenfalls blass bleibt, was für mich im Wesentlichen daran liegt, dass seine Emotionen behauptet, aber nicht gezeigt werden, wodurch er mir fern bleibt. Auf dieser Kolonie gibt es eine sichtbare indigene Spezies, und Xaver, die Hauptfigur, fragt sich, ob diese die Menschen nicht als Zootiere halten. Dann gibt es eine Begegnung mit diesen Außerirdischen und Xaver ist freundlicher als seine sadistischen Mitschüler. Warum er anders ist, bleibt aber ebenso unklar wie die plötzliche Veränderung des Kameraden am Schluss, die sich mir auch nach mehrfachem Lesen nicht erschließt.
Hinzu kommt, dass ich mich frage, warum die Menschen in so einer Kolonie so sinnlose und veraltete Schulen haben. Die Illustration ist stimmungsvoll, wirkt aber mit den Riesenpilzen auf mich etwas generisch.

Galerie: „Krimalkin“ – im Gespräch mit dem Illustrator, Designer und Comic-Künstler Ingo Lohse

Diese Sorte Interview ist im Radio Gang und Gäbe, in Magazinen aber selten: René Moreau stellt Fragen und Ingo Lohse erzählt irgendetwas, das bis auf wenige Ausnahmen mit den Fragen nichts oder fast nichts zu tun hat. Das Interview bietet trotzdem interessante Einblicke in Lohses Arbeitsweise, wobei ich doch erstaunt war, dass Lohse so viel älter klingt, als er ist, wenn er beispielsweise erzählt, dass er japanische Kultur spannend fände und ja auch einmal da war. Oder dass die meisten Grafiker*innen aufhören, bevor sie richtig gut würden.
Die Galerie selbst zeigt sehr verschiedene Bilder, denen man meist die ursprüngliche Technik (Bleistiftzeichnung, Aquarell, Tuschezeichnung) gut ansieht, was mich sehr anspricht. Das Comic am Ende ist mit seinen detailreichen Bildern für meinen Geschmack deutlich überladen und erzählt auch keine für mich erkennbare Geschichte. Die zugehörigen Texte wirken auf mich stilistisch unbeholfen, vor allem aufgrund der überhäufig vorhandenen Vergleiche, die sich in den Bildern nicht wiederfinden.

Corinna Griesbach: Die Kugel (Wasauchimmer)

Auf der Erde erscheinen rätselhafte Kugeln. Jemand hält sich für schlauer als alle anderen und will sich selbst retten, es bleibt aber unklar, wer das ist und was er eigentlich will. Er ist reich und männlich, so viel erfahre ich. Aber es bietet mir nicht ausreichend Anker. Mich interessiert das Ganze nicht wirklich, ich erlebe den Text als Aneinanderreihung von sprachlich nicht sonderlich ausgefeilten Versatzstücken. Und: Diese „Exodus“ scheint die „Exodus“ für mich rätselhafter Enden. Da reiht sich auch dieses ein. Dazu passt auch die Illustration, eine Fotomontage, die mir nur ein Schulterzucken entlockt.

Lyrik-Sektion: Schiller-Zitat

Nun ja. Nicht jedes Zitat eines Lyrikers ist Lyrik. Dieses hier lässt so viele Interpretationen zu, dass es mir zudem noch ziemlich beliebig erscheint.

Toni Frey: Die Patientin

In diesen Text kam ich schwer hinein. Da geht es um psychisches Leiden, aber das wird so weit entfernt und mit entwertenden Begrifflichkeiten erzählt, dass es mir keinen Anker bietet. Ich bekomme kein Gefühl dafür, wer die Hauptfigur ist. Das Wort „Wahnsinn“ wird für meinen Geschmack deutlich zu oft benutzt und es scheint so, als würde sich die Prota Selbstverletzungen völlig kühl überlegen.
Auch stilistisch weicht dieser Text vom Gewohnten ab: Es gibt viele Zeitformenfehler, die das Lesen mühsam machen, dazu recht viele Phrasen und abgegriffene Formulierungen. Die namenlose Prota, die merkwürdigerweise mit „Fräulein“ angesprochen wird, hat Angst vor einem Nichts. Aus einem nicht nachvollziehbaren Grund landet sie in einer „Nervenheilanstalt“, aus der sie nicht fliehen kann. Aber sie hat einen Pfleger, der sich ausschließlich um sie kümmert, was im Wesentlichen darin zu bestehen scheint, sie zu sedieren, wenn sie sich aufregt. Er weiß nicht einmal ihren Namen.
Der Text bedient zahlreiche Horror-Psychiatrie-Klischees, wobei der Weltenbau nicht erklärt, warum die Prota ihren Namen verliert und eingesperrt wird. Es wird behauptet, sie könne nur einen Satz sagen, allerdings kann sie sich dann doch unterhalten. Aber nicht mit den Therapeuten, die auswechselbar benannt werden und sie zulabern, und auch nicht mit dem Pfleger, der sich nicht für sie zu interessieren scheint. Sie wird dann von ein paar Wissenschaftlern übernommen und woanders eingesperrt. Mit diesen spricht sie.
Mich hat das Ganze so gelangweilt, dass ich es nach fünf Seiten abgebrochen habe. Ich finde den Text voller Saneismus und die mangelnde Einfühlung in die Hauptfigur stößt mich ab. Besonders ärgert es mich aber, dass auch 2023 noch psychiatrische oder neurologische Einrichtungen (ob es sich um das eine oder das andere handelt, bleibt völlig unklar) als Horrorhintergrund herhalten müssen.
Obwohl der Text aus der Ich-Perspektive erzählt wird, bleibt die Erkrankung der Hauptfigur völlig unklar, sie wird mal als „Wahnsinn“, mal als „Angststörung“ betitelt, die Symptome (Mutismus, selbstverletzendes Verhalten) passen aber nicht weder zu Psychose noch zu Angststörungen. Auch diese Unverständlichkeit bedient saneistische Klischees der unverständlichen Kranken. Dass zumindest auf den ersten fünf Seiten die Hauptfigur die einzige vorkommende Frau ist, verbindet das zusätzlich mit dem Klischee der psychisch instabilen Frau, die von Männern begutachtet und "behandelt" wird. Dazu passt dann auch die aus der Zeit gefallene Ansprache "Fräulein", die die Protagonistin weiter entmündigt und nicht ernst nimmt.
Die Illustrationen passen zum Text und zeigen drei Variationen der Silhouette eines Kopfes vor farbigen, strukturierten Flächen, wirken auf mich aber relativ nichtssagend.

Dieter Korger: Gondwana Skyway

Zwei Männer sollen wertvolles Gut transportieren. Sie behaupten, Profis zu sein, stellen sich aber reichlich ungeschickt an und beschädigen das Frachtgut. Dann begegnen sie einer Person, deren Geschlecht sie nicht einordnen können. Die Person wird nicht nur stereotyp mithilfe eines Lebensmittelvergleichs als asiatisch beschrieben – sie wird auch noch misgendert. Denn die beiden Männer beschließen nicht etwa, sie nach ihrer bevorzugten Ansprache zu fragen. Nein, sie legen eine fest. Das Ende des Textes funktioniert dann nur mit einer gehörigen Portion in einen Dialog gepressten Infodump, der dann noch einen Epilog braucht, um den Untergang der Menschheit zu verdeutlichen. Dass der eine Mann dann versehentlich den anderen erschießt, wirkt auf mich sehr zurechtgebogen und daher peinlich.
Auch sprachlich wirkt dieser Text an vielen Stellen unbeholfen. Da sind nicht nur eigenwillig kombinierte Phrasen („Mordsschrecken im Nacken“), sondern schlicht unpassende Formulierungen: „Schlechte Nachrichten konnte er nicht gut wegstecken.“ Nun, das wird wohl bei jeder Person auf die Art der Nachricht ankommen. Oder, schon fast eine Stilblüte: „Die Aussage mochte Charlie nicht mehr unverbindlich unterschreiben“ – Unterschriften sind verbindlich, das ist ja gerade ihr Sinn. Auch billiges Foreshadowing fehlt nicht: „Dazu sollte es nicht mehr kommen …“ Dass der Text in Afrika spielt, aber sämtliche vorkommende Personen weiß sind, ist da nur ein kleines Beiwerk.
Als positiv kann ich den Weltenbau benennen, die Idee der Skyways ist gut eingebaut. Auch der kleine Hinweis auf Altersarmut ist meines Erachtens gelungen.
Die Illustration in psychedelischen Farben ist mir zu grellbunt, passt aber ganz gut zum Text.

Lyrik: Aiki-Mira-Zitat

Wie auch bei den vorigen mit „Lyrik“ betitelten Schnipseln handelt es sich hier nicht um Lyrik, sondern um ein Prosazitat. So isoliert wirkt es auf mich recht beliebig, obwohl ich mich daran erinnere, dass es mich im Originalzusammenhang berührt hat. Die Illustration zeigt Menschen, die wie Flüchtlinge wirken und von „Hier“ nach „Dort“ gehen, was ich peinlich banal finde.

Lyrik: J.W. Hey und J. Von Eichendorff

Das Hey-Zitat ist wieder keine Lyrik, die Illustration dazu kommt mir so vor, als kenne ich sie von Pixabay. Sie wirkt beliebig.
Das Eichendorff-Zitat ist immerhin ein Gedicht, allerdings eins, das ich viel zu häufig zitiert gesehen habe. Die kitschig-süßliche Illustration zeigt eine feminin wirkende Silhouette im Profil vor Meereshorizont. *Seufz* Habe ich versehentlich den Apothekenkalender mitgenommen?

Christian Endres: Sprich nicht mit der Katze

Ein Mann glaubt, eine Technik entwickelt zu haben, die ihm Gespräche mit Tieren erlaubt. Dann geht er zu einem Psychotherapeuten, der schrecklich pädagogisch agiert und ihm sagt, er bilde sich das ein. Natürlich wirkt das nicht.
Der Text ist kurz und flott lesbar, allerdings bleibt die Hauptfigur blass. Da der Text recht eindeutig darstellt, dass es sich um einen Wahn handelt, was uns wenig elegant im Dialog vermittelt wird, handelt es sich nicht um Fantastik und der Text gehört eigentlich nicht in die Exodus. Oder aber die Katze spricht wirklich, dann bleibt aber völlig unklar, warum die Person sich in Psychotherapie begibt. Darüber hinaus handelt es sich um einen der leider zahlreichen verbreiteten Texte, die Unsinn über Psychotherapie und psychiatrische Störungen verbreiten. Kein Profi in dem Bereich würde versuchen, einer psychotischen Person den Wahn auszureden. Ebensowenig würde ein*e berufsethisch vertretbar handelnde*r Therapeut*in so von oben herab (be)handeln. Auch die im Text behauptete Annahme, ein Psychotherapeut könne mal eben „auf Elektroschocktherapie umsatteln“ stimmt nicht. Zudem ist der Begriff inkorrekt (es heißt Elektrokrampftherapie) und Wahnvorstellungen gehören nicht zum Indikationsbereich dieser Behandlung. Nicht zuletzt nimmt der Text seine Hauptfigur nicht ernst und macht sich über sie und den Psychotherapeuten lustig.
Das Bild ist eine Fotomontage einer männlich wirkenden Person mit Halsband, die eine Katze ansieht. Drumherum flackern Blitze. Hmm, kann man machen, ist aber wenig originell.

Peter Schattschneider: Genesis Reloaded

Einige Geräte liegen ewig beim Zoll und der Mann, der sie bestellt hat, stirbt. Die sich beim Zoll langweilenden Geräte entwickeln versehentlich eine neue Religion.
Die Idee einer Schwarmintelligenz im Zolllager finde ich grandios! Die Umsetzung überzeugt mich aber aus verschiedenen Gründen nicht. Der Text kann sich nicht entscheiden, ob er Ernst oder Klamauk sein soll, und mäandert zwischen verschiedenen – stets leicht lesbaren – Schreibdukti. Eine Schwarmintelligenz wird zwar behauptet, dann werden aber sich streitende Einzelindividuen beschrieben. Die Maschinen sind alle klischeehaft, warum die Hauptfigur, ein Buchhalter, das Zeug zum Boss hat, ist trotzdem nicht recht klar.
Psychotherapie-Parodien scheinen in dieser Ausgabe der „Exodus“ ein durchgehendes Thema zu sein, auch hier gibt es sie mit den zwei Therapierobotern Adler und Freud, die aber nicht ihren Job erledigen, sondern andere Bots zwangstherapieren wollen. Dabei wäre Adler mit seinem Gemeinschaftssinn die perfekte Besetzung für einen Gruppenleiter. Dass die Bots nach Urvätern der Psychoanalyse benannt sind, lässt mal wieder die Urmütter unter den Tisch fallen – dabei hätte es völlig gereicht, aus Freud eine Sie zu machen, dann hätte man mal auf Anna Freud verwiesen, deren Forschungen ebenfalls bahnbrechend waren. Das Ende des Textes ist oberflächlich gesehen folgerichtig und schlüssig – aber nur, wenn man von der offenen Frage absieht, warum Bots eine dem Christentum ähnliche Religion brauchen.
In einer Fußnote wird erklärt, woher die Anregung zum Text kam. Und das macht mich dann richtig traurig: Da geht es um das grausame Schicksal eines Menschen und den Umgang europäischer Staaten mit Geflüchteten, und alles, was daraus wird, ist witziger Klamauk? Das Bild passt dazu und zeigt einen erleuchteten Wall-E-ähnlichen Bot im Gegenlicht, nach dem sich Roboterarme ausstrecken.

Angelika Brox: Junimond

Ein Jugendlicher sitzt im Gefängnis. Als die Welt untergeht, rettet ihn ein Wärter, und er findet die Liebe seines Lebens.
Das ist nett geschrieben und leicht lesbar, allerdings enthält es einige Phrasen und keinerlei Überraschungen. Natürlich rettet ihn die Liebe, natürlich schlug sein Vater seine Mutter, aber die Liebe kittet alles. Immerhin handelt es sich deutlich um eine Momentaufnahme, was ich leichter goutieren kann als eine behauptete langfristige Rettung. Schade ist, dass alle Figuren über klischeehafte Zeichnungen nicht hinauskommen, auch die Hauptfigur bleibt blass und Nebenfiguren sind nach ihren Vergehen beschrieben. Der Wärter hat einen sprechenden Spitznamen, wir erfahren aber nicht, warum.
Die Illustration zeigt zwei Jugendliche und eine Gruppe Hunde von hinten. Sie wirkt auf den ersten Blick kitschig – wäre da nicht der Atompilz im Hintergrund. Das passt perfekt zur Geschichte.

Fazit:

Das ist die bislang enttäuschendste „Exodus“-Ausgabe, die ich gelesen habe. Bei dem Großteil der Texte frage ich mich, warum die Redaktion sie veröffentlicht hat, sie können mich weder stilistisch noch inhaltlich überzeugen. Gut gefallen haben mir nur „Trauergeschäfte“ und „Die Frau in der Wand“, richtig herausragend fand ich keinen Text. Meist sind die Enden die Hauptbaustelle der Texte.
Auch die Illustrationen sprechen mich nur teilweise an, vielleicht habe ich inzwischen zu viele SF-Illustrationen gesehen und erkenne die wiederkehrenden Motive. Vieles wirkt mir zu generisch.
Wie so oft enthält die Exodus viele Texte mit rein männlichem Figurenensemble. Weibliche Figuren kommen – wenn überhaupt – nur als Love-Interest oder Sexbot vor – oder werden von Männern beherrscht. Auch drei der vier Autorinnen bedienen dieses Muster. Rühmliche Ausnahme ist Yvonne Tunnat, wobei die gezeigte Frau in der Mutterrolle auch ein klassisches Rollenmuster bedient. Aber die Nebenfigur des Vatersohnes bricht es wieder.
Zählt man Illustrator*innen, Herausgeber und Zitatgebende mit, so hat diese Ausgabe 31 Beteiligte, davon sind den Vitae und meinem Wissen nach 26 männlich, vier weiblich und eine nichtbinär. Auffällig schwach sind in dieser Ausgabe die Lyrikbeiträge. Sie beinhalten bis auf eine Ausnahme keine Lyrik und wirken auf mich belanglos.
Aus meiner Sicht kritikwürdig ist außerdem der sich durchziehende Saneismus: Die Diskriminierung und Entwertung von Personen aufgrund von psychischer Erkrankung. Daneben enthält diese Ausgabe viele Scherze auf Kosten von oder Klischees gegenüber Personen, die mit psychisch Erkrankten arbeiten: fiese Pfleger, verfolgende, entwertende oder schlicht nicht hilfreiche Therapeuten (sämtlich männlich, was den realen aktuellen Geschlechterverhältnissen im Beruf massiv widerspricht) und natürlich das Klischee der Horror-Psychiatrie. Ganz davon abgesehen, dass ich diese Narrative reichlich ausgelutscht und daher langweilig finde, sind sie auch ethisch bedenklich. Sich Hilfe zu suchen, ist so schon für Betroffene und deren Angehörige schwierig. Die Verbreitung derartiger Vorurteile macht es nicht leichter.

kategoriale Einschätzung

Aufmachung 3 von 3
Unterhaltung 1 von 3
Textauswahl 0,5 von 3
Originalität 0,5 von 3
Diversität 1 von 3
Tiefe 0,5 von 3
Sonderpunkte für Illustrationen: 1,5
Gesamtfazit: 8 von 21 möglichen Punkten