Celeste Ng: Litte Fires Everywhere. Penguin Books.

 

Atmosphärisch dicht und spannend

 

Eine total durchgeplante Gesellschaft, in der es eine Strafe nach sich zieht, wenn ich vergesse, meinen Rasen zu mähen – für mich war klar, das ist ein fantastisches Werk. Dieser Eindruck hielt während des Lesens zunächst an: Der Ort und die Familie schienen mir zu überspitzt, um real zu sein. Aber nach und nach wurde die gezeichnete Welt dann immer realistischer.

Es gibt sie wirklich, Menschen, die es beruhigend finden, wenn alles durch Regeln gelöst zu sein scheint, wenn klar ist, was richtig und was falsch ist. Das Interview mit der Autorin am Ende des Buches bestätigt, dass sie in Shaker Heights, dem Ort an dem die Geschichte spielt, aufwuchs. Ich suchte sie um Netz und tatsächlich: Es gibt sie, die geplante Utopie. Mit hübschen Häusern, guten Schulen (was auch immer das heißen mag) und Müll, der unsichtbar von der Hausrückseite abgeholt wird. Der verliehene Preis für Familienfreundlichkeit bestätigt meine Vermutung, dass es Menschen gibt, die bereit sind, den Eintrittspreis für eine derartige Gemeinschaft zu zahlen. Manchmal ist die Realität so unglaublich, dass sie leicht für Fiktion gehalten werden kann.

Aber zurück zum Buch. Mit dem Einstieg hatte ich meine Mühe: Ein Haus brennt und eine der darin lebenden Personen hat es angezündet. Mehrere Personen schauen zu, wie die Feuerwehr den Brand löscht. Aber ich wusste nicht, wer wer ist und wie die zahlreichen Namen zusammengehören. Zum Glück änderte sich das recht bald, denn nach dem Eingangskapitel mit dem brennenden Haus wird der gesamte Rest der Geschichte großenteils chronologisch erzählt. Langsam puzzelte ich zusammen, wie die Personen zusammenhängen. Dabei nahm das Buch mehr und mehr Fahrt und Spannung auf, wobei sich verschiedene Geschichten zu einem Kaleidoskop verweben, dem ich mit viel Genuss gefolgt bin.

„Little Fires Everywhere“ ist ein zeitgenössisches Buch mit allwissendem Erzähler. Ich suchte zunächst nach einer Hauptperson und brauchte einige Seiten um zu begreifen, dass es keine gibt. Als das klar war, konnte ich das Buch genießen. Es werden die Geschichten zweier Familien erzählt: Die wohlhabenden und alles durchplanenden Richardsons mit vier jugendlichen Kindern im Jahresabstand, zwei Söhne und zwei Töchter. Und die nomadisch lebende Fotokünstlerin Mia mit ihrer ebenfalls jugendlichen Tochter Pearl, die die Wohnung der Richardsons mietet. Zu diesen acht Personen kommen weitere hinzu: Eine Kollegin Mias und eine befreundete Familie der Richardsons, die sich schließlich um ein Baby streiten. Dabei gelingt es Ng (sprich „ing“), US-amerikanische Tochter von Einwanderern aus Hongkong, nach dem für mich etwas holprigen Einstieg sehr gut, nach und nach ein Panorama auszubreiten, das mich als Leserin mehr und mehr gefangen hielt. Ich wurde immer gespannter, wie es schließlich dazu kommt, dass die jüngste Tochter der Richardsons nicht nur eins, sondern die titelgebenden vielen kleinen Feuer legt – und dass das scheinbar niemanden zu erstaunen scheint. Dabei ist das Buch auf angenehme Weise ein Pageturner.

Das Buch behandelt eine Menge wichtige Themen. Wer hat das Recht eine Mutter zu sein (Väter werden leider weitgehend ausgeblendet)? Können Fragen rund um race wirklich gelöst werden, indem so getan wird, als seien alle Menschen gleich? Und was passiert hinter den so perfekten Fassaden? Mich bewegte besonders die Frage nach der Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Ich war erstaunt über die scheinbar unhinterfragt autoritären Beziehungen im Buch, als könne (auch in der Schule) alles durch Strafe geregelt werden. Außerdem beschäftigte mich die Frage nach der Planbarkeit der Utopie, eine Frage, die mich auch in meinem aktuellen Romanprojekt umtreibt. Shaker Heights scheint die perfekte Wohnumgebung (viel zu perfekt für meinen Geschmack und sehr ähnlich meiner Kuppelstadt Eos) – gleichzeitig scheint der Ort aber sowohl real als auch im Buch ein einziges Konsumfest zu sein. Frei nach dem Motto: Wenn wir alle reich sind, können wir Hautfarben ausblenden. Ng macht klar, dass das nicht funktioniert und zeigt die Einsamkeit und Verlorenheit hinter den Fassaden.

Die Stärke des Buches liegt meines Erachtens einerseits in der dichten und dabei leicht lesbaren Sprache und in den zwischentonreichen Beschreibungen der Personen und ihrer Beziehungen. Besonders berührte mich das paternalistische Angebot von Mrs Richardson, ihre Mieterin Mia als Haushaltshilfe einzustellen. Die kleinen Anhaltspunkte für Macht und Entwertung, die in der Begegnung enthalten sind - wie ungut es sich anfühlen kann, Almosen angeboten zu bekommen, aber nicht die Chance zu haben, sie zurückzuweisen – all das ist sehr treffend dargestellt. Auch die Stimmungen in den beiden Familien empfinde ich als treffend und vielschichtig geschildert: Wie hinter der oberflächlichen Idylle der Richardsons die einzelnen Familienmitglieder beziehungslos nebeneinander her leben, wie es dazu kommt, dass Mrs Richardson ihre jüngste Tochter sadistisch behandelt und niemand in der Familie sich traut, dies zu benennen, wie Solidarität der Kinder untereinander nicht aufkommt, weil sie gar keine Option zu sein scheint. Dabei war ich über die angewandten Erziehungspraktiken erschrocken, die, so schien es, in der amerikanischen Kleinstadt der 1990er Jahre normal erschienen – auf mich aber grausam wirken. Mr Richardson sieht die schwierige Dynamik zwischen seiner Frau und seiner jüngsten Tochter, hat aber nicht genug Mumm und Verantwortungsgefühl, sich dafür zuständig zu fühlen und es zu benennen – eine Familienkonstellation die mir sehr bekannt vorkommt. Nach und nach verstehen Lesende auch, warum Mia und Pearl kein wirklicher Gegenentwurf dazu sein können, einander einerseits sehr nah sind, andererseits aber wie Getriebene erscheinen, zwischen denen ein unaussprechliches Geheimnis steht.

Ich habe nur zwei Dinge gefunden, die ich kritisierenswert finde: An einigen Stellen sind mir die Beziehungen zu festgesetzt, zu monolithisch, zu wenig ambivalent. Meist löst sich das später wieder auf, aber nicht immer. Insbesondere die beiden Männer erscheinen etwas farblos und uninteressant. Zweiter Punkt: Es gibt einige wenige Stellen, an denen die allwissende Erzählerin offen wertet. Ich finde, dass diese Bewertungen das Buch schwächer machen, die Handlungen der beschriebenen Personen entschuldigen – und das an Stellen, an denen ich als Leserin gern selbst entschieden hätte, ob ich das entschuldigen möchte oder nicht (meist wollte ich, anders als die Erzählerin, nicht). Trotzdem bleibt „Little Fires Everywhere“ eine klare Leseempfehlung, dessen Ende mich sehr berührt hat. Das Buch ist auch auf deutsch unter „Kleine Feuer überall“ erhältlich, ich habe es im englischen Original gelesen.