René Moreau, Hans Jürgen Kugler und Heinz Wipperfürth (Hrsg.): Exodus 48. 06 / 2024
enttäuschend mit einigen Perlen
Christian Endres: Wichtig ist nur, was die Leute glauben
Eine sympathische und handwerklich gut gemachte Erzählstimme nimmt uns mit auf ihren Job als Fahrradkurierin. Wie häufig bei Endres entwickelt sich das zur rasanten Geschichte inklusive Schießerei und Verfolgungsjagd. Ich habe das gern gelesen und es war unterhaltsam, allerdings wird die Hauptfigur für mich wenig plastisch und das Ende wirkt zu gewollt. Als sei der restliche Text nur dazu da, dieses Ende vorzubereiten. Dieses wirft einen kritischen Blick auf unsere Jetztzeit, ist aber auch zu vorhersehbar, um wirklich spannend zu sein. Ein positiver Aspekt sind für mich die gekonnt eingeflochtenen Weltenbau-Elemente.
Wolf Welling: Der Zähler und der Monolith
Den Einstieg in diesen Text mochte ich: Die Hauptfigur, ein Mann mit Zählzwängen, soll das Verschwinden einer Menschenkolonie untersuchen. Dabei hilft ihm eine KI. Ich war sehr an „Athos 2643“ erinnert, allerdings nur kurz, denn „Der Zähler und der Monolith“ gleitet schnell in Infodump ab, was das Lesevergnügen dann doch sehr trübte. Außerdem ist das Ende sehr vorhersehbar. Dass die Hauptfigur „geheilt“ wird, hat mich geärgert, widerspricht sie doch zu Beginn des Textes der Idee von Heilung ausdrücklich: Er mag seine Zwänge und will sie behalten. Sie ihm dann doch zu nehmen, ist übergriffiger Saneismus. Darüber hinaus bleibt das Ende zu vage, um mich zu befriedigen.
Roland Grohs: Geisterbahn
Auch wenn der Text auf mich sprachlich wenig ausgefeilt wirkt, beginnt er mit einem interessanten Thema: Jemand erhält einen neuen Körper; nur der Kopf ist der alte. Das wird horrorähnlich beschrieben, allerdings so distanziert, dass es mich völlig kalt lässt. Der behandelnde Arzt fährt die Hauptfigur im Rollstuhl herum und führt verschiedene Patient*innen vor, die dem ableistischen Blick des Arztes und seines Patienten ausgesetzt werden.
Das Begaffen und Sich-lustig-Machen als entstellt gelabelter Körper setzt eine unschöne und entmenschlichende Tradition fort. Hinzu kommt sexistische Diskriminierung, wenn die weiblich gelesenen Körper auch nach Schönheit beurteilt werden. Dem Text fehlt ein überzeugendes Ende, er hört einfach irgendwo auf.
Michael Schneiberg: Das weiße Zelt
Aus der Sicht eines Jungen im Grundschulalter erleben wir eine Pandemie, die ihm alles nimmt: zuerst die Schwester und den Schulalltag, aber natürlich endet es nicht dort.
Der Text greift einige Corona-Elemente auf und bekommt dadurch eine sehr dichte Unmittelbarkeit, seine große Stärke sehe ich aber in der überzeugenden Figurennähe: Das magische Denken des Jungen, seine Versuche, sich die Welt zu erschließen, lassen mich tief eintauchen, die mäandernde Erzählweise, die sich chronologischem Erzählen verweigert, bringen mir sein Denken und Fühlen nahe. Der Text könnte anfangs im Hier und Jetzt spielen, gleitet aber immer mehr ins Fantastische ab. Wirklich als SF kann ich das nicht lesen, weil mir dazu eine Zukunftskomponente fehlt, die über eine unbekannte Pandemie hinausgeht, aber ansonsten ist das ganz großes Kino.
Yvonne Tunnat: Besuch für die Astronautin
In einem Pflegeheim bekommt eine ehemalige Astronautin Besuch. Eine Pflegerin mag die Frau sehr und möchte herausfinden, wer da zu Besuch ist, und wir folgen ihr und erleben eine kleine Szene zwischen Besucherin und der Alten, bei der mit beeindruckender Beobachtungsgabe schöne Details geschildert werden.
Ich mag die Sprache dieses Textes und die kleinen Beobachtungen – besonders der immer im Weg stehende Olivenbaum hat es mir angetan – aber mir wird hier zu viel in der Schwebe gelassen bzw. nur angedeutet. Wer die Besucherin ist, habe ich erst verstanden, als es mir ein anderer Leser erklärt hat, dann ergibt es auch Sinn, dass die Besucherin die Perspektivträgerin für einen Bot hält. Nur mit diesem Wissen erschließt sich auch das Ende, das beim ersten Lesen an mir vorbei ging.
Uwe Hermann: Ein Stückchen Erinnerung
Jemand erwacht im Nichts und puzzelt sich langsam die Situation zusammen. Leider wirkt das auf mich arg gekünstelt und ich bekomme das Gefühl, dass die Figur all die Dinge nur aktiv erinnert, um sie mir vorführen zu können. Er treibt, so wird deutlich, allein im All. Als ihn endlich jemand anfunkt, entsteht ein Gespräch, das großenteils aus Infodump besteht und daher mein Interesse nicht wirklich wecken kann. Und natürlich weint nur die Kollegin, denn Männer tun so etwas bekanntlich nie.
Das Ende gibt dem Ganzen einen gemeinen Twist, konnte mich aber trotzdem nicht begeistern. Ich sehe hier ein riesiges Plotloch (Achtung Spoiler!): Wenn ein Antrieb ohne Außeneinwirkung explodiert ist, dann muss man doch eher baugleiche Antriebe untersuchen, um das Problem zu finden, und nicht einen Toten erwecken, der erklärtermaßen nichts über die Problemursache wissen kann. Oder geht es darum, ihn nach eventuellen Außeneinwirkungen zu befragen?
Galerie: Lothar Bauer
Wer hier über Bauer geschrieben hat, erfahre ich leider nicht. Inhaltlich wiederholt der Text Allgemeinplätze zur aktuellen KI-Debatte und bleibt dabei leider an der Oberfläche. Schade, da hätte ich mir mehr erwartet.
Die Bilder sind alle schön anzuschauen, allerdings fällt mir die Häufung weiblich gelesener Körper auf: ästhetische Gesichter und Brüste, Brüste, Brüste. Das Coverbild fügt noch eine Exotisierung mit Afrikabezug hinzu, von der ich nicht ganz weiß, was ich davon halten soll, zumal die gezeigte Person eher weiß wirkt.
Maria Orlovskaya: Slide Machine
Die Grundidee dieses Textes spricht mich an: Mithilfe einer Maschine können Menschen mit ihrem Alter-Ego in einem Paralleluniversum die Plätze tauschen; aber nur, wenn diese auch tauschen wollen.
Die Umsetzung lässt leider zu wünschen übrig, was meines Erachtens auch daran liegt, dass das Thema jede Menge Logikbrüche nahelegt, die schwer zu manövrieren sind. Hier entstanden für mich viele Inkonsistenzen, die mir die Lust an diesem flüssig geschriebenen Text mit seinen beeindruckenden Bildern nehmen. Außerdem bleiben alle Figuren sehr blass.
Jess ist unzufrieden mit ihrem Leben, weil sie meint, den falschen Mann geheiratet zu haben. Sie geht davon aus, dass dies in einem Paralleluniversum anders ist. (Warum?) Achtung Spoiler! Und tatsächlich, sie landet in Hollywood bei ihrem Star. Aber natürlich ist dort alles anders, ihre Freundin nicht ihre Freundin, der Geliebte nicht der Geliebte.
Ich finde Geschichten über Frauen, die natürlich nichts besseres zu tun haben als „Mr. Richtig“ zu heiraten, ohnehin nicht sehr ansprechend. Dass Jesse hier auch noch so wenig nachdenkt, dass sie das Offensichtliche übersieht, ist mir zu sehr an den Haaren herbeigezogen. Und: Was macht sie denn neben dieser Sehnsucht nach dem Star aus?
Das Ende des Textes bietet einen netten (wenn auch nicht neuen) Twist, allerdings finde ich, dass hier die Chance verspielt wurde, wirkliche Begegnung zu ermöglichen. Denn für eine Beziehung zu kämpfen, muss doch im ersten Schritt heißen, wirkliches Interesse für den Anderen aufzubringen.
Olaf Lahayne: 37er und 42er
In der Zukunft verpressen große Anlagen Kohlendioxid unter die Erde. Lilith, die Hauptfigur des Textes, arbeitet in so einer Anlage und bekommt einen neuen Chef. Achtung Spoiler: Aber dieser glaubt an Verschwörungstheorien und möchte die Anlage sabotieren. Natürlich hält sie ihn davon ab und ist dann so edel, ihm das Leben zu retten.
Der Text ist nicht nur vom Plot her schwach, sondern leidet auch unter handwerklichen Stilmängeln: hölzerne Dialoge voller Infodump, wenig ausgearbeitete Figuren und ein sehr vereinfachendes Verständnis der Klimakatastrophe und möglicher Lösungen. Ich habe streckenweise nur quergelesen, weil mich das so gelangweilt hat.
Scipio Rodenbücher: Wann treffen wir wieder zusamm’?
Ein Mann hat eine KI im Kopf, die ihm sagt, was er tun soll. Aber ist er überhaupt ein Mann? Und was ist eigentlich real?
Der Text ist sprachlich schön, irgendwann haben mich aber die sich selbst übertreffenden Bilder völlig abgehängt. Einen Plot konnte ich nicht erkennen, die Hauptfigur bleibt wenig fassbar. Nach einigem Querlesen, in dem für mich kein Plot auffindbar war, habe ich das abgebrochen. Die Illustration zeigt einen bekleideten Mann und eine nackte Roboterfrau. Dass ich solche Illustrationen nicht mehr sehen möchte, habe ich schon zur Genüge dargelegt ...
Volker Dornemann: 11 Sekunden (Micro-Story)
Wie so oft bei Dornemann wird hier keine Geschichte erzählt. Es handelt sich um einen fiktiven Werbespot für eine Dating-App für KIs, dem ich wenig abgewinnen kann.
Christian Hornstein: Grün
Sergej und SelFish wollen die Welt retten und dazu ein Virus unter die Menschen bringen, das diese verändert, sodass sie den Klimawandel wirklich eindämmen.
Die Idee, die Menschen besser zu machen, damit sie Probleme angehen, ist nicht neu. Die Frage, wie diese Menschen sein müssten, auch nicht. Hornstein hat dem Thema neue Aspekte abgerungen, indem er zwei sehr schnoddrige Figuren (von denen eine auch noch selfish heißt) zu Weltretter*innen erkoren hat. Hinzu kommt Pope, der auch nicht gerade Sympathiepunkte sammelt.
Leider kann mich der Text trotz der sprachlichen Finesse nicht wirklich packen. Mir ist die Schreibe zu gewollt, zu umständlich, die Figuren zu wenig fassbar. Auch sind viele Nebendinge scheinbar nur in den Text gequetscht, um Weltenbau zu zeigen oder Seitenhiebe auf die Jetztzeit zu verteilen. Die Handlung an sich ist recht übersichtlich und besteht fast nur aus Dialogen. Um mich zu packen, müssten sich hier die Erzählstimmen unterscheiden. Für mich klingen sie aber alle gleich. Das Ende ist offen und lässt mich mit der Frage stehen, ob das, was sie da vor haben, wohl eine gute Idee ist, denn natürlich weisen die veränderten Menschen andere Probleme auf. In seiner Bösartigkeit wirkt das auf mich wie ein Seitenhieb auf Menschen, die versuchen, etwas zu ändern. Auch nicht neu. Leider.
Uwe Post: Die drei Stigmata des lila Panda
Aus der Sicht eines KI-Kuscheltiers, eben jenes lila Pandas, erfahren wir, wie der Panda sich überflüssig fühlt und sein Kind verlässt, dem er Elternersatz sein soll. Die Geschichte ist von zynischem, bösartigem Humor durchdrungen, denn sie zeigt deutlich, wie wenig der Panda in der Lage ist, Menschen wirklich emotional zu lesen und zu begleiten. Natürlich kann er auch sich selbst kaum schützen und gerät in schwierige Situationen. Dazu passt der düstere Weltenbau, in dem nur noch wenige Menschen den persönlichen Kontakt zueinander suchen.
Das Ende, das hier nicht verraten werden soll, ist zwar unerwartet tröstlich, scheint aber genau darum nicht zum Rest des Textes zu passen. Insgesamt ist mir der Text zu düster. Ich mag es nicht, wenn Texte ihre eigenen Figuren nicht ernst nehmen und sich über sie lustig machen.
Marie Meier: Noah, der Hammer und der Gott in der Maschine
Eine Arche driftet durch das All, auf ihr ein Mensch und ein Roboter. So weit, so bekannt. Meier erzählt nachvollziehbar, wie Mensch und Roboter sich gegenseitig nerven und wie es dann zur Konflikteskalation kommt, wobei der Text die Perspektive des genervten Roboters wählt. Das ist ganz unterhaltsam, wirklich begeistern kann es mich aber nicht. Dabei gibt es einen interessanten Ansatz darin: Um Streit zu vermeiden, gibt es immer nur einen Menschen. Und aus irgendeinem Grund muss der immer männlich sein. Als eine Frau geboren wird, bringt das alles durcheinander. Warum? Was bedeutet das? Da wüsste ich gern mehr. Aber leider verrät uns die Autorin nichts darüber.
Comics
Wie so oft kann ich dem Comic von Kostas Koufogiorgos nichts abgewinnen (diesmal spricht mich nicht einmal die Zeichnung an). Die Steine-Comics von Volker Toons sprechen mich immerhin zu 50% an: Die Sache mit Stonehenge finde ich witzig.
Illustrationen
Bei der Exodus darf natürlich ein Wort zu den Illustrationen nicht fehlen. Diese sind wie immer sehr aufwändig, besonders angesprochen hat mich Dirk Bergers Bild zu „Das weiße Zelt“, das einen Jungen vor einem Zelt mit Bio-Hazard-Zeichen zeigt und wie eine Acrylmalerei wirkt. Der dunkle Zelteingang gibt die Bedrohlichkeit gut wieder. Ebenso mochte ich Frank G. Gerigks Illustration zu „Wichtig ist nur, was die Leute glauben“, die die Verfolgungsjagd zwischen Drohne und Fahrradfahrerin gut einfängt. Auch David Staeges Zeichnung des lila Pandas, die an eine Kinderbuchillustration erinnert, mag ich sehr. Geärgert habe ich mich über Mario Frankes Nackte bei „Wann treffen wir wieder zusamm’?“, ein Beispiel dafür, dass SF-Illustratoren gern Gründe finden, nackte feminin gelesene Körper zu zeigen – egal ob das zur Geschichte passt oder nicht.
Fazit
Dreizehn Geschichten, davon eine für mich richtig gute („Das weiße Zelt“) und drei unterhaltsame, die ich gern gelesen habe („Wichtig ist nur …“, „Besuch für die Astronautin“ und „Grün“). Kein besonders guter Schnitt, wird er doch durch einige Storys getrübt, die mich geärgert oder gelangweilt haben.
Auch bei der Diversität sieht es mau aus. Immerhin gibt es drei Autorinnen und fünf Geschichten mit weiblichen Hauptfiguren. Und drei Illustratorinnen. Das ist für Exodus-Verhältnisse schon richtig viel. Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankung kommen vor, aber nur um sie zu entwerten oder sich über sie lustig zu machen (bei Uwe Post und bei Roland Grohs) oder um gegen ihren Willen geheilt zu werden (Wolf Welling). BIPoC suche ich sowohl in der Autor*innenschaft als auch in den Figuren vergeblich, aber mit Maria Orlovskaya ist eine in Russland geborene Autorin vertreten.
Nach diesem für mich eher enttäuschenden Fazit verordne ich mir eine Exodus-Pause. Insbesondere der Umgang mit Krankheit und Behinderung ärgert mich zu sehr, als dass ich diese Zeitschrift weiter durch ein Abonnement unterstützen möchte.
kategoriale Einschätzung
Aufmachung 3 von 3
Unterhaltung 1,5 von 3
Textauswahl 1 von 3
Originalität 0,5 von 3
Diversität 1,5 von 3
Tiefe 1 von 3
Sonderpunkte für Illustrationen: 2 von 3
Gesamtfazit: 10 von 21 möglichen Punkten