Melanie Wylutzki, Hardy Kettlitz (Hg.) Das Science Fiction Jahr 2020. Hirnkost Verlag.

Ein Überblick, der die Augen öffnet und Lust auf mehr macht

SFJahr2020 fuersInternet 

Die Rezi von Yvonne Tunnat www.rezensionsnerdista.de hat mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht. Aber wie es oft so ist: Ich hatte erst einiges anderes zu tun, bevor ich zum Hirnkost-Shop spazierte. Und dann hatte ich plötzlich das Jahr 2020 auf der Festplatte – nicht 2019. Ich hatte verpeilt, dass inzwischen ein neues Science Fiction Jahr vergangen und damit veröffentlicht worden war und mein Abo beim aktuellen beginnt. Es hat sich gezeigt, dass der Zufall mir da goldrichtig in die Hände gespielt hat, denn das Schwerpunktthema beschäftigt mich gerade sehr. Aber später mehr dazu. 

 

Wieso habe ich das Buch gekauft? Ich wollte gern sehen, was im deutschsprachigen Science-Fiction-Bereich so läuft – um meine aktuelle Leseliste zu erweitern, aber auch um meine eigenen Werke besser einordnen zu können. Für diese Zwecke ist „ Das Science Fiction Jahr 2020“ gerade richtig, denn das Buch ist eine Mischung aus Nachschlagewerk und Almanach mit einigen Inhalten, die an gute Zeitschriften erinnern. Es enthält zahlreiche Artikel zum Thema Science Fiction, 2020 mit dem offiziellen Schwerpunkt „Gender, Queer, Diversity“. Daneben hatte ich den Eindruck, dass es einen (offenbar inoffiziellen) Schwerpunkt zum Thema Katastrophen gab. Mehrere Artikel beschäftigten sich mit der Frage, wie die in Science Fiction vorkommenden Katastrophen eingeteilt werden können und warum sich welche Katastrophen so großer Beliebtheit erfreuen, während andere gar nicht vorkommen. Daneben gibt es Artikel zu Afrofuturismus und chinesischer Science-Fiction.

Dabei beschäftigt sich das Science Fiction Jahr 2020 nicht nur mit SciFi-Lektüre, sondern auch mit Computerspielen, Comics, Graphic Novels und Filmen. Es wird also ein breiter Bereich abgedeckt, auch wenn der Schwerpunkt auf Literatur liegt.

Das Schwerpunktthema ist für meinen Geschmack sehr anregend abgehandelt. Die Artikel zum Thema Diversity waren für mich, die sich bislang immer wieder, aber nie wirklich in der Tiefe mit der Thematik beschäftigt hatte, an manchen Stellen ein Augenöffner. Und das, obwohl es in meinem Alltag eine große Rolle spielt. Ich möchte hier nicht zu allen Artikeln etwas schreiben, greife aber einige heraus.

Lena Richter gibt in „Queer Denken“ eine Menge Anregungen zum Thema. So fragt sie danach, ob die klassische Heldenreise nicht schon als Erzählstruktur partiarchale, kapitalistische und heteronormative Strukturen zementiert. Immer muss es Entwicklung geben und immer ist die Hauptfigur in der potenten Position, etwas bewegen zu können. Ich muss sagen, ich fühlte mich ertappt: Die Heldenreise geht von Gewissheiten und Privilegien aus, die marginalisierte Gruppen oft nicht haben, wie gesicherte Identität oder die Anerkennung des eigenen Status. Auch mein Verständnis von Entwicklung wurde durch den Artikel durchgeschüttelt: Ist Entwicklung wirklich immer möglich und eine gute Grundlage für eine Erzählung? Zu dem Thema werde ich sicher weiterlesen und Richter gibt dazu einige Anregungen: Sie benennt Beispiele für queere Erzählungen – von denen sicher einige rezensiert hier auftauchen werden.

Joachim Körber beschäftigt sich in seinem Beitrag „Wann ist ein Mann ein Mann“ mit feministischer Science Fiction. In seinem Artikel beschreibt er nicht nur einige Klassiker wie LeGuins „The Left Hand of Darkness“ und „Herland“ von Charlotte Perkins Gilman, die in meinem Regal schon länger vertreten sind, sondern auch einige (nicht unbedingt neu erschienene) Neuentdeckungen, die nun auf meiner Leseliste stehen.

Judith Vogt weist augenöffnend darauf hin, dass in SciFi Aliens zwar mitunter andere Geschlechter als männlich oder weiblich zugestanden werden, dies bei den Menschen der Zukunft aber nach wie vor oft nicht mitgedacht wird. So erscheint das Nicht-Binäre als das Fremde und nicht als menschliche Identität – obwohl man nicht in die Zukunft gehen muss, um nichtbinäre Menschen zu finden, es gibt sie und hat sie wohl immer schon gegeben. Vogt benennt sprachliche Schwierigkeiten und Anregungen zur Überwindung dieser Hürden um einen Identifikationsraum für nichtbinäre Menschen zu schaffen. Mir stellte sich hier wie so oft die Frage, wie und ob ich als (großenteils) binäre Person einen solchen Raum schaffen kann. Andererseits besteht ein großer Teil der SciFi aus Dingen, die nur meiner Fantasie entsprungen sind – warum dann also eine heteronormative Welt fortschreiben, unter der nicht nur ich heute leide? Die Artikel regen mich an, viele Ideen zu alternativen Lebensweisen, die bislang meiner inneren Zensorin oder frühen Probelesenden zum Opfer gefallen sind, nicht so leicht abzutun – vielleicht wären sie es wert, weiter ausgestaltet zu werden. Es leuchtet unmittelbar ein, dass, wenn queere Personen in SciFi nicht vorkommen, die jetzige Normalität fortgeschrieben wird. Warum sollte ich mir als SciFi-Autorin Cyborgs und künstliche Intelligenzen ausdenken, gleichzeitig aber davon ausgehen, dass zukünftige Menschen heutigen heteronormativen Denk- und Lebensmustern anhängen?

Bernhard Kempen beschäftigt sich mit der Frage, wie Übersetzungen aus dem Englischen Transgender-Themen mit berücksichtigen können: Im Englischen haben Substantive kein Geschlecht. Bei der Übersetzung ins Deutsche passiert es daher meist unwillkürlich, dass Personen gegendert werden – auch wenn sie es im Urtext nicht sind. Auch Neopronomen können nicht einfach übernommen werden.

Askin-Hayat Dogan fragt nach dem Vorkommen muslimischer Figuren in Mainstream-SciFi – angesichts meiner Erfahrungen in diesem Bereich wundert es mich nicht, dass es da nicht viel zu holen gibt. Leider. Er begibt sich auf die Suche nach muslimisch gelesenen Figuren in der Mainstream-SciFi, also im Wesentlichen in Filmen und Computerspielen. Seine Analyse macht eindringlich klar, dass die dem Genre oft zugeschriebene Offenheit und Buntheit eine Illusion ist. Mir fällt dabei auf, dass die heute vertretenen großen Religionen in der SciFi, die ich wahrgenommen habe, insgesamt keine Rolle zu spielen scheinen. Religion wird meist nicht, oder als ausgedachte Kulte gezeigt, die fremd und exotisch erscheinen.

Hartmut Kasper geht in seinem Artikel der Frage nach, wann und wie Frauen auf Perrry Rhodan – Covern auftauchen. Er vollzieht überzeugend nach, was bei mir dazu geführt hat, dass ich mich schon vor 25 Jahren von dieser Reihe abgewendet habe: Frauen kommen als zu Rettende vor, gelegentlich auch als überirdisch schöne Sexvamps. Aber als handelnde, den Männern gleichgestellte Personen? Fehlanzeige.

Einen großen Teil des Buches machen Rezensionen aus. Da sind zunächst die Rezis der 2020 erschienenen Sci-Fi-Romane, entweder deutschsprachig oder in deutscher Übersetzung. Leider wird sehr deutlich, dass die deutschsprachige SciFi wenig Neues zu bieten hat. Daneben werden Fach- und Sachbüchern zum Thema vorgestellt und einige Überblicksartikel gehen der Frage nach, welche Themen wie behandelt wurden und was im Comic, Filmsektor und Computerspielsektor so los war.

Am Abschluss sind Listen von den 2019 Verstorbenen (Autor*innen, Illustrator*innen aber auch Leute aus Film und Wissenschaft), Preisgewinnern 2019 und den in diesem Jahr erschienenen Büchern.

Insgesamt kann ich das „Das Science Fiction Jahr 2020“ empfehlen. Es las sich über weite Strecken locker weg und wer gern Rezensionen liest, wird reich beschenkt. Einziger Negativpunkt für mich: Es war eine Fehlentscheidung, das e-book zu kaufen, weil das Science Fiction Jahr die Sorte Buch ist, in der ich gern geblättert hätte. Außerdem entgehen mir so die im Print wahrscheinlich farbigen Abbildungen – mein Reader kann nur schwarz-weiß – was beim Thema Diversity doch doppelt schade ist.