Mary Robinette Kowal: The Spare Man. Solaris

spannend und klischeereich

Spare Man

 

Ein Mord in einem Luxusreisemittel und niemand kann weg – spätestens seit “Mord im Orientexpress” ist das ein gängiges Krimisetting. Kowal verlegt ihre Reise ins Weltall, wir haben also eine Art Kreuzfahrt zum Mars. Tesla und ihr frisch angetrauter Mann Shal verbringen hier ihre Flitterwochen – auch das mutet sehr klassisch an. Wie das berühmte Original auch lebt der Roman von eigenwilligen Charakteren und sich ergebenden Verwicklungen. Hinzu kommen Science-Fiction-Elemente der Schiffstechnik und des Weltenbaus, wobei wir über die Welt jenseits der Wahrnehmung der Superreichen fast nichts erfahren.

 

 

Beginnen wir mit dem Plot: Tesla und Shal reisen in einer Luxussuite. Weil beide berühmt sind und unerkannt reisen wollen, sind sie inkognito unterwegs, mit falschen Namen und Perücke. Tesla ist Firmenerbin und berühmte Erfinderin, Shal erlangte Berühmtheit damit, als Detektik Altfälle zu lösen. Beide sind berentet, Tesla nach einem Laborunfall, der ihre Kolleg*innen das Leben gekostet hat, Shal aus einem lange unbenannten Grund.
Kowal verschränkt die Aufdeckung der persönlichen Hintergründe der Figuren mit der Krimihandlung. Tesla hat nach dem Unfall starke chronische Schmerzen und einen Hirnstimulator, mit dessen Hilfe sie die Schmerzen regulieren kann, was natürlich Nebenwirkungen hat. Sie leidet außerdem an einer ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörung. Um ihr mit den Flashbacks zu helfen, begleitet sie ein Therapiehund, der Westie Gimlet, der spürt, wenn sie sich einem Flashback nähert, und ihr hilft, sich zu reorientieren.
Als beide nach einer Karaoke-Show zurück in ihre Suite kommen, geschieht auf dem Flur davor ein Mord und sie sind die ersten am Tatort. Shal verfolgt den Mörder und wird dann selbst als mordverdächtig verhaftet. Um ihn zu entlasten, will Tesla den Fall lösen. So weit so klassisch. Sie wird dargestellt als eine verwöhnte reiche Person, die gewöhnt ist, alles zu bekommen, was sie will. Ja, sie ist schwer behindert, aber in den meisten Situationen ist sie eine manipulative, unsympathische Person, die ständig am Rande eines Wutanfalls steht und oft Leute entwertet und herumkommandiert.
Der Roman folgt großenteils der personalen Perspektive von Tesla. Die findet Vieles heraus, es ergibt sich aber immer noch eine und noch eine und noch eine Verstrickung. Natürlich gibt es bald eine zweite Leiche, dann noch einen Angriff und dann eine dritte Leiche. Der Plot schlägt so viele Haken, dass ich irgendwann Mühe hatte mitzukommen, und am Ende lösen Shal, Gimlet und Tesla nicht nur diesen einen Fall sondern noch einen uralten offenen. Eine große Rolle spielt dabei die ständig unflätigst fluchende Rechtsanwältin Teslas, die ihre Mandantin über Telefon berät.
Wir folgen also mehreren Handlungssträngen: die Kriminalfälle, die Vergangenheiten von Tesla und Shal, deren Beziehung zueinander und Teslas Krankheit bzw. Behinderung. Kowal jongliert diese verschiedenen Ebenen bis zur Mitte des Romans für meinen Geschmack meisterhaft. Dann fällt jedoch alles auseinander, was zu einem für mich auf vielen Ebenen sehr unbefriedigenden Ende führt, das ich dem Roman wirklich übel nehme.
Die Kriminalfälle werden so verwickelt, dass es, um das ganze Durcheinander auch nur annäherungsweise zu verstehen, zum Ende ein ganzes Kapitel reiner Infodump-Dialoge braucht, in denen uns erklärt wird, wie das alles nun zusammenhängt – wobei sehr viel klischeehaft oder an den Haaren herbeigezogen wirkt. Die Vergangenheit von Tesla bleibt fragmentarisch, ist aber immer noch reich im Vergleich zu dem Wenigen, was wir über Shal erfahren. Die vage Erklärung, warum er seinen Beruf aufgegeben hat, bleibt für mich schemenhaft und unbefriedigend. Die letzten beiden Ebenen schließlich, das, was dem Roman hätte Tiefe verleihen können, verschwinden fast ganz. Tesla wird zwar während der Ermittlungen wieder als Ingenieurin tätig, dies hat aber ebenso wenig Folgen wie Shals Tätigwerden als Detektiv. Mir leuchtet nicht ein, warum Kowal hier so viel eines eigentlich spannenden Ansatzes verschenkt. Auch auf die Partnerschaft der beiden hat das “Abenteuer” scheinbar nicht die geringste Auswirkung.

Letztlich bleibt der Text sehr in klassischer Krimimanier verhaftet: So gibt es natürlich einen versteckten Zwilling, jemand wird während einer Bühnenshow getötet (Leiche vier), etliche Leute sind nicht, wer sie zu sein vorgeben, Shal gibt Tesla die Detektivweisheit “jede*r lügt und alle haben etwas zu verbergen”, die sich natürlich als wahr erweist, usw. usf. Es ist, als habe Kowal alle Krimiklischees aufgegriffen und verwurstet. Für mich ist der Text damit deutlich überladen, und die eigentlich gut eingeführten Figuren wirken schließlich deutlich überzeichnet und damit unglaubwürdig. Hinzu kommen übermäßig gebrauchte Kapitel-Cliffhanger.

Genervt hat mich außerdem die ständige Thematisierung von Geilheit. Tesla und Shal sind frisch verliebt und wollen die ganze Zeit nichts anderes, als endlich miteinander Sex zu haben. Auf mich wirkt das merkwürdig, kenne ich doch keine einzige Person, die frisch verliebt geheiratet hat. Hier haben wir ein Paar, das sich scheinbar wenig kennt und, so scheint es, vor der Ehe keinen Sex hatte und das nun endlich nachholen will. Vielleicht eine amerikanische Besonderheit und damit kulturell bedingt? Beide sind ständig am Rummachen, auch in Situationen, in denen sie in Lebensgefahr schweben oder schwer verletzt sind. Die dauernde Beschreibung weicher Lippen, knackiger Arschbacken und weicher Haare hat mich irgendwann nur noch genervt, zumal Kowal an diesen Stellen merkwürdigerweise Teslas Perspektive verlässt, um mir zu schildern, wie sie wirkt, wenn sie sich auszieht. Dabei werden aber beispielsweise die Narben, die sie haben muss, nicht erwähnt.
Schade fand ich auch, dass ich letztlich wenig darüber erfahren habe, wie Tesla und Shal als Team funktionieren: Sie belügen sich ständig gegenseitig und erhalten das auch dann aufrecht, wenn sie einander dabei ertappen – mir erscheint das so ein (kulturelles?) “Lügen aus Höflichkeit”-Ding zu sein, bei dem mir völlig schleierhaft ist, wie so eine intime Beziehung möglich sein kann. Aber vielleicht stehe da auch nur ich als Person auf dem Schlauch, für die Ehrlichkeit und Vertrauen grundlegend für Nahbeziehungen sind. Achtung Spoiler: Dass Teslas und Shals Beziehungsebene dann damit beendet wird, dass sie nun endlich in der Kiste landen und ihre Flitterwochen genießen, hat mich so geärgert, dass ich das Buch fast an die Wand geworfen hätte. Vier Leute sind gestorben, du warst mehrfach von Flashbacks geschüttelt und alles, was dir einfällt ist “Oh ja, endlich Sex?”
Hinzu kommt die häufige Erwähnung von Alkohol, jedes Kapitel beginnt mit einem Cocktailrezept und es wird auch viel getrunken.

Die Idee, einen Hund eine wichtige Rolle spielen zu lassen, fand ich zunächst sympathisch. Aber auch hier hat es Kowal für meinen Geschmack übertrieben und die xte Beschreibung Gimlets süßer Ohren hat mich genervt. Insgesamt war die Sprache für meinen Geschmack etwas weitschweifig – ich habe auf Englisch gelesen, ich nehme an, im Deutschen hätte ich darunter so gelitten, dass ich den Text abgebrochen hätte. Eine deutliche Straffung der oft redundanten Beschreibungen hätte dem Text meines Erachtens gut getan.

Hat mir denn gar nichts gefallen? Oh doch. Da ist einerseits die wirklich durchgehaltene Spannung. Das Buch ist über weite Strecken ein Pageturner. Da sind andererseits die oft sehr humorvollen Beschreibungen mit zum Setting passenden Vergleichen, wie beispielsweise “Resting her weight on her heels, Tesla gave a smile as frozen as the far side of an asteroid.” Auch gibt es viele sehr witzige Dialoge, besonders während der Telefonate mit der Rechtsanwältin, die durch den zunehmenden Zeitversatz eine eigene Komik entwickeln, die Kowal gelungen darstellt.
Richtig gut gefallen hat mir auch das Spiel mit Geschlechtsrollenklischees. Shal stickt, die Rechtsanwältin häkelt und Shal ist diesmal der nicht sehr wohlhabende Mann, der die reiche Erbin Tesla heiratet. Ganz selbstverständlich tritt ein lesbisches Paar auf, und Personen, von denen das Geschlecht nicht bekannt ist, werden als Mx angeredet. Die Pronomen they/them und Neopronomen ze/zir kommen vor, und Tesla wehrt sich mehrfach erfolgreich dagegen, sexistisch entwertet zu werden. Unter den ethnischen Hintergründen gibt es einen sehr diversen Cast und auch die Hauptfigur mit Behinderung gefällt mir gut. Dass sie dann trotzdem eigentlich ab Kapitel eins halbtot durch den Text wandert und fast nie Ruhe braucht – das fand ich dann wieder schade. Aber: Kowal hat fundiertes Wissen zu posttraumatischen Belastungsstörungen eingebracht, auch die benannten Strategien zur Flashbackkontrolle wirken fundiert. Das gibt aus meiner Sicht einen dicken Extrapunkt! Leider wird der zum Teil wieder eingebüßt, denn dass Tesla trotzdem weiter funktioniert, ist leider alles andere als realistisch.
Die technischen Details der Schiffssysteme sind gut eingebaut, mir hat es auch gefallen, dass es verschiedene Gravitationsebenen gibt, um Menschen von verschiedenen Planeten oder Monden gerecht zu werden. Allerdings hätte ich mir doch etwas mehr gewünscht, dass es plotrelevant ist, was das Leben mit Hirnstimulator nun eigentlich für Tesla bedeutet. So verkommt diese an sich tolle Idee zu einem reinen Hintergrundphänomen.

Fazit: “The Spare Man” ist ein spannender im All spielender Krimi mit sehr überschaubaren Science-Fiction-Elementen. Fans klassischer Krimis werden daran ihre Freude haben. Meines Erachtens hat Kowal tolle Ideen, auch auf der Science-Fiction-Ebene, die meisten davon aber nicht ausreichend genutzt, um einen richtig tollen Text daraus zu machen.

Unterhaltung: 2,5 von 3
Sprache/Stil: 2 von 3
Spannung: 3 von 3
Charaktere/Beziehungen: 2 von 3
Originalität: 1 von 3
Tiefe der Thematik: 0,5 von 3
Weltenbau: 1,5 von 3
Gesamt: 12,5 von 21