Samuel R. Delany: Babel-17. Carcosa
bereichernd, außergewöhnlich, dicht
In einer abgewrackten Hafenstadt, in der die Menschen alles tun, um zu überleben, sucht General Forester Rydra Wong auf, eine berühmte Dichterin und Sprachexpertin. Sie soll aufgenommene Daten entschlüsseln, die man bislang für einen Code hält. Wong hält es dagegen für eine Sprache und möchte herausfinden, von wem sie gesprochen wird. Denn Sprache eröffnet eine Sicht auf die Innenwelt der Sprechenden – und auf die ist sie gespannt.
Wir folgen der Dichterin auf der Suche nach einer Crew durch die Hafenstadt, in der es körperlose und tote Wesen gibt, welche mit chirurgisch veränderten Körpern, Sukkubi und allerlei Fabelwesen. Wong stellt ihre Crew zusammen, eine sehr diverse Crew aus tierähnlichen Menschen mit vier Beinen, Menschen verschiedener ethnischer Hintergründe – und Kindern.
Wong reist am nächsten Morgen ab, sie hat es sehr eilig, denn sie will einen Sabotageakt auf einer Raumstation verhindern, die Waffen herstellt. Während der Reise erfahren wir, dass sie den entschlüsselten Daten entnommen hat, wo die nächste Sabotage geplant ist. Und natürlich bleibt auch das Schiff nicht von Sabotage verschont.
Achtung: Spoiler! Wer nichts vom Plot erfahren möchte, liest am besten beim nächsten Absatz weiter (der, der mit „Delany“ beginnt). Am Zielort wird die gesamte Crew zum Essen eingeladen. Wong erhält zuvor eine Führung durch das Waffenarsenal und bekommt all die fürchterlichen Dinge vorgeführt, die Menschen bereit sind, einander anzutun. Darunter sind auch konditionierte genoptimierte Menschen, die nur gehorchen können, auch ohne es selbst zu wissen, und natürlich wird einer davon für den späteren Anschlag benutzt. Jemand fliegt mit Wongs Schiff samt Crew davon und sie erwacht an einem neuen Ort. Spätestens hier wird deutlich, dass die neue Sprache, Babel-17, Wongs Denken und Wahrnehmung verändert. Sie kann diese Veränderung im Kampf einsetzen und ich hege den Verdacht, dass sie die Saboteurin auf ihrem Schiff ist, ohne dass sie selbst es weiß. Und: Wenn sie in Babel-17 denkt, verlangsamt sich die Zeit um sie herum und sie hat eine stark gesteigerte Wahrnehmung. Diese ermöglicht es ihr, einen weiteren Anschlag zu vereiteln. Nun weiß sie, was das nächste Ziel sein wird: das Verwaltungszentrum der Allianz. Also macht sie sich dorthin auf, inzwischen als Gast auf einem neuen Schiff, das sie und ihre Crew aufgenommen hat. Natürlich gibt es wieder einen Kampf (diese sind immer besonders kryptisch), Wong geht eine enge Verbindung zu einer Person (dem Schlächter, siehe unten) ein, der in Babel-17 denkt, und diese Verbindung verändert sie so sehr, dass sie sich selbst verliert.
Am Ende greift das Buch die zu Beginn beschriebene Freundschaft auf und der Freund muss sie (mal wieder) retten. Ich habe dieses Ende als große pazifistische Aussage verstanden: Babel-17, eine Sprache, die als Waffe geschaffen wurde um zu morden, wird von Wong und dem Schlächter verändert, sodass sie Frieden ermöglicht. Gleichzeitig wird Schlächter – eine Person, die zur Waffe wurde – wieder zur Person, indem er sich seine Symbolisierungsfähigkeit zurückerobert. Denn um Frieden möglich zu machen, braucht es Symbolisierungsfähigkeit und die Möglichkeit zur Selbstkritik.
Delany macht es Lesenden nicht leicht, ihm in seine Welt zu folgen. Die allwissende Erzählstimme erklärt fast nichts, folgt mal der einen und mal der anderen Figur, meistens aber Captain Wong. Die Welt, die die Figuren schildern, scheint fragmentiert, nicht zusammen passend. Während Forester von Menschen erzählt, die sich gegenseitig aufessen, um zu überleben, trifft man später Leute, die das Geld haben, sich aus modischen Gründen Flügel oder Löwenmähnen operieren zu lassen. Wie geht das zusammen? Es bleibt rätselhaft, aber es wird deutlich, dass Wong einen ganz anderen Blick auf diese Menschen hat. Oder, wie eine Nebenfigur im Buch formuliert: „Man verfängt sich so leicht in seinem eigenen Ausschnitt der Welt. Wenn eine Stimme zu einem durchdringt, ist das wichtig.”
Delany lässt mehrere Sichtweisen auf die Welt nebeneinander stehen, schafft dadurch eine Ambiguität und Mehrdeutigkeit, die ich selten so gelesen habe und die meines Erachtens eine tiefe Weisheit offenbart.
Der Text lebt von einem sehr starken sense of wonder und von der sehr bildgewaltigen und eigenen Sprache, die sich szenenweise enorm verändert, da sie sich dem Inhalt anpasst. Da gibt es ganze Absätze mit nicht beendeten Sätzen, die mein Kopf sofort mit Enden füllt, oder Vergleiche, die mich innehalten lassen im verzweifelten Versuch, daraus für mich verständliche Bilder zu formen: „Sie trug kupferfarbenen Lippenstift, und ihre Pupillen sahen aus wie gehämmerte Kupferscheiben …” oder „Ihre Knöchel waren weiß, und vor den Augen des Barkeepers kroch das Weiß über ihre Hände, bis sie aussahen wie zitterndes Wachs.”
Ich empfand den Text als atmosphärisch dicht und sehr bedrückend, stellenweise an der Grenze des Aushaltbaren grausam. Andererseits hat er immer wieder eine große Schönheit und die Art, wie Wong sich Menschen und Außerirdischen, aber auch ihren eigenen sinnlichen Empfindungen zuwendet, berührt mich immer wieder sehr. „Er hat mir alles über Sätze und Absätze beigebracht – wusstest du, dass die emotionale Einheit beim Schreiben der Absatz ist? – und wie man das, was man aussprechen möchte, von dem, was man andeuten möchte, trennt, und wie man das eine vom anderen unterscheidet …” Diese Aussage Wongs scheint mir auch auf den Text zuzutreffen. Delany weiß jedenfalls, wie man ausspricht und andeutet – und wie gerade in der Andeutung manches erst aussprechbar wird.
Wong ist eine immens intensive und gute Beobachterin, so sehr, dass sie von anderen als telepathisch begabt erlebt wird. Tief berührt hat mich ein Gespräch Wongs mit ihrem Freund und ehemaligen Therapeuten, in dem sie darüber spricht, dass es leicht sei, von anderen Gesagtes zu wiederholen. Und wie schwer, wirklich etwas Neues, ganz Eigenes zu sagen.
Delany verwendet stellenweise viele Fachbegriffe und greift glücklicherweise zwei Themen auf, in die ich mich auch hineingearbeitet habe: Sprachwissenschaft und Psychologie und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Der Autor bekommt es dabei hin, sich nicht hinter Fachworten zu verstecken, sondern mit einer Genauigkeit zu schreiben, die mich immer wieder tief berührt – wenn es mir denn gelingt sie für mich zu entschlüsseln. Diese Genauigkeit scheint er mit Wong zu teilen: „… es war drei Jahre her, dass ihr Emotionen das letzte Mal zu viel Angst gemacht hatten, um sie in Augenschein zu nehmen”. Wong schaut auch bei sich selbst genau hin und offenbart sich uns in einer Ehrlichkeit, die ich in der Literatur nur sehr selten bemerkt habe. Dadurch entsteht eine grandiose Intimität, die stellenweise fast verstörend wirkt. Das Ganze wird immer wieder durch Humor aufgelockert, gerade die Dialoge haben mich oft zum Lachen gebracht.
Sehr wichtig ist Wongs Beziehung zu einer Figur namens Schlächter, die von sich nicht als Ich sprechen kann und sich dadurch selbst verloren hat. Schlächter weiß nicht, wer er ist, eine offenbar zutiefst traumatisierte Figur, die ich als dissoziativ gespalten lese. Schlächters grausame Morde werden geschildert, gleichzeitig wendet sich Wong ihm sehr intim und freundlich zu, was er erwidern kann. So wird eine sehr weiche und anrührende Seite von ihm sichtbar. Die wachsende Beziehung zwischen beiden, die ich als Darstellung einer Traumaheilung verstehe, hat mich tief berührt. Und sie ist es auch, die am Ende einen Ausweg ermöglicht. So ist „Babel-17” nicht nur ein Buch über Sprache und die Suche nach Verständigung, sondern auch eine Geschichte über das Bemühung um Begegnung und Verstehen.
Delany findet eine sehr eigene Sprache, die experimentell ist und die man sich erarbeiten muss und die sich teilweise auch im Buchsatz niederschlägt. So sind die Sequenzen, in denen Wong in Babel-17 denkt, an einer Stelle im Buch in kursiven Schriftblöcken gedruckt, die das äußere Geschehen beschreiben, während ihre Wahrnehmungen um die Blöcke herumfließen. Durch das Fehlen von Punkten muss ich mich beim Lesen entscheiden, zwischen beiden Texten hin und her zu springen, und erlebte so jene Gleichzeitigkeit, die auch Wongs Empfinden in dieser Zeit beherrscht. Inklusive der anzunehmenden Überforderung.
Jedem Kapitel sind fiktive Gedichte von Wong vorangestellt. Manche davon entzogen sich meinem Verständnis, andere erleichterten es mir, die nachfolgenden Kapitel zu verstehen. Immer wieder gab es Abschnitte des Buches, die sich mir erst im Nachhinein oder gar nicht erschlossen.
Grandios ist auch der Weltenbau. Delanys Universum weist neun verschiedene Spezies auf, aber diese begegnen einander fast nie „Weil die Kompatibilitätsfaktoren für eine Kommunikation so unglaublich niedrig sind.” Daher ist eine Übersetzung von einer Sprache in die andere fast unmöglich und enorm zeitraubend, denn alles muss in das jeweils andere Referenzsystem übertragen und in diesem erklärt werden. Delany hat nicht nur sehr fantasievolle Aliens entwickelt (die im Buch nur einmal vorbeifliegen), sondern denkt sehr weit, was es eigentlich bedeutet, wenn der sprachliche und psychologische Referenzrahmen einer Spezies ein ganz anderer ist. Für und mit Schlächter, der durch die Implementation einer anderen, im wahrsten Sinne des Wortes außerirdischen Sprache, weder Ich noch Du denken oder sprechen kann, entwickelt Wong eine eigene Sprache, um mit ihm zu kommunizieren. Wir können diesem Prozess zusehen, was einerseits sehr berührend ist und mir andererseits beim Lesen fast das Gehirn verknotete.
„Babel-17” erschien erstmals 1966 und wurde 1994 vom (noch lebenden) Autor noch einmal bearbeitet, was dann Grundlage für die hier vorliegende Neuübersetzung war. Vor diesem Hintergrund ist es besonders bemerkenswert, wie modern der Roman an vielen Stellen daherkommt: da gibt es poly-amouröse Verbindungen, kleinwüchsige Menschen und ethnisch diverse Charaktere. Möglicherweise hängt das mit Delanys Reflexion seiner eigenen Position als schwuler (oder bisexueller) Afro-Amerikanischer Autor zusammen. Geärgert habe ich mich über die wiederholte Entwertung mehrgewichtiger Personen und die häufige Benennung des Aussehens bei Frauen. Fast alle beschriebenen Frauen sind schön, es sei denn, sie sind unympathisch, dann werden sie als hässlich (und dick) beschrieben.
Fazit: Babel-17 ist ein sehr eigenes Buch, in dem Sprache, Satz und Inhalt zu einem unglaublich dichten Gesamtkunstwerk zusammen fließen. Es eignet sich nicht als Lektüre für Zwischendurch. Als Leser*in musste ich mir dafür Zeit nehmen und mir den Text mit Mühe erarbeiten. Wer sich darauf einlässt, wird aber unglaublich reich beschenkt.
Unterhaltung: 2 von 3
Sprache/Stil: 3 von 3
Spannung: 2 von 3
Charaktere/Beziehungen: 3 von 3
Originalität: 3 von 3
Tiefe der Thematik: 3 von 3
Weltenbau: 2,5 von 3
Gesamt: 18,5 von 21