Etece Buch (Hg.): Realitäten. 30 queere Stimmen
dicht, viel, berührend
Vorwort
Im Buchmarkt sind marginalisierte Stimmen nach wie vor unterrepräsentiert, die Verlagsgründer*innen wollen Raum für diese Texte schaffen. Die ausgewählten Beiträge sind Ergebnis einer offenen Ausschreibung mit großer Resonanz (ca. 400 Einsendungen).
Zum Kollektiv etece buch gehören: Alex Matheis, Diana Pauly, Franca Bohnenstengel, Henriette Magerstädt, Lea Fraider, Nadin Wildt und Nel Fraider. Ich gehe davon aus, dass sie die Herausgebenden des vorliegenden Buches sind, ganz klar wird dies aber nicht.
Samira El-Maawi: Entsicherung
Dieses Gedicht spielt mit Gedanken rund um Sicherheit: die, die so viel darüber sprechen, machen Räume für die, die sie als die Anderen bezeichnen, unsicher. Dem Text gelingt es, lyrisch und tiefsinnig zu sein. Grandios!
Cam Yildiz: Kuymak
Eine Person mit türkischen und deutschen Wurzeln berichtet in kurzen Szenen von der eigenen Familie und dem Weg als trans* Person. Yildiz denkt über eine Großcousine nach, die einerseits sehr nah und andererseits sehr fern erscheint, über den eigenen Weg und das, was denkbar ist. Mich hat das sehr berührt und angesprochen; Intersektionalität auf den Punkt gebracht.
Zoe* Steinsberger: Martina ist wunderbar. Über Flure, Räume und Stühle. Von Haltungen, Positionen und Plätzen. Eine Skizze vergeschlechtlichender Gewalt.
Anhand eigener Erfahrungen geht dye Autoryn der Frage nach, wie und warum das eigene Geschlecht mit Gewalt verknüpft ist. Die Erlebnisse von öffentlicher Gewalt ohne Widerspruch von „Freunden“ haben sich tief eingeschrieben und werden sehr berührend beschrieben. Die daraus abgeleitete Verknüpfung von Geschlecht und Gewalt, die sich nicht auf Transsein als Folge von Gewalt reduzieren lässt, wird nachvollziehbar beschrieben und regt zum Nachdenken an.
Karina Papp: Über-
Nach einem Umzug denkt die Autorin über Sprache und Liebe nach: Was lässt sich wie sagen? Und welche Vorstellungen von Liebe engen uns ein? Es geht um Polyamorie und das Unsagbare, um Verbundenheit und Suche. Obwohl ich das anregend fand, empfand ich den Text doch als spröde und nicht leicht zugänglich. Mir erschien er zu verkopft.
Juri Wasenmüller: Я Anfang Enden
Auf sehr berührende Art erzählt dieser Text davon, wie Sprache uns mehr oder weniger dazu zwingt, uns zu outen oder zu misgendern, hier anhand des Vergleichs von russisch und deutsch. Die Fragen: „Wie stelle ich mich vor? Kann ich es wagen, sichtbar zu sein?“, kennt wohl jede nichtbinäre Person.
Awista Gardi: Conjuring
Gedicht über die Sehnsucht nach Begleiter*innen, die sich manchmal nur unter den Toten finden lassen. Ja, auch das berührt.
Stephan Phin Spielhoff: Das Blaue Auge
Ein Klassenkamerad ist verschwunden und der Prota war in ihn verliebt. Der Text schildert auf flapsig-harte Weise das an vielen Stellen toxische anmutende Miteinander von Personen in dörflicher Umgebung, das Suchen ohne Suchen zu dürfen, die Sehnsucht nach jemandem, mit dem vielleicht eine homosexuelle Begegnung hätte möglich sein können. Mir fehlt in dem Text die Weichheit und Zugewandtheit – andererseits wird gerade durch dieses Fehlen eine nahe Schilderung bestimmter Umfelder möglich.
Lydia Kray: Ist Fett queer?
Die Autorin geht der Frage nach, wie die Gesellschaft mit fetten Körpern umgeht und was das für sie als Person bedeutet, die lesbisch und fett ist. IIntellektuell anregend und berührend stellt Krays Text ausgiebig dar, wie selbst ansonsten reflektierte Menschen daran festhalten, dicke Körper abzulehnen und zu entwerten und so zu tun, als sei es eine Wahl, dick zu sein.
Sophie Jossie-Silverstein: Jewdar
Als lesbische Jüdin hat Jossie-Silverstein das Gefühl, nie wirklich dazuzugehören. Schon von Kind auf hat sie gelernt, nach Verbündeten zu suchen, gleichzeitig ist sie sich ihrer Privilegien als weiße Frau bewusst – die mitunter zu verführerischen Situationen auf Kosten anderer führen. Sehr berührend und anregend. (Ja ich weiß, dass schreibe ich bei dieser Rezension dauernd, aber so geht es mir hier.)
Beinir Bergsson: Ohne Titel
Dieses Gedicht ist in zwei Sprachen abgedruckt: faröisch und deutsch. Ich lese es als einen Tagtraum, der von starken Bildern lebt.
Irina Nekrasov/a: Welche Haarfarbe hat Geschlecht
Der Titel benennt bereits gut, worin es in diesem Text geht: Um die geschlechtliche Zuschreibung von Körpern, Kleidung, Verhalten – eigentlich allen Lebensäußerungen und die Schwierigkeit, sich darin jenseits binärer Kategorien zu verorten. Ja, auch darin habe ich mich sehr wiedererkannt.
Isabel Morgenstern: Suchbild
Anhand der beliebten „Finde-Den-Fehler“-Suchbilder lässt uns die Autorin in ihre Kindheit eintauchen, in das geübte Ausblenden gewisser Tatsachen und ihren Umgang damit, dass die Familie nicht in das traditionelle Familienmodell passte. Sehr feinfühlig lässt sich erahnen, wie Morgenstern sich selbst einen anderen, offeneren Umgang erarbeiten konnte – und was das für sie bedeutet.
Eser Aktay: Ibne
Dies sehr berührende biografische Erzählung ist in der Türkei angesiedelt. Auch hier geht es um das Wegsehen, um erlebte Gewalt, die öffentlich und unwidersprochen geschieht und gerade dadurch so schwer auszuhalten und so beschämend ist.
Friedrich Kloß: Menin
Ein Kind wird geboren und die Hebamme ruft aus: „ein … Mensch!“ An diesem Bild entlang untersucht der Text die Schwierigkeit, sich in ein unpassendes binäres System einordnen zu müssen, findet anhand wechselnder Pronomen und Perspektiven immer neue Antworten bzw. stellt den Mangel an Antworten heraus. Auch das hat mir gefallen.
Ahmed Sadkhan: Schwimmender Kater
Ein Gedicht-Brief oder ein Brief-Gedicht, Bilder und Worte für meist als widersprüchlich verortete Identitäten: religiös und queer, das geht sehr wohl zusammen. Danke für diesen Augenöffner!
Max Weiland: Sieben Tage
Anhand von Begebenheiten in Polen und Deutschland zeigt Weiland Freiheiten und Bedrohungen für queere Menschen auf und äußert Solidarität für queere Personen, die in Polen für ihre Rechte eintreten und dafür mitunter aus absurden Gründen mit Gefängnisstrafen belegt werden. Auch das hat mich sehr berührt – auch weil es zeigt, wie nah die Gefahren sind.
Jona Buchholz: Seiltanz
Ein sehr persönlicher Text über das Ringen darum, als nichtbinäre Person sichtbar zu sein, sich Erwartungen anzupassen – oder eben gerade nicht – ständig darüber nachdenken zu müssen, wie man einsortiert, gelesen, gegendert wird: „Ich balanciere mit Gesten, Körperwahrnehmung, Kleidung, Namen und Pronomen.“
Etaïnn zwer: zona nudista
Ein Gedicht in französisch und deutsch, kurz und vielschichtig.
Damoun: The Me in Them
In Briefform erfahren wir von den Schwierigkeiten, als in Teheran geborene queere Person in Deutschland anzukommen, immer fremd zu bleiben, von den beständigen Wunden, die das zufügt und aufreißt.
Chris Lily Kiermeier: Die Unsichtbaren
Behindert und genderqueer – geht das? Natürlich geht das. Diese biografische Erzählung zeigt Hürden und Schwierigkeiten, den Mangel an Räumen, Sichtbarkeit und Angeboten.
Elias M.: Marzahn
Dies ist der erste Text, der Klassimus ins Zentrum stellt: Jenen Klassismus, der dem Bezirk Marzahn gemeinhin unterstellt wird. M. stellt kämpferisch dar, dass Marzahn für queere migrantische Personen Heimat und Zuhause sein kann. Auffällig ist, dass dieser Text als erster Schreib- und Grammatikfehler enthält. Das passt zur Klassismus-Debatte, gleichzeitig bin ich unsicher, ob es gewollt ist.
Yasmin Abbas: Gabel
Bei der Familie zum Essen und das Gegenüber wertet queere Personen ab – was sage ich? Oute ich mich? Ungesagtes steht hier dick im Raum, Verbundenheit basiert auf Verleugnung, weil sie nur so möglich scheint.
Folke Brodersen: Über Scham – und den Wert, den wir uns zumessen. Ein Aufruf
Die erweiterte Abschrift einer Rede vom CSD in Göttingen 2021 fragt nach dem grundlegenden Gefühl der Scham für das eigene Sosein und setzt ihr nicht „pride“ sondern Selbstwert entgegen.
Lou Dietz: Andrea
Ich lese das als Liebesgedicht, aber darüber hinaus erreicht es mich nicht.
Tessa Hart: Hab ich doch gesagt
Dialoge reihen sich an Dialoge: ein Kind, das Geschlechternormen hinterfragt, das immer wieder als kompliziert, als falsch gelabelt wird – und das am Ende alles gesagt hat.
Katharina Scholz: Trocken
Karla outet sich vor ihrer Mutter als lesbisch und sucht in ihrem schwulen Vater vergeblich einen Verbündeten. Und dann bekommt sie noch ihre Mens und es sind keine Tampons im Haus … In diesem fiktiven Text wird anhand kurzer Szenen eine Geschichte erzählt, mit Spannungsbogen und allem drum und dran. Ich mochte die melancholische Stimmung, die Karlas Verzweiflung gut einfängt, besonders aber auch den positiven Twist am Ende.
Ani Koshka: lineare barbara
Ich denke, hier geht es um Wunschvorstellungen und Enttäuschungen, aber so richtig packt mich das nicht.
Raoul Berlin: Draußen vor der Tür, Pandemie Edition
Dieser wütende Text handelt vom Versuch, in queeren Spaces anzukommen und dabei immer wieder Rassismus zu erfahren. Der Text spricht Lesende direkt an und ruft dabei wahrscheinlich nicht nur in mir Abwehr hervor – die dann interessant zu untersuchen ist. Ich jedenfalls habe mich an der ein oder anderen Stelle ertappt.
Volja Viteska aus dem BKS von Marie Alpermann: Falls es nur geheim gehalten wurde
Die Abkürzung in der Überschrift habe ich recherchieren müssen – ich habe sie nicht eindeutig erschließen können, denke aber, dass es um bosnisch-kroatisch-serbisch geht. Inhaltlich geht es um eine migrantische Person, die bei der Verwaltung in Deutschland ihre Zugehörigkeit zur katholischen Kirche nicht angegeben hat, wodurch sie in ihrem Herkunftsort öffentlich aus der Kirche geworfen wird. Der Text lässt auf verschiedenen Ebenen ahnbar werden, was das für die Person bedeutet und welcher Schmerz damit verbunden ist.
Fazit: Dreißig Texte auf rund 170 Seiten, das ist viel. Die meisten Texte sind kurz und sehr dicht. Sie thematisieren verschiedene Aspekte von Identität und Queerness, geben fast immer intersektionale Perspektiven, laden zum Nachdenken ein, weisen auf Privilegien hin. Viele Texte sind kämpferisch, der Großteil autobiografisch, fast alle sehr berührend und nah. Sprachlich sind bis auf eine Ausnahme alle auf einem sehr hohen Niveau.
Als Einsteiger*innenbuch, um sich erstmals mit queeren Perspektiven auseinanderzusetzen, eignet sich diese Sammlung meines Erachtens nur bedingt, aber wer schon Einblicke ins Thema hat und Anregung oder Empowerment sucht, ist hier enorm gut bedient. Daher: unbedingte Leseempfehlung!
Aufmachung 2 von 3
Unterhaltung 1,5 von 3
Textauswahl 3 von 3
Originalität 3 von 3
Diversität 3 von 3
Tiefe 3 von 3
Gesamtfazit: 15,5 von 18 möglichen Punkten