J.C. Vogt: Anarchie Déco. Fischer Tor

stimmungsvoll und spannend

9783596002214Um diesen Text bin ich eine Weile herumgeschlichen, bevor ich mich dafür entschieden habe, ihn zu lesen. Denn eigentlich bin ich kein Urban Fantasy Fan und befürchtete, das Ganze sei mir zu süßlich; ich erwartete Elfen und Zwerge und Klischees. Dann kam Yvonne Tunnat und meinte, das sei doch eigentlich Science Fiction – und was soll ich sagen? Ich gebe ihr Recht und bin froh, dass ich diesen Text gelesen habe. Er ist einer meiner Highlights im Jahrgang 2021.

Aber von vorn: Anarchie Deco spielt im Berlin der 1920er Jahre, die Zeit der Weimarer Republik, der erste Weltkrieg ist vorbei und die Nationalsozialisten beginnen, sichtbarer zu werden. Den Vögten gelingt es ganz meisterhaft, die Atmosphäre dieses Berlins einzufangen, die Armut, die dem Reichtum eines aufstrebenden Bürgertums gegenübersteht, die Freiheit in den Milieus der Tänzer:innen und Varietés, in denen mit Geschlecht gespielt werden kann und gleichzeitig die Bedrohung durch Menschen, die wollen, dass alles „seine Ordnung“ hat.

 

Hauptprotagonist:in ist die Nike, eine Physikstudentin, die nicht vor hat, mit dem Platz, der ihr als Frau zugewiesen wird, Vorlieb zu nehmen. Sie untersucht neuartige Phänomene, mit denen Belebtes versteinert und Unbelebtes lebendig werden kann – und auch, wenn im Buch dafür immer wieder der Begriff Magie fällt, ist deutlich, dass es sich um wissenschaftliche Phänomene handelt, die nur (noch) niemand versteht.

Als die ersten Straftaten mithilfe der neuen Phänomene begangen werden, wird Nike dazu verdonnert, der Polizei bei der Aufklärung der Straftaten zu helfen und bekommt ausgerechnet Sandor an die Seite gestellt, einen Prager Kunststudenten mit ungarischen Wurzeln, der aufgrund seiner Verbindungen zur anarchistischen Szene Konflikte mit der Prager Polizei hatte – und nun in Berlin mit der Polizei zusammenarbeiten soll, was ihm natürlich gar nicht naheliegt.

Den Vögten gelingt es nicht nur wunderbar, sprachlich zu glänzen, eigene Bilder zu zeichnen und dabei auch immer wieder Humor einzuflechten. Sie bekommen es auch hin, den Charakteren psychologische Tiefe zu geben und die Hintergründe unaufdringlich und doch eindringlich zu schildern: Nikes ägyptische Mutter, die sich mit Näharbeiten über Wasser hält, Sandors Suche nach einem politischen Ort für sich, die Vorliebe des Kriminalkommissars für Häkelarbeiten … Gleichzeitig entsteht ein hochspannender Text, der über weite Teile Krimicharakter hat und ein echter Pageturner ist.

Einige Schwächen gibt es für meinen Geschmack in der Mitte des Textes, in der es viel um sexuelle Identität und Liebe geht. Da ist für mich die nichtbinäre Identität von Nike und Georgette, mit der sie zusammenarbeitet, etwas zu sehr ausgewalzt und manches konkret benannt, was ich lieber indirekt verhandelt gesehen hätte. Es kann aber auch gut sein, dass das für viele cis Menschen anders ist – für mich war auch so schon klar, worum es geht. Nach meinem Geschmack hätte es die Sexszenen nicht gebraucht (obwohl die wundervoll vorsichtig und konsensuell sind!) und auch die Art der Schilderung der Beziehung zwischen Nike und Geogette hätte ich mir einerseits weniger ausführlich und andererseits mit etwas mehr Tiefe gewünscht. Hier verliert der Text an Tempo, welches er dann zum Ende hin aber schnell wieder aufnimmt (und dann für meinen Geschmack etwas zu rasant wird). Auch hat das Korrektorat hier immer mal wieder geschludert und es fehlen einige Wörter. Und dass auch die Vögte nicht drum herum kommen, ein Herz brechen zu lassen … das bricht wiederum mein Herz. Knacks.

Ich habe mich in der Textmitte auch immer mal wieder gefragt, ob der Text nicht doch etwas überfrachtet wird: Da geht es um Politik, geschlechliche und sexuelle Orientierung, um Antisemitismus und Klassismus – das alles ist gekonnt verwoben und trotzdem hatte ich das vage Gefühl, dass an manchen Stellen weniger vielleicht mehr gewesen wäre. Andererseits mochte ich gerade diese Themenvielfalt.

Und dann ist da noch das Ende. Es hat mich etwas enttäuscht. Ich bin nicht so der Fan von großen Showdowns und finde den großen Plan, der dann aufgedeckt wird, auch nicht ganz folgerichtig, die Motivation der Antagonist:innen nicht ganz durchdacht. Ja, es kracht gewaltig und einige Dinge dürfen in die Luft fliegen – aber ich hätte mir ein etwas ruhigeres Ende gewünscht. Alles in Allem bleibt der Text aber einer, den ich sehr schätze und den ich sicher nicht das letzte Mal gelesen habe. Klare Leseempfehlung von meiner Seite!