Judith Vogt, Lena Richter, Heike Knopp-Sullivan (Hrsg.): Queer*Welten 11-2023
abwechslungsreich und berührend
Lünn: Mein schönster Hexenprozess (Kurzgeschichte)
Drei Frauen, Liesl, Dacania und Annemarie werden der Hexerei bezichtigt. Sie sind eingesperrt und noch nicht verurteilt, aber da das Ergebnis der Untersuchung bereits feststeht, ist ihnen der Scheiterhaufen sicher. Die Geschichte ist aus der Sicht von Dacania erzählt, die eine sehr pessimistische Weltsicht und tatsächlich eine besondere Fähigkeit hat: Wenn sie einen Menschen berührt, sieht sie die Vergangenheit, die Zukunft oder – beim dritten Mal – die Gegenwart. Dacania hat mit dem Leben bereits abgeschlossen, aber Liesl, die Kühe heilen kann, weckt in ihr neue Hoffnung.
Der Text ist berührend, düster und sprachlich stark, wenn beispielsweise Liesl zu Annemarie sagt: „Dacania ist eine Hexe, weil sie Angst vor ihr haben, ich bin eine Hexe, weil ich ihnen nicht gefalle, und du bist eine Hexe, weil du ihnen zu sehr gefällst.“ Oder in den Beschreibungen, die oft lyrische Qualitäten haben: „Das Mondlicht schimmert auf ihren dunklen Locken und treibt verloren im schwarzen Meer ihrer Pupillen.“ Auch Parallelen zur Jetztzeit und dem Umgang mit weiblicher Devianz lassen sich ziehen. Das Ende ist fantastisch und bekommt es hin, zwischen Hoffnung und Verzweiflung zu changieren. Das hat mir ausnehmend gut gefallen!
Charline Winter: Grüne Herzen (Kurzgeschichte)
In dieser SF-Geschichte lebt Marinescu in einer alten Schwimmhalle und repariert Androiden. Während Marinescu über die veränderte Welt nach dem Klimawandel sinniert, kommt Besuch, ein „Exemplar“ mit „schmaler Nase, um die sich sicherlich einige ausgesuchte Sommersprossen verteilten“. Das „Exemplar“ hat einen Reparaturwunsch, dem Marinescu nicht entsprechen möchte, und es entspinnt sich zwischen beiden ein berührendes Gespräch rund um die Frage, was normal ist. Winter flicht gekonnt Weltenbau ein, der Text hat eine eigene Sprache und gelungene Beschreibungen, dazu berührt er mich und ist sogar noch lehrreich. Hach, schön! Was das mit Hexen zu tun hat, musste ich mir erst erklären lassen (auch Marinescu ist eine heilende Person im Wald), aber das störte angesichts des tollen Textes nicht im Geringsten.
Jasper Nicolaisen: Rausfinden (Kurzgeschichte)
Dass mich eine Kurzgeschichte so amüsiert, dass ich schallend lache, passiert auch eher selten. Hier war das der Fall. Eine Hexe strahlt sich herum, was auch immer nun das genau heißt, und landet, wo sie nicht landen will: „Erst verstrahlt und dann neben einer großen Alten gelandet, die mir alles wegquarzt.“ Denn natürlich ist ihr Gegenüber Raucherin. Und stellt sich nicht als Bedrohung heraus, sondern als Anregung.
Voller spritziger Ideen und witziger Einfälle wird die Begegnung zweier Wesen erzählt. Und Nebenbei gibt es Weltenbau und Philosophie anhand der Frage, was mit dem eigenen Leben anzufangen wäre – und eine kleine queere Liebesgeschichte zum Umgang mit Eifersucht und Neugier. Auch das ist SF, von der gern genossenen Sorte.
Chris* Lawaai: Das Geheimnis der Puddingteilchen (Kurzgeschichte)
Dieser Text spielt vor allem in einer Rückblende, die in die 1990er Jahre entführt. Die Hauptfigur zieht zur Tante, weil die Eltern sie nicht als trans* akzeptieren. Der Text ist stimmungsvoll, die phantastische Komponente besteht in der Fähigkeit der Tante, Zaubertränke herzustellen. Oder Zauber-Puddingteilchen. Ich mochte den Ton, die kleinen Alltagsbeobachtungen und die fließende Sprache, auch wenn mich das nicht so begeistert hat, wie die bisherigen Texte der Ausgabe. Aber da lag die Messlatte auch verdammt hoch!
Iris Leander Villiam: Hans und Gerthold (Kurzgeschichte)
In dieser Märchenadaptation sind Hans und Gerthold ein schwules Pärchen, das von den Vätern verstoßen wird. Der Text ist im Märchenstil geschrieben, bekommt es aber trotzdem gut hin, die Figuren zu charakterisieren. Dass die Hexe hier zur Rettung wird, hat mir gut gefallen.
Anna Zabini: Ein Mädchen und sein Tod (Kurzgeschichte)
Für diesen Text brauchte ich mehrere Anläufe. Er ist dicht, er ist hermetisch, er ist lyrisch und kryptisch und schön. Ein wilder Ritt durch Zeiten und Geschichte. Kostprobe gefällig? „Graue, mehrschichtige Gewänder mit gelbstichigen Flecken, die dem Patrouillieren im urbanen Staub geschuldet waren, hingen lose an einem Leib, dessen Gesicht von einer Atemmaske und dessen Haar von einer Kapuze bedeckt wurde.“ Wenn ich das aufmerksam lese, bekomme ich ein Bild und es ist, wie in diesem Text häufig, ein ekliges, horrorartiges. Dieser Text erfordert Konzentration und eine gewisse Hingabe beim Lesen, belohnt diese dann aber mit atmosphärischer Dichte und berührenden Schilderungen wie der hier: „Sylvie hatte nie Lesen gelernt, und das hier war die erste Bibliothek, die sie dafür nicht bestrafte.“ Oh ja! Bitte mehr solche Bibliotheken!
Aber worum geht es in diesem Text und welchem Genre gehört er an? Ich bin mir nicht sicher. Es scheint mir SF mit magischen Anteilen. Oder Fantasy mit SF-Anteilen? Sylvie, so glaube ich zu verstehen, ist eine Hexe, die Lebensfäden sammeln und dadurch ihr eigenes Leben verlängern kann. Nach dem Klimawandel ist die Erde nicht mehr bewohnbar und es entsteht ein neuer Wohnort für Menschen (wo auch immer) und in diesem regieren Konzerne, die hier Zirkel heißen. Bewusstseine werden in Cyberspace hochgeladen. Sylvie leistet Widerstand, und auch wenn das nur sehr eingeschränkt gelingt, trifft sie auf Gleichgesinnte, die nicht aufgeben. Vielleicht. Wie gesagt.
Mochte ich diesen Text? Ja, sehr. Fand ich ihn schrecklich? Jap, auch das. Trotzdem bleibt mein Fazit: unbedingt lesenswert!
Iva Moor: Magisch-systemische Unordnung: Hexen als disruptives Element in Erzählwelten (Essay)
Moor geht in diesem Essay verschiedenen Erzähltraditionen rund um Hexen nach. Dabei benennt sie zahlreiche Filme, Serien und Bücher, die mir fast alle unbekannt sind, was es mir schwer machte, dem Essay zu folgen. Spannend fand ich die Verknüpfung zwischen Hexentum und (Un)Weiblichkeit: Die Hexe, so Moors These, ist die Frau, die klassischen Rollenbildern nicht genügt, aufbegehrt und dafür ausgestoßen sowie an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. (Hier lässt sich die Verbindung zu „Grüne Herzen“ ziehen, denn Marinescu lebt in einer Zukunftsversion des Hexenhäuschens im Wald.) Naheliegend, dass die Hexe auch reclaimed werden und zum ermächtigenden Vorbild werden kann. Wie das geht, machen die Texte dieser Ausgabe gut vor!
Rezensionen
Diesmal gibt es nicht nur Buchvorstellungen von den Herausgebenden, sondern auch von zwei Gastrezensent*innen. Alle Bücher drehen sich um Magie und Hexen und wie so oft wecken sie Leselust.
Queerfeministische Zaubersprüche
Über das Heft verteilt gibt es immer wieder einseitige Zaubersprüche. Das sind manchmal Wünsche, manchmal Gedichte, manchmal Kurzprosa. Die meisten davon fand ich anregend, mit einigen konnte ich gar nichts anfangen. Richtig begeistert hat mich keiner. Offenbar sind Kurztexte nicht wirklich mein Ding.
Fazit: Nach meiner Begeisterung für Heft 10 kann ich nun auch für Heft 11 ein sehr positives Fazit ziehen. Und das, obwohl ich dachte, Hexen seien ein Thema, das mich null interessiert. Die Texte gewinnen dem aber so viel Neues ab, dass ich überzeugt wurde. Grandios finde ich auch, dass die Texte dabei sehr verschieden sind, was für Abwechslung und Facettenreichtum sorgt. Mein Gefühl ist, die QueerWelten haben sich etabliert und bekommen nun die Texte, die sie verdienen! Bei drei von sechs Texten, die mir richtig gefallen haben, kann ich mich nicht einmal für einen Favoriten entscheiden.
Aufmachung 2 von 3
Unterhaltung 2,5 von 3
Textauswahl 2,5 von 3
Originalität 3 von 3
Diversität 3 von 3
Tiefe 3 von 3
Gesamtfazit: 16 von 18 möglichen Punkten