Christoph Grimm (Hg.) Weltenportal Nr 5. 10/2023
bunte Mischung
Die Zeitschrift beginnt mit einem illustrierten Haiku, den ich nur als solchen erkannt habe, weil es im Inhaltsverzeichnis stand. Ich hielt ihn für ein Zitat. Dann folgen Kurzgeschichten.
Yvonne Tunnat: Die Geburtstagsparty
Finjas wird fünf – aber kein geladener Gast kommt zur Party. Die Geschichte erzählt uns, wie es dazu kam, und flicht dabei gekonnt Weltenbau ein: Finjas ist als einziges Kind im Umfeld kein genetisch designtes Kind. Finjas’ Mütter sind Flüchtlinge und leben nun mit ihm in einer Welt der Designerkinder, in der Finjas Wunsch nach einer Party untergeht.
Obwohl ich den Text thematisch gelungen finde, hatte ich Mühe hineinzufinden, mir gerieten anfangs die drei Personen durcheinander. Dann kam ich gut in die Geschichte, Finjas’ Erleben ließ mich aber trotzdem kalt, ich glaube, weil keine der drei Figuren für mich wirklich plastisch wurde. Auch das Handeln von Finjas’ Müttern kann ich nicht nachvollziehen, erscheint es mir doch, als würde der Raum für Finjas’ Trauer durch ihr Bestehen auf einem positiven Erleben nur kleiner. Gefallen hat mir aber der sozialkritische Aspekt des Textes.
Jol Rosenberg: Eine Person, eine Karte
Dieser Text spielt in der Welt von „Das Geflecht“.
Nicole Hobusch: Die Hitze der Bürokratie
In einem Warteraum, der an eine Hölle erinnert, wartet eine Frau. Was ihr dort widerfährt, mutet kafkaesk an, ich lese es als eine absurde Geschichte über das Verlorengehen in Bürokratie. Der Text ist atmosphärisch dicht und erklärt nichts vom Geschehen, das dadurch rätselhaft und unverständlich bleibt. Die Sprache weist leider einige Phrasen auf („zentnerschwer“), aber das mindert die gelungene Stimmung nicht.
Detlef Klewer: Das Artefakt (Comic)
Eine Person soll ein Artefakt finden und findet es natürlich auch. Aber dann ist es doch anders als gedacht. Was generisch und daher beliebig klingt, ist es leider auch. Zudem spielt das Comic in einer reinen Männerwelt und erzählt keine abgeschlossene Geschichte, sondern einen Ausschnitt ohne Anfang und Ende. Die Illustrationen wirken wie verfremdete Fotografien und sind ganz ansprechend, für mich tragen sie allerdings kaum zur ohnehin geringen Figurencharakterisierung bei.
Galax Acheronian: S.A.I.S.
In der Zukunft überwacht eine K.I. alles und jeden. Als ein älterer Mann in seiner Wohnung stürzt, kümmert sie sich daher auch um seine Versorgung. Es folgt eine Unterhaltung mit seiner Frau, die dem Sturz weitgehend indifferent gegenüber steht und wir erfahren von einer Vergangenheit, in der sie gegen KIs kämpfte.
Der Text ist durch einen unterkühlten Erzählton gekennzeichnet, der die Figuren wenig plastisch werden lässt. Die eigentliche Geschichte wird in der Rückblende erzählt und kann in mir keinerlei Interesse wecken. Auch sprachlich bietet der Text keine Besonderheit.
Manuel Otto Bendrin: Die Staffel
Diese Horrorgeschichte um ein pilzartiges Wesen ist in sehr altmodischem phrasenreichem Stil erzählt. Sie wirkt auf mich fast gänzlich generisch: Sowohl der vorhersagbare Plot als auch die blassen, natürlich männlichen, weißen Figuren und die Atmosphäre rufen in mir ein Déjà-vu-Gefühl hervor.
Interviews
Es folgt ein Interview mit Manuel Otto Bendrin, das mich leider ähnlich langweilt wie der Text. Der Autor behauptet zwar, etwas anders zu machen, klärt uns aber nicht darüber auf, was das sein soll. So wirkt dieses Interview, als habe er nicht wirklich etwas zu sagen, was zwar zum Eindruck des Textes passt, mich aber sehr unbefriedigt zurücklässt.
Das Interview mit dem Nova-Team wurde leider von der Wirklichkeit überholt, denn die als neu gelobte Redaktion bestand zum Zeitpunkt des Abdrucks bereits nur noch zum Teil. Ich habe das Interview mit einigem Erstaunen gelesen, klingt es doch nach einer völlig anderen (wesentlich progressiveren) Zeitschrift als dem mir bekannten Magazin. Auch habe ich mich gefragt, warum Christoph Grimm hier ausgerechnet dem konservativsten Magazin der Szene einen Darstellungsraum bietet – vielleicht aus Hoffnung auf Veränderung, wie sie auch aus dem Interview klingt? Oder einfach, weil Nova eine Institution ist, die die deutsche Szene in den letzten zwanzig Jahren geprägt hat?
Brandon Q Morris hat glücklicherweise etwas zu erzählen, das Wort, das mir zu dem Interview mit ihm einfiel, war „launig“. Danach folgen Kai Fockes Auslassungen zu der von ihm erfundenen „Schmunzelfantastik“, auch diese lesen sich angenehm plätschernd. Insgesamt lösten die Interviews in mir die Frage aus, ob deutsche Autor*innen wirklich so wenig zu sagen haben.
Kai Focke: Herrschaft der Algorithmen
Dieser düstere Text ohne Protagonist*innen erzählt über die Ausbeutung und Entmachtung von Menschen. Focke gelingt es, dem altbekannten Trope über die Herrschaft von KIs über Menschen neue Aspekte abzugewinnen.
Frank Lauenroth: Fly me to the dune
Diese Verfolgungsjagd ist zwar gut beschrieben, lässt mich aber völlig kalt, weil mir der Anker fehlt: Weder fühle ich mit den Figuren mit, noch verstehe ich, worum es geht. Dadurch bleibt der eigentlich schöne und gelungen eingeführte Weltenbau weitgehend in der Luft hängen.
Volker Dornemann: Mikrostorys
Dornemanns Mikro-SF begegnet man in diversen Magazinen immer wieder. Diese hier sind für meinen Geschmack welche von den gelungeneren, zwei der drei Texte erzählen immerhin kurze Geschichten. Trotzdem kann ich nicht viel damit anfangen; wirklich gute Mikro-SF halte ich allerdings auch für eine enorm hohe Kunst, der ich nur selten begegne.
Anke Elsner: Pisauridae
In der Firma des Protagonisten beginnen die Kollegen sich zu verändern. Das wird atmosphärisch dicht beschrieben und fängt meine Aufmerksamkeit. Leider verkommt der Text dann zu einer bereits zig Mal gelesenen Alieninvasion mit Horroranteilen, die in ihrer Vorhersagbarkeit peinlich wirkt. Hinzu kommt das wirklich einfältig wirkende Verhalten des Protas, der ein Getränk trinkt, um dessen Toxizität er eigentlich wissen müsste.
Nele Sickel: Harmonien
Dieser enorm kurze Text um den Umgang mit Angst vermittelt für seine Kürze sehr viel. Das ist einerseits enorm gelungen, handelt es sich doch um eine einzige Seite. Der Nachteil ist, dass fast kein Raum für Figurenbeschreibung und Setting bleibt, sodass das Verhalten der Hauptfigur nicht einzuordnen ist. Aber wenn sich die Autorin den Raum genommen hätte, wäre es nicht ein so schön kurzer und dichter Text geworden ….
Sarah Lutter: Opium
Hier handelt es sich offenbar um den ersten Teil einer Fortsetzungsgeschichte in Sherlock-Holmes-Manier: eine enorm klischeehafte Detektivgeschichte, in der fast ausschließlich Männer handeln, in glatter phrasenreicher Schreibe. Dass die eine vorkommende Frau natürlich sofort nicht ernst genommen wird, hat mich ebenso geärgert wie die unnötigen Längen des Textes.
Es folgt ein Interview mit den Romanfiguren von Christian Endres‘ Prinzessinnen, das einen guten Einblick in den Text bietet: eine Klamauk-Geschichte um eine Söldnerinnentruppe.
Der Artikel „Abgespaced: Science-Fiction Soap Opera kann anders sein“ von David A. Lindsam definiert Space-Opera als Western im Weltall und geht der Frage nach, ob dieses Subgenre neu interpretiert werden kann. Neben historischen Anekdoten zur Begrifflichkeit stellt Lindsam dar, dass es im englischen Sprachraum vielversprechende Neuinterpretationen in intellektuell ansprechenden Buchserien gibt. Im Deutschen hat er dagegen nur trashige Buchserien gefunden, die geradlinig und in alter Subgenretradition erzählen. Lindsam wünscht sich hier nachvollziehbarerweise mehr und ich kann ihm nur vollen Herzens zustimmen.
Das Heft schließt mit einer Sammlung von Rezensionen in verschiedenen Stilen. Manche sind ausführlicher, manche knapp, manche behandeln Fantasy, manche Science-Fiction. Alle sind gut les- und nachvollziehbar, sodass sie einen gelungenen Abschluss für das Magazin bilden.
Das „Weltenportal“ ist wie immer liebevoll illustriert. Einige der Illustrationen sprechen mich sehr an, andere weniger, sie sind aber in jedem Fall eine Aufwertung der Texte. Ob es gelungen ist, dass manche der Illustrationen mit KI-Hilfe erstellt wurden, darüber kann man sicher streiten, aber dieser Debatte kann ich in einer Rezension ohnehin nicht gerecht werden.
Fazit: Bei sehr liebevoller Aufmachung und ansprechendem Satz bietet das Heft einige für mich entdeckenswerte, daneben aber auch für meinen Geschmack zu viele wenig ansprechende Texte. Auch die Interviews überzeugen mich nur zum Teil. Insgesamt hat sich das Lesen des Heftes für mich durchaus gelohnt.
Aufmachung 2,5 von 3
Unterhaltung 2 von 3
Textauswahl 1,5 von 3
Originalität 1 von 3
Diversität 1 von 3
Tiefe 1 von 3
Gesamtfazit: 9 von 18 möglichen Punkten