Sven Haupt: Niemandes Schlaf. Eridanus

humorvoll und kryptisch

Niemandes SchlafDer Einstieg in dieses Buch gelang mir schnell. Ich mochte den trockenen Humor und die punktgenauen Dialoge, diese Teile holten mich sehr ab. Dafür haben mich die Beschreibungen gelegentlich irritiert, so die eines quecksilberähnlichen Kopfes, der bronzefarben ist und golden glänzt.
Auch vom Aufbau her hatte ich zunächst Mühe, dieses Buch zu verstehen. Es ist aus der Sicht von Lou erzählt, die sich die Geschehnisse im Nachhinein mithilfe von Erinnerungen und Überwachungsvideos erschließt. Dadurch gibt es zwar eine Ich-Erzählerin, aber sie schaut durch Videos vermittelt auf sich und andere, was für viel Distanz zu den Figuren sorgt.
Lou folgt abwechselnd zwei Erzählsträngen: Der erste Strang zeigt einen General und die für das Militär tätige Wissenschaftlerin Calvin, die entdecken, dass ihre verschwundenen Militärdrohnen merkwürdigerweise in einem Kühlhaus aufgetaucht sind, wo sie aus Knochen und Blut von Schlachttieren eine riesige Rose gebaut haben. Das Zweierteam, das meist nicht gut als Team funktioniert, versucht herauszufinden, wie das passieren konnte.
Der zweite Strang folgt Lou selbst, ihrem Kollegen Tuomas und ihrem Chef Herrn Scholz, die in einer riesigen Klinik leben und ebenfalls seltsame Blumen erforschen. Sie sind Expert*innen für transphysikalische Phänomene, und die beispielsweise in Toilettenspülkästen auftauchenden Blumen scheinen ein solches zu sein. Zum Team stößt sehr bald eine weitere Figur, Eva, hinzu, wobei die Art, wie dieses Team das Phänomen untersucht, für mich bis zum Schluss rätselhaft und wenig nachvollziehbar bleibt, so dass ich nur schwer beschreiben kann, was sie tun.

Haupt zeichnet eigenwillige Figuren, die leider so vage bleiben, dass sie mir immer wieder durcheinander gerieten. Erschwerend kommt hinzu, dass manche Figuren von verschiedenen Personen mit unterschiedlichen Namen angesprochen werden – was Leute wie mich dann vollends verwirrt. Zentrale Figur ist Lou, eine Person unklaren oder wechselnden Geschlechts im Rollstuhl. Lou verliebt sich in Eva, die Liebesgeschichte läuft parallel zur Erforschung der Blumen.

Die Geschichte spielt in einer riesigen Metropole. Sie wird von Blumenmemes überschwemmt, und da die Mehrzahl der Stadtbewohner rund um die Uhr im Netz hängt, sind diese permanent mit Blumen beschäftigt. Warum ein Teil der Hauptfiguren dem Netz fernbleibt, erfahren wir nicht. Ebensowenig erfahren wir, wie die Stadt wirtschaftlich und politisch funktioniert. Keine Figur führt ein Alltagsleben, sodass wir davon nichts mitbekommen und die Stadt ungreifbar bleibt.
Obwohl ich den Weltenbau zunächst wirklich grandios fand, hat mich doch zunehmend frustriert, wie wenig davon ich verstehen konnte. Da gibt es also eine Welt, in der Fenster verboten sind, weil die Menschen sich sonst reihenweise suizidieren. Aber warum? Psychische Themen sind in dem Buch wiederholt benannt, da geht es um „Wahnsinn“ (ein für mich schwieriges, weil entwertendes und ungenaues Wort), um Psychose und Suizidalität, in der Biografie einer Figur tritt auch Folter auf. Aber nichts davon lässt sich für mich verständlich einordnen, so dass es, leider, zum reinen Hintergrundrauschen verkommt. Dabei ist die Thematik, was geschieht, wenn das Leben für eine zunehmende Zahl von Menschen nicht mehr lebenswert ist, eine durchaus spannende. Bedrückende. Wichtige.

Der Text ist sehr dialoglastig. Ich habe diese Dialoge zunächst sehr genossen, weil es witzig ist, dass alle aneinander vorbei reden und Fragen, die sich auch mir stellen, nicht beantwortet werden. Leider nutzte sich dieser Effekt bald ab, zumal die zahlreichen handelnden Figuren alle gleich sprechen. Das ist wirklich schade, denn die Dialoge für sich sind oft köstlich. Insgesamt lebt der Text von einem eigenwilligen Humor, der vielfach bekannte Phänomene zuspitzt und auf den Punkt bringt und dabei Weisheiten präsentiert, die mich sehr berührt haben.
Über weite Strecken atmet „Niemandes Schlaf“ eine traumartige, verfremdende Qualität, wie hier in der Beschreibung der Klinik: „… die mit den weißen Wänden und den Fenstern, nutzten unsere Räumlichkeiten seitdem als Abstellraum, wenn niemand sie dabei beobachtete. Es gab uns das Gefühl, dass unser technisches Gerümpel nachts zum Leben erwachte und sich selbst zusätzliche Gesellschaft baute, welche dann am Morgen unauffällig in den Regalen stand und so tat, als wäre sie schon immer da gewesen.“
Die Grundstimmung der Lektüre habe ich dabei zunächst als positiv wahrgenommen, wobei das auch merkwürdig war: Es sterben reihenweise Leute und niemand scheint sich Sorgen zu machen. Es gibt eine Blume aus Fleisch und Blut und niemand findet sie eklig. Die Blumen werden immer mehr, die Figuren im Text bleiben gelassen und verpeilt, bis plötzlich in einem Kapitel in der Buchmitte die Stadt abgeriegelt wird, das Militär eingreift und die Todeszahlen in die Höhe schießen. Plötzlich schlägt die Stimmung des Textes in eine bedrückende um – das ist gekonnt gemacht, nur leider für mich nur ansatzweise nachvollziehbar.
Die Stimmung der Rätselhaftigkeit und mangelnden Nachvollziehbarkeit ist gekonnt eingesetzt, trotzdem habe ich mich ab der Mitte des Buches nach Antworten gesehnt und danach, dass mal eine Figur für mich nachvollziehbar handelt. Leider ist das bis zum Schluss nicht der Fall, was meinen Lesegenuss doch getrübt hat.

Ein Lichtblick war für mich die Beziehung zwischen Lou und Eva, eine sanfte Liebesgeschichte mit vielen Untertönen, die noch besser hätte sein können, wenn der Text weniger Distanz zu den Figuren gewahrt hätte. So bekam ich zu keiner der beiden Beteiligten ein Bild, auch hochemotionale Schilderungen ließen mich völlig kalt: „Ich erlebte das intensivste Gefühl absoluten Horrors, das ich jemals in meinem Leben empfunden habe. Es entwaffnete und lähmte mich vollständig.“
Bei Lou verstehe ich nicht einmal, zu welchen Bewegungen sie in der Lage ist und zu welchen nicht. Ihr sprechender Rollstuhl Richard hat mal Räder und mal Beine, ein Gefährt, dessen Funktionen und Aussehen bis zum Schluss unklar bleiben. Wirklich genossen habe ich das Spielen mit Geschlecht und Geschlechtsrollen. So erscheint Lou mal eher männlich und mal weiblich und spielt mit Klischees von Weiblich- und Männlichkeit, und Eva nutzt irgendwann Er-Pronomen. Warum allerdings Lous Behinderung mit Weiblichkeit verknüpft ist, wie es im Buch explizit behauptet wird, verstehe ich nicht.

Wer Sven Haupts Texte kennt, wird einiges in „Niemandes Schlaf“ wiedererkennen: Militärangehörige, eine Person, die ständig Tee trinkt, eigenwillige Figuren und spritzige Dialoge. Ich habe auch mehrere Reminiszenzen an „Stille zwischen den Sternen“ und „Wo beginnt die Nacht“ entdeckt. Und leider auch in allen drei Texten umständliche Formulierungen und irritierende Absätze in Dialogen, die ein gutes Lektorat hätte glattziehen sollen.

Das Ende des Textes hat mich ratlos zurückgelassen. Achtung, möglicher Spoiler: Ich habe es so verstanden, dass ein Wesen aus einer anderen Dimension versucht hat, den Menschen zu helfen. Aber warum und warum das Wesen dann eine KI benutzt und nicht Menschen, erschloss sich mir nicht. Zwischendurch dachte ich, dass es darauf hinausläuft, dass für diese unglücklichen Menschen der Tod erstrebenswerter sei als das Leben, das Ende lässt aber diese Interpretation nicht zu. Ich blieb also ratlos und etwas unbefriedigt zurück.

Fazit: Alles in allem ist „Niemandes Schlaf“ ein an vielen Stellen poetischer und witziger Text um die wichtige Frage, wie wir mit Dingen umgehen, die wir nicht erklären können. Dass der Text selbst sich an vielen Stellen der Erklärung entzieht, ist fast folgerichtig, hat mich aber trotzdem enttäuscht.

Unterhaltung: 2 von 3
Sprache/Stil: 2 von 3
Spannung: 2 von 3
Charaktere/Beziehungen: 1,5 von 3
Originalität: 2 von 3
Tiefe der Thematik: 1 von 3
Weltenbau: 1,5 von 3
Gesamt: 12 von 21