Janna Ruth: Memories of Summer. Wer bist du ohne Vergangenheit. Moon Notes.

Einfühlsam und spannend

Cover Memories of SummerDer Einstieg in diesen Text ist mir leichtgefallen: Ich mochte die Sprache und die Art, wie mich Ruth gleich in den Text warf: Das erste Kapitel beginnt damit, wie der Protagonist Mika vor einem Schaufenster steht und das Objekt seiner Begierde, einen neuen Tablet-PC, bewundert. Dann geht er Erinnerungen spenden und trifft dort eine junge Frau, die eine ehemals sehr enge Freundin von ihm war (Lynn) – an die er sich aber nicht mehr erinnert. So ist das zentrale Konfliktfeld des Textes schon auf den ersten Seiten aufgemacht: Wie viel sind Erinnerungen wert?

Der Roman ist aus der Sicht von Mika geschrieben, der gerade dabei ist, erwachsen zu werden und seinen Schulabschluss macht. Eigentlich mag ich Texte im Präsens nicht, aber Mikas Erzählstimme hat mich so gut mitgenommen, dass ich ihm gern gefolgt bin. Mika scheint ein sozialer, etwas nerdiger, zugewandter Typ, der einerseits fast alles tut, um die neuesten Gadgets zu haben, andererseits aber auch sehr fürsorglich ist, wenn es um Freund:innen oder seine Familie geht. Das Ganze ist in einer etwas flapsigen, zu einem Jugendlichen passenden Sprache geschrieben, mit leicht kitschigen Einschüben, die ich Ruth verzeihen konnte, weil sie stets nur kurz sind (auch in diesem Text brechen einige Herzen – eine Formulierung, die ich eigentlich nicht mehr lesen möchte). Lynn, die zweite Hauptperson, wirkt von Anfang an weicher, aber sie ist auch ehrgeizig. Und sie ist depressiv, was gelungen beschrieben ist. Allerdings kommt ihre Therapeutin in dem Text nicht gut weg, was ich als Person des selben Faches natürlich schade finde.

Besonders berührt haben mich die Beschreibungen von sozialen Beziehungen: Wie Lynn und Mika sich langsam näher kommen ist plastisch und einfühlsam beschrieben, ebenso wie die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Mika und seinem Vater. Auch dabei, wie Mikas Familie immer ärmer wird und was das für ihre soziale Realität bedeutet ist Ruth eine einfühlsame und authentisch wirkende Schilderung gelungen. Was mir allerdings von Anfang an nicht eingeleuchtet hat, ist, warum es Mika so wenig stört, dass er massive Erinnerungslücken hat.

Die Erinnerungsübertragung ist das zentrale Science-Fiction-Element in „Memories of Summer“: In dieser Welt ist es möglich, Erinnerungen rein physisch in Form von Neuronen aus dem Gehirn zu übernehmen und anderen Personen zu implantieren. Das geschieht durch ein Loch im Schädel und soll bei den Personen, die positive Kindheitserinnerungen empfangen, Depressionen lindern.

Ich gebe zu, als Fachperson im Bereich Psychologie und Psychotherapie hat mich das nicht überzeugt. Einerseits ist der aktuelle Wissensstand, der mir bekannt ist, so, dass man Erinnerungen nicht einzelnen Neuronen(netzen) zuordnen kann. Andererseits sind zwar Kindheitserinnerungen für Depressionen wichtig, ich halte es fachlich und ethisch aber für äußerst fragwürdig, ob Depressionen behandelt werden können, indem man positive Erinnerungen überträgt. Diese Fragen macht Ruth in ihrem Buch auch auf, allerdings nicht in der Tiefe, die ich mir gewünscht hätte (was wahrscheinlich dann auch nicht mehr unterhaltsam gewesen wäre). Ich habe also beschlossen, mich auf das Konstrukt, das Ruth baut, einzulassen – dann konnte ich das Buch sehr genießen. Es ist spannend und entwickelt sich nach einem langsamen Einstieg ab der Mitte zum echten Pageturner, dann wird es actionreich und enthält natürlich auch eine Liebesgeschichte, deren Kitschfaktor für mich grenzwertig, aber noch okay war.

Natürlich habe ich trotzdem was zu meckern. Da ist einerseits das Cover: süßlich und ziemlich nichtssagend. Im Laden hätte ich nie danach gegriffen.

Und dann das Ende: Ich finde es zwar folgerichtig, aber etwas kitschig. Um nicht zu spoilern, gehe ich nicht ins Detail. Was ich sagen kann: Es ist Ruth meines Erachtens gelungen, den Text nicht nur auf der Story-Ebene zu Ende zu führen, sondern auch eine Aussage über den Wert von Erinnerungen zu machen. Daher kann ich auch verzeihen, dass das Ende einen Hang zum Kitsch hat.

Ein Kritik-Punkt allerdings bleibt nachhaltig: Es ergibt einfach keinen Sinn, dass Mika einer Hirn-OP unter unzureichenden hygienischen Bedingungen mehrfach zustimmt und die Personen in seinem Umfeld nur den Verlust der Erinnerungen beklagen – aber keine medizinische Gefahr sehen. Unsaubere Bedingungen werden mehrfach benannt, sie haben aber scheinbar keine nennenswerten Folgen und machen auch kaum jemandem Angst. Da ist meines Erachtens ein loser Faden, den Ruth nicht ausreichend verknüpft hat. Aber das ist auch der einzige, der mir aufgefallen ist. Alle anderen Fäden werden gekonnt aufgegriffen und zu einem überzeugenden Gesamtwerk verwebt. Ich kann für „Memories of Summer“ also eine klare Leseempfehlung aussprechen.