Michael Tinnefeld & Uli Bendick (Hg.), DIAGNOSE F. p.machinery

Enttäuschung oder Geschmackssache?

 Diagnose F Cover

Mit dieser Anthologie habe ich mich schwer getan. Und ich weiß immer noch nicht, ob es schlau ist, etwas darüber zu schreiben, denn ich sage es gleich vorweg: Mein Hauptgefühl nach der Lektüre ist Enttäuschung. Ich habe diese Anthologie sehnlich erwartet und mich geärgert, dass ich die Ausschreibung verschlafen habe: Eine Anthologie, die meine beiden Lieblingsthemen und Berufsfelder verbindet: psychische Störungen und Science Fiction. Das, so dachte ich, muss grandios werden!

Womit ich nicht gerechnet hatte: Natürlich habe ich einen sehr eigenen Geschmack und natürlich ist mein Blick auf diese beiden Themen auch von meinem Standpunkt geprägt. Zu diesem gehört es, dass ich nicht nur als genderqueere Person therapeutisch und schreibend arbeite, sondern dass ich den psychotherapeutischen Beruf ergriffen habe, nachdem ich in meiner Jugend selbst psychotherapeutische Hilfe gebraucht und als enorm hilfreich erfahren hatte. Ich lese also nicht nur als Fachperson, sondern auch als Betroffene. Ein wichtiges Augenmerk für mich ist daher Entstigmatisierung. Was ich erwartete, waren Geschichten mit psychisch erkrankten Hauptfiguren, die mit, trotz oder wegen ihrer Störungen Probleme lösen. Ich nahm an, es gäbe Handlungen, bei denen die Diagnosen nicht zentral sind, und sich selbst ermächtigende Protagonist:innen. Ich wurde enttäuscht.

Nun ist es unfair, einem Buch vorzuwerfen, dass es meine Moralvorstellungen und meinen Geschmack nicht getroffen hat. Trotzdem ist dieser Text letztlich Ausdruck genau diesen Vorwurfs. Ich hoffe, dass er trotzdem lesenswert ist und es mir gelingt, einige der Klischees und Stigmata rund um psychische und psychiatrische Erkrankungen zu thematisieren. Und ich hoffe auch sehr, dass ich einmal die Möglichkeit haben werde, ein Projekt zu verwirklichen, das meinem Traum entspricht. Aber bis es soweit ist: Hier mein Senf zu „Diagnose F“.

Die Anthologie enthält 35 Kurzgeschichten, wobei manche Autor:innen mehrfach vertreten sind, wie beispielsweise Monika Niehaus, von der vier Texte enthalten sind. An jede Geschichte schließt sich ein diagnostischer Kommentar von Michael Tinnefeld an, ein Science-Fiction-Autor und verhaltenstherapeutisch tätiger Kollege mit dem Schwerpunkt Verkehrspsychologie und Sucht, wie seine Homepage verrät. Zwei Themen, von denen ich nur wenig Ahnung habe, und die sich sehr von meinen Arbeitsschwerpunkten unterscheiden.

Was ich gern gehabt hätte und erwartet habe (mein Problem, ich weiß), sind mutmachende Geschichten: Du kannst auch mit Depressionen oder Angststörung etwas erreichen. Weil das einfach stimmt. Die Geschichten, die hier versammelt sind, sind eher deprimierend und pathologisierend. Nicht wenige sind sehr klischeehaft und geradezu ableistisch, so wird beispielsweise mehrfach das Klischee des gefährlichen schizophrenen Menschen bemüht – ohne auch nur einen Hinweis in den diagnostischen Kommentaren, dass das statistisch gesehen nicht stimmt. Damit wird die ohnehin schon massive Ausgrenzung von an Schizophrenie Erkrankten befördert. Schizophrenie gehört zu den am meisten stigmatisierten Erkrankungen – da erwarte ich, dass, wenn es fachlich professionelle Kommentare dazu gibt, diese dem Stigma entgegen wirken und häufige Missverständnisse geraderücken. Das passiert in „Diagnose F“ zum Teil (die häufige Verwechselung von Schizophrenie mit der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) wird angesprochen und widerlegt), aber zum großen Teil eben auch nicht. An Schizophrenie Erkrankte sind zum allergrößten Teil keine Gefahr für andere Personen! Sie irritieren uns und das teilweise massiv, mehr aber auch nicht.

Zudem gibt es nur einen einzigen Text, in dem die weniger schillernde Negativsymptomatik bei Schizophrenie benannt wird (das, was wegfällt, im Gegensatz zu dem, was wahnhaft zum „gesunden“ Erleben hinzukommt). Es ist der Kommentar zu „Bürger 39“: Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, emotionale Flachheit, mimische Starrheit (im Fachjargon: reduzierte Psychomotorik), kognitive Einschränkungen im Sinne eines verarmten, einfallslosen Denkens – das ist symptomatisch nicht selten das, was eine lange bestehende, chronifizierte Schizophrenie ausmacht. Angesichts der zahlreichen diagnostischen Kommentare zum Thema ist es ein großes Manko, dass diese Symptomatik nur in einem Kommentar, dort nur teilweise und in nur einer Geschichte (ebenfalls teilweise) vorkommt. Desweiteren wird in „Diagnose F“ den verschiedenen Typen der Schizophrenie nicht wirklich Rechnung getragen, obwohl ein großer Teil der Texte (scheinbar) von Psychosen handelt. Eine Menge Relativierungen stelle hier ich an. Ihr werdet noch verstehen, warum.

Was mir außerdem an der Anthologie sauer aufstößt: Marginalisierung aufgrund von psychischer Krankheit ist in den Texten und in den Kommentaren nicht nur nicht Thema, sondern wird implizit betrieben. Viele der Texte begegnen den Erkrankten nicht auf Augenhöhe, sondern berichten über sie, nicht wenige scheinen sich über sie lustig zu machen.

Dazu ist Vieles schlecht recherchiert, Störungen werden durcheinander geworfen, Ärzt:innen und Psycholog:innen verwechselt, Behandlungsmethoden und Orte falsch beschrieben. Erstaunt war ich ebenfalls über den hohen Anteil meiner subjektiven Meinung nach stilistisch unausgereifter Texte: da gab es häufig hölzerne Dialoge, steppende Erklärbären, aufsatzhaft wirkende Nacherzählungen von Dingen, die passieren – von einer professionell lektorierten Anthologie hatte ich wesentlich mehr erwartet. Hinzu kommt, dass viele der Texte Horror- und Thrillerelemente enthalten, was einerseits nicht meinem Geschmack entspricht, andererseits aber dem Klischee des „gefährlichen Geisteskranken“ zu sehr entspricht. Es lässt sich also zusammenfassen, dass ich meines Erachtens den fundierten Vorwurf des Saneismus erheben kann.

Ich habe überlegt, wie ich nun damit umgehe. Ich liebe Kurzgeschichten und möchte ihnen gern Raum geben. Und ich weiß, wie schwer es ist, eine gute Kurzgeschichte zu schreiben. Eine, die unterhaltsam ist und Tiefe hat, die die Lesenden mit einer Frage zurücklässt oder einer Anregung, die sie in den Tag mitnehmen können. Und wenn Schreibende es dabei auch noch hinbekommen sollen, keine Klischees zu reproduzieren, dann liegt die Messlatte hoch. Ist mir klar, ich tauche regelmäßig mehr oder weniger galant darunter hindurch. Aber einfach schweigen? Auch nicht mein Stil.

Obwohl ich 30 von 35 Texten kritisiere habe ich mich dazu entschieden, eine Rezension zu veröffentlichen, einfach weil so meine Kritik an dem Band nachvollziehbarer wird und vielleicht der ein oder andere Denkanstoß gelingt. Und letztlich ist es ja doch alles recht subjektiv (vor allem was Stil und Plotfragen angeht), wer Horror mag, wird an der Anthologie wahrscheinlich Freude haben. Meine folgenden Kritiken sind auf die literarischen Texte bezogen, die diagnostischen Kommentare erwähne ich nur am Rand. Gelegentlich gibt es einen Spoiler.

Und damit ich nicht nur meckere: Meine persönlichen Highlights in dieser Anthologie sind:

Michael Knabe: Elektrokrampftherapie,

Markus Regler: Ausgefallen,

Lea Baumgart: KISS,

Aiki Mira: Game Over & Out.

Uli Bendick: Virtul

Das sind zwei ineinander verschränkte Geschichten: Das, was ein Mann in einer virtuellen Spielwelt erlebt (klassisches Fantasy-Rollenspielsetting und Dungeon-Crawling mit Magie) und das, was in der realen Welt mit ihm passiert: Er wird von seinem Vermieter halb verdurstet gefunden. Im Krankenhaus ringt man um sein Leben und entscheidet sich schließlich dazu, eine KI in seine virtuelle Spielwelt zu schicken, um ihn zu retten. Ob das gelingt, bleibt offen.

Der Schreibstil dieses Textes war für mich in Ordnung, eine Schwäche sehe ich aber im Infodump und im angedeuteten Weltenbau, der für mich nicht ausreichend konsistent ist. Den Dialogen merkt man zu sehr an, dass sie nur dazu da sind, um mir als lesender Person etwas zu vermitteln. Da hätte ich mir eine elegantere Lösung gewünscht.

Monika Niehaus: Der Fall Häwelmann

Dieser Text konnte mein Interesse nicht recht wecken. Er ist inhaltlich absurd und schien mir nicht durchdacht. Außerdem ist es keine Science-Fiction. Das trifft auf einige der Texte in diesem Band zu: Obwohl als SF-Anthologie präsentiert, sind einige Texte einhalten, in der es nur im Wahn SF-Elemente gibt. In „Der Fall Häwelmann“ fühlt sich jemand vom Mond verfolgt, aber ein in sich stimmiges Wahnsystem wird nicht präsentiert. Wahrscheinlich habe ich den Text nicht begriffen, weil ich das Märchen, auf das er sich bezieht, nicht gut kenne.

Isabell Hemmrich: Ein ganz normaler Tag

Eine Person wurde von Außerirdischen entführt und hat davon nun nächtliche Albträume, von denen sie glaubt, niemandem erzählen zu können, was aber nicht nachvollziehbar wird. Der Text enthält differenzierte Gewaltschilderungen und Flashbacks, daher bin ich ausgestiegen.

Michael Knabe: Elektrokrampftherapie

Hier gibt es gleich zwei Diagnose-Träger:innen: Einen zwanghaften Roboter und seinen narzisstischen Oberarzt, der die Assistenzärztin fertig machen will und sich dabei selbst ein Bein stellt. Unterhaltsam und gut geschrieben, mit einem schönen Twist am Ende.

Markus Regler: Ausgefallen

Eine Frau hat einen Internetchip implantiert, der ausfällt und Halluzinationen macht. Aber die Ärzte, die ihr helfen sollen, machen ihr Angst. Es handelt sich um eine Story mit Horrorelementen, gut geschrieben und beklemmend, weil man nicht weiß, was real ist und was nicht. Leider kommt dieses Element in der Anthologie so häufig vor, dass die späteren Texte, die damit arbeiten, mich nicht mehr begeistern konnten, weil es sich doch abnutzt.

Lea Baumgart: KISS

Eine Hausüberwachungsanlage wird paranoid und steckt den Besitzer des Hauses an. Diesen Text mochte ich sprachlich sehr und den Twist am Ende mochte ich auch. Daher ist das mein Highlight in dieser Anthologie, wenn dem Text auch für einie perfekte Kurzgeschichte die Tiefe fehlt.

Friedhelm Schneidewind: Symphonie des Glücks

Ein ehemaliger Dirigent wird wegen einer Erkrankung in einen neuen Körper verpflanzt. Dort dirigiert er nun die Maschinen in der Müllaufbereitung. Der Text ist als Reportage aufgemacht und ein einziger großer Infodump, gut lesbar, aber ohne wirkliche Spannung. Dass die behauptete Diagnose nicht passt, wird zwar im diagnostischen Kommentar aufgegriffen (auch mich erinnerte die beschriebene Symptomatik an Chorea Huntington), aber für mich wird dadurch leider der gesamte Text hinfällig.

Ellen Norten: Ton in Ton

Eine Frau bemerkt, wie ihre Freundin immer zwanghafter wird. Dann erinnert sie sich an eine Begebenheit mit einem fahrenden Händler in der Kindheit, die die Verhaltensauffälligkeit möglicherweise verursacht hat. Hier kommen Horrorelemente ins Spiel, die für mich nicht recht Sinn ergeben und antiziganistische Rassismen reproduzieren. Der Rest der Geschichte ist zwar eindringlich und gut geschrieben, ich fand sie letztlich aber zu geradlinig und den Schluss daher nicht wirklich überraschend.

Achim Stößer: Die Partei hat immer recht

Ein Rebell wird zwangsbehandelt und ist danach intelligenzgemindert und happy. Für meinen Geschmack zu plakativ, wenn auch ganz gut dargestellt.

Martin Mächler: Dunkles Echo

Eine junge Frau erlebt Symptome einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS) und findet schließlich heraus, dass sie einen Chip mit einer anderen Person im Kopf hat. Der enthält ein gewalttätiges achtjähriges Mädchen, das dann einen Mordversucht unternimmt.

Diesen Text habe ich nach der Hälfte nur noch überflogen, weil er so gar nicht meinem Geschmack entsprach. Sprachlich enthält er leider viele unbeholfen und hölzern wirkende Dialoge voller Infodump, wobei der Sprachstil kitschig und etwas naiv wirkt. Hinzu kommt, dass das Kind auf dem Chip keine nachvollziehbare Persönlichkeit hat und der Behandler ein Arzt ist, der vorher als Psychologe tätig war – was in Deutschland zwar ginge, aber nur mit einem Studium zwischendrin, da das zwei ziemlich verschiedene Berufe sind.

Mein Hauptproblem ist aber das klischeehafte Bild von DIS. Der diagnostische Kommentar macht die Sache hier leider nicht besser: Er beschreibt zwar sehr knapp eine mögliche Therapiemethode, geht aber nicht darauf ein, wie hanebüchen der Plot und die Darstellung der betroffenen Person sind. Nicht zuletzt leidet die Frau in der Geschichte nicht unter einer DIS, denn sie hat einen Chip mit einer zweiten Persönlichkeit im Kopf und keine psychische Störung.

Markus K. Korb: Ghostwriter

Ein Autor kauft sich ein Programm, das über einen Gehirnchip automatisch seine Geschichten schreibt. Aber dieses Programm beginnt, ihn zu beeinflussen. Schließlich wird er zur Gefahr für seine Mitmenschen.

Wieder eine Horrorgeschichte, die das Klischee des gefährlichen Psychotikers bedient. Wie die Beeinflussung passiert, bleibt mehr als vage.. Stilistisch wird leider viel erklärt, was bereits gezeigt wurde.

Hans Jürgen Kugler: Im Garten der Lüste

Hieronymus Bosch wird von einem Zeitreisenden besucht, der ihm sein berühmtestes Bild zeigt, das Bosch dann nachmalt. Nebenbei ist Bosch drogensüchtig. Der Text lebt von ausufernden Bildbeschreibungen und beinhaltet kaum Handlung. Ich fand den Text langweilig, allerdings gestehe ich, dass Beschreibungen einfach nicht mein Ding sind.

Martin Ingenhoven: Die Leben des Gian Lee Schmitt

Aus drei Perspektiven wird gezeigt, wie auf einer Raumstation ein Zusammenstoß mit Meteoriten verhindert wird. Die drei Perspektiven bringen dabei für mich mehr Verwirrung als Vorteil, ich hatte arge Mühe, zusammenzupuzzeln, was passiert. Inhaltlich verstehe ich nicht, wie auf einem Gasriesen Erz abgebaut wird, das ist meines Erachtens ein Fehler im Weltenbau.

Das größte Manko des Textes ist für mich jedoch, dass die Inselbegabung und PTSD des Protagonisten uns erklärt und nicht in Aktion gezeigt wird. Die Idee, dass er Möglichkeiten bekommt, die es ihm ermöglichen, sich einzubringen, mochte ich sehr gern und da er auch eine eigene Perspektive hat, wäre eine Innensicht möglich gewesen. Da ist eine literarische Möglichkeit meiner Meinung nach verschenkt worden.

Ein weiteres Manko liegt für mich in der klischeegetriebenen Rollenbverteilung: Es gibt vier handelnde Personen, zwei Frauen, zwei Männer. Natürlich sind die Frauen die, die keine Ahnung haben und körperliche Schwäche zeigen, während die beiden Männer die Situation retten. Same old, same old ...

Monika Niehaus: Das verrückteste Ding im ganzen Universum

Drei Männer treffen sich zum Pokern und einer erzählt, wie er einen Feind aufgrund dessen neurologischer Erkrankung loswerden konnte. Die Geschichte ist ganz unterhaltsam, aber die Rahmenhandlung nimmt der Sache unnötig Spannung und baut auch zu viel Distanz auf. Ich verstehe nicht, warum Niehaus uns nicht die Begebenheit direkt erzählt, anstatt uns bei einem Bargespräch danach daran teilhaben zu lassen.

Nora Hein: Bürger 39

Die letzten Überlebenden der Erde sind in ihren Wohnungen verschanzt, wo sie unter Einsamkeit leiden. Bis Bürger 39 endlich ausbricht. Das ist einer der besseren Texte in dieser Anthologie, es wird recht gekonnt Atmosphäre aufgebaut. Ich finde aber, dass zu viel erklärt, anstatt gezeigt wird. Das Ende ist dann leider nicht überraschend.

Alexandra Maibach: Monster

Ein Psychotherapeut hat zahlreiche Patient:innen in den Selbstmord getrieben. In einem Interview will er erklären, warum.

Das ist einer der Texte, die ich mochte: Der Prota kommt mir recht nahe und ich kann sein Unbehagen mit der neuen Behandlungstechnik, die die Symptome einfach wegmacht und das Hirn umprogrammiert, nachvollziehen. Leider wirkt der Prota zum Schluss nur noch abgedreht, was ich verschenkt finde, da der Text es meines Erachtens hergegeben hätte, dass offen bleibt, wer hier eigentlich verrückt ist.

Anna-Lina Groller: Al

Ein naiv-dümmlich wirkender Alien erzählt, dass seine menschliche Freundin sich Sorgen um ihn mache, weshalb er eine Therapie beginnt. Dabei bekommt er Diagnosen verpasst, obwohl er keinen Leidensdruck hat und völlig klar ist, dass menschliche Diagnosesysteme auf ihn nicht passen können, was aber nicht einmal im Ansatz thematisiert wird. Zudem wird angenommen, Kontaktlosigkeit zu seinen Eltern mache ihn krank – ohne dass erhoben wurde, wie er zu diesen steht und was diesbezüglich sein kultureller Hintergrund ist.

Ich lese den Text als Parodie auf Eurozentrismus und die Art, wie wir amerikanische und europäische Diagnosesysteme Menschen überstülpen, für die sie gar nicht passen. Leider kann man den Text aber auch so lesen, als sei das völlig problemlos.

Lyakon: Update F60.5

Als ein Reinigungsroboter versehentlich ein Kind schreddert, entdeckt ein Marketingexperte, dass die Roboter doch im Krieg besser einzusetzen wären. Es beginnt ein Siegeszug der Robotikfirma, der damit endet, dass die Roboter Kriege als ineffizient beenden. Das ist eine amüsante Geschichte mit einem witzigem Twist am Ende. Allerdings ist die Diagnose (F60.5, Zwangsstörung) eher an den Haaren herbeigezogen, weil sie auf die Roboter nicht wirklich zutrifft.

Gerhard Huber: Vielen Dank für die Blumen

Ein zwanghafter in-vitro-Arbeiter beruhigt sich aus Angst vor seinem bevorstehenden Tod mit Zwangsritualen. Das ist gut und eindringlich beschrieben, allerdings wird behauptet, die Person sei intelligenzgemindert, ohne dass dies gezeigt wird. Die im diagnostischen Kommentar gemachte Äußerung, er finde hoffentlich ohne Therapie aus den Zwängen, wirkt angesichts seiner Lebensumstände zynisch.

Marianne Labisch: Auszeit

Eine Zeit- und Weltreisende landet in der Zukunft, die ihre Vergangenheit ist, in der Psychiatrie. Diese Psychiatrie ist ein Gefängnis und bestätigt alle schlechten Psychiatrie-Klischees. Die Psychiaterin arbeitet mit Lügendetektoren und geht kriminalistisch vor, anstatt ihre Patientin zu behandeln. Stilistisch hatte ich mit dem Text meine Mühe, die wörtliche Rede der Prota ist in einer mit nicht geläufigen Mundart geschrieben. Ich fand es anstrengend zu lesen.

Monika Niehaus: Folie à deux

Ein Mann bringt die Frau um, die er gerade geheiratet hat und seine Haus-KI, die sich für seine Mutter hält, deckt ihn. Warum er das tut, bleibt völlig unklar. Gut geschrieben, aber vom Plot her ziemlich lückenhaft.

Janika Rehak: Ero(bo)tomanie

Ein Programmierer wird von einer Androidin aufgesucht, die möchte, dass er eine virtuelle Welt für sie erschafft. Er tut dies und setzt sich darin als ihren Geliebten ein. Die Folgen sind unerwartet.

Das ist meines Erachtens eine der besten Geschichten in diesem Buch: spannend, mit einem plastischen und mir nahen Protagonisten und einem unerwarteten Ende. Die behandelten Fragen sind leider mit einer Wertung des „Symptoms“ als Liebeswahn völlig negiert, in dem Text steckt viel mehr drin. Und leider wird das Klischee der gefährlichen psychisch Kranken wieder einmal bedient.

Rainer Schorm: Morgellons Krankheit und Ekboms Irrtum

Eine Psychiaterin wird von außerirdischen Parasiten befallen. Oder ist es nur ein Wahn? Dieser Text konnte mich weder sprachlich noch inhaltlich einfangen.

Andreas Müller: Doktor T.

Eine Frau fühlt sich von Androiden verfolgt und entdeckt dann in der Psychiatrie, dass sie selbst eine ist, was wirklich als überraschender Twist kommt. Aber: Wieder eine gefängnisartige Psychiatrie mit einer Ärztin, die wie eine Kommissarin wirkt. Und der Plot ist am Ende der Geschichte unlogisch.

Richtig geärgert hat mich der diagnostische Kommentar, der der Prota eine DIS anhängt, was die Geschichte nicht hergibt – wir wissen nicht, ob sie hätte wissen können, dass sie eine Androidin ist oder nicht. Wenn sie es hätte wissen können, wäre DIS nicht die naheliegendste Diagnose. Vor allem aber ergibt dann der gesamte Plot keinen Sinn: Wenn es kein Geheimnis ist, dass Androiden unter den Menschen leben, dann braucht sie nicht heimlich zu versuchen, das aufzudecken.

Das ist eine von den Geschichten, die ich an sich ganz gut finde, die aber in dieser Anthologie meines Erachtens ganz ungünstig gedeutet wird, so dass Horrorklischees von der Klapse, aus der man nie wieder auskommt, wiederbelebt werden.

Marina Clemmensen: Der Besuch

Eine Person besucht einen Freund, der in der Psychose versackt ist oder wirklich zeitreisen kann. Anfangs wird gut beschrieben, wie hilflos man in der Wohnung eines verwahrlosten Freundes herumstolpern kann. Leider gibt es parallel eine Person, mit der der Besucher kommuniziert und es bleibt völlig unklar, was das soll. Das macht die Geschichte für mich zunehmend verwirrend. Das Ende ist zwar überraschend, aber zu aufgesetzt.

Wolf Welling: Adam

Eine slapstickartige Horrorgeschichte um einen Arzt, der einen Toten, dem der halbe Kopf fehlt, wiederbeleben will. Ich konnte den Plot nicht nachvollziehen und fand den Text stilistisch unausgereift. Eine F-Diagnose kommt auch nicht vor, wie im diagnostischen Kommentar richtig dargestellt wird.

Maike Braun: Die Weisheiten des Prometheus

Recht unübersichtliche Geschichte um eine Person, die die Erinnerungen einer anderen einsammeln soll, um eine wahnhaft gewordene KI zu besänftigen. Vieles bleibt unverständlich, aber sprachlich ist der Text gut und die Art, wie man in die eingesammelten Erinnerungen eintaucht, mochte ich auch. Besonders mochte ich das Vorkommen des Spinnenmannes Ananse, der in der ghanaischen Fabelwelt beliebt ist. Die vergebenen Diagnosen sind allerdings nicht gut recherchiert.

Anna Kügler: Der freie Wille

Eine drogensüchtige Person kommt in eine Klinik und findet alles scheiße. Aber im Gespräch mit einer Androidin kann sie eine andere Perspektive finden.

Inhaltlich mochte ich diesen Text, es wird aber für meinen Geschmack zu viel erklärt und die Klinik ist unrealistisch dargestellt: Die Patientin wird völlig sich selbst überlassen, es gibt keinerlei tagesstrukturierendes Programm.

Gerry Rau: Basteleien

Ein Vater kauft auf einem Flohmarkt für seine nerdige Tochter einen Roboter. Es ist schön geschildert, wie diese ihn repariert und ich mochte auch die Schilderung der Vater-Tochter-Beziehung. Aber dann wird schnell klar, dass der Roboter ein Mörder ist. Zum Glück erwischt es nur die Katze. Das Ende ist wenig nachvollziehbar, auch die vergebene Diagnose der Paranoia wirkt auf mich sehr an den Haaren herbeigezogen.

Johann Seidl: Büchel

Die Erde ist von Außerirdischen besucht worden, die alle Menschen in die Psychose getrieben haben. Nur zwei bleiben normal: der intelligenzgeminderte Karl, der zu dumm für die psychotischen Induktionen ist (Saneismus lässt grüßen) und der Prota, der hochpotente Neuroleptika nimmt. Gemeinsam retten sie die Menschheit, wobei am Ende klar wird, dass das alles nur Wahn ist und Karl ein Pfleger, der dem Prota seine Tabletten unterjubelt. Der Text trifft leider gar nicht meinen Geschmack, es gibt stapelweise Tote und ein Feeling wie bei der Zombieapokalypse. Sprachlich wirkt er recht einfach und stellenweise hölzern, außerdem gibt es zu viele Erklärungen, die nicht in den Text eingebunden sind.

Aiki Mira: Game Over & Out

Dieser Text zog mich gleich in sich hinein. Er ist rein sprachlich ein eigenes Universum, das teilweise hermetisch bleibt, an anderen Stellen nur assoziativ erschlossen werden kann. In einem dystopischen Zukunftsberlin ist unklar, wer ein Mensch und wer ein Bot ist. Jemand arbeitet in einer Notaufnahme und bekommt Besuch von einem faszinierenden Wesen, wobei unklar ist, worum es sich eigentlich handelt. Mira entwickelt dabei eine eigene Sprache, die einerseits große Klasse ist, andererseits aber an vielen Stellen unverständlich bleibt. Eins meiner Highlights in dieser Anthologie!

Karin Leroch: Norma

Der Anfang des Textes hat mich gut hineingezogen: Eine Angestellte kümmert sich um Käfer, die beruhigende Musik machen, die die Menschen nutzen. Die Angestellte fühlt sich unwohl und ausgebeutet, genau wie die Käfer, die in einer Art Massentierhaltung verfrüht sterben. Leider lässt der Text nach dem Beginn stilistisch nach, es wird nur noch nacherzählt, was passiert, und das Ganze wird horrormäßig eklig. Das Ende ist zwar ganz schön, konnte mich aber nicht mehr einfangen.

Gard Spirlin: Berufliche Umorientierung

Eine androidische Sexarbeiterin ist unzufrieden. Bislang arbeitet sie als Sub, nun soll sie zum Dom umpogrammiert werden. Diese Lösung der Unzufriedenheit der Protagonistin wird präsentiert, bevor ich in die Geschichte hineingekommen bin. Mein Gefühl ist, dass der Behandler die Patientin nicht ansatzweise ernst nimmt. Die Geschichte endet damit, dass er plant, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, was der Übergriffigkeit die Krone aufsetzt. Dies wird im Kommentar auch problematisiert.

Monika Niehaus: Paranoia

Ein Roboter hat Paranoia – dabei stellt sich heraus, dass er eine reale Gefahr gesehen hat. Es gibt also gar keine psychische Störung. Leider besteht der Text großenteils aus recht hölzern wirkenden Dialogen. Das Ende ist dann folgerichtig und nicht wirklich überraschend.

Michael Tinnefeld: Narzissten-Selektion

Eine Person kontaktiert offenbar diverse Spezialist:innen, ohne dass ihr Anliegen klar wird. Der Text besteht zum großen Teil aus therapeutischen Gesprächen, die für mich unrealistisch scheinen und mein Interesse nicht wecken können. Pluspunkt ist ein überraschendes Ende.