Rico Gehrke (Hg.): 7 Millionen Tage in der Zukunft. Verlag Moderne Phantastik Gehrke

 

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7 Millionen Tage in der Zukunft

 

 

Ich weiß, was ich mir in meinem Jahresrückblick zu 2021 vorgenommen habe: Fokus auf das Gelungene. Und nun schreibe ich hier einen kritischen Text. Denn: Diese Anthologie ist die schlechteste, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Ich habe mich richtiggehend damit gequält. Ich schreibe trotzdem etwas dazu, weil sie mich zu Gedanken anregt, die ich mit euch teilen möchte. Und weil ich gern einen Austausch anregen würde, darüber, was Anthologien sollen und können und wollen.

 

 

Eine Anthologie zusammenzustellen, ist ein Haufen Arbeit. Ich selbst habe es ein Mal gemacht – vor fast zwanzig Jahren. Die Ausschreibung und die Auswahl der Texte hat lange gedauert, es mussten Ab- und Zusagen geschrieben werden. Damals versendeten wir das alles noch per Hand, wir kopierten die Texte und die Bewertungslisten für die Jury. Hach ja, was waren das für Zeiten! Die Jury saß beisammen (so richtig live in der Küche), diskutierte, wählte Texte aus. Natürlich waren wir nicht immer einer Meinung. Dann musste eine Reihenfolge festgelegt, ein Cover gefunden und das Ganze gesetzt und gedruckt werden.

Auch wenn heute Vieles davon einfacher ist, ist doch noch eine Menge Arbeit übrig. Und ich rechne es jeder Person hoch an, die sich diese Arbeit macht! Die Gehrkes haben sich ein spannendes Thema ausgedacht, sie haben ausgeschrieben, ein ansprechendes Cover erstellt (oder erstellen lassen), Texte ausgewählt, gesetzt und den Vertrieb gemacht. Das alles ist aus meiner Sicht noch mehr zu loben, weil es nicht viele deutschsprache Science-Fiction-Ausschreibungen gibt. Neben den Zeitschriften Nova und Exodus, die bereits so mit Texten überrannt sind, dass eine Veröffentlichung meist erst in zwei Jahren oder mehr möglich ist, gibt es bei pmachinery, Eridanus, Polarise und manchmal auch ohneohren gelegentlich Anthologie-Ausschreibungen für Science Fiction. Daneben gibt es allgemeine Fantastik-Ausschreibungen für Anthologien oder Zeitschriften, die auch SciFi-Texte nehmen, meist aber nur in sehr begrenzter Zahl (z.B. talawah, literamagia, Queer*Welten, phantastisch, Weltenportal). Meiner wahrscheinlich begrenzten Übersicht nach sind die Gehrkes die einzigen, die wirklich zuverlässig jährlich mindestens ein Mal ausschreiben und bei denen auch längere Geschichten gedruckt werden. Daher ist es für mich umso bitterer, dass das mir vorliegende Ergebnis eine einzige Enttäuschung darstellt. Die deutsche Science Fiction hat auch so schon einen schlechten Ruf. Da würde ich mir wünschen, dass gute Anthologien Neuen im Genre den Einstieg leicht machen.

 

Was genau habe ich zu meckern? Ich habe gerade noch einmal in meine Notizen zur Ausschreibung geschaut, die im Original nicht mehr online ist: „Far Years I, Gesellschaftsformen und Kulturen in der Zukunft“ habe ich mir aufgeschrieben. Ein spannendes Thema. Warum passen die ausgewählten Texte nicht dazu? Von den 29 Texten, die ich gelesen habe, spielen mindestens vier nicht in der Zukunft, sondern in der Jetztzeit oder Vergangenheit. Bei einigen Texten bleibt unklar, wann sie spielen, aufgrund des Weltenbaus wirken sie aber sehr heutig. Mit Gesellschaftsformen oder Kulturen setzt sich gut die Hälfte auseinander, bei einem Teil ist es am Rande Thema (wie auch bei meinem), bei ca. einem Drittel kann ich beim besten Willen keinen Bezug zu diesem Thema erkennen. So auch bei allen Texten, die definitiv nicht in der Zukunft spielen. Es gibt in dieser Science-Fiction-Anthologie sogar Texte, die meines Erachtens gar keine Science Fiction sind.

Es stellt sich mir die Frage, warum der Herausgeber diese Texte ausgewählt hat. 30 Texte für eine Anthologie sind viel, weniger hätten es auch getan. Warum dann nicht zumindest die ablehnen, die keinen Themenbezug erkennen lassen? (Natürlich gibt es die Möglichkeit, dass der Bezug da, mir aber entgangen ist. Ich halte das aber in den meisten der hier benannten Fälle für unwahrscheinlich.)

Mein nächster Kritikpunkt bezieht sich auf den Buchsatz: In meinem Belegexemplar fehlen durchgängig die Leerzeilen bei Zeitsprüngen oder Perspektivwechseln, was das Lesen sehr anstrengend macht. Außerdem fehlt ein ganzer Text: „Hollymolly Square“ von Matthias Spiegel ist zwar im Inhaltsverzeichnis enthalten, fehlt aber in meinem e-book. Aus anderer Quelle weiß ich, dass es eine korrigierte e-book-Fassung gibt, von dieser wüsste ich aber normalerweise nichts und sie ist mir auch nicht zugänglich gemacht worden.

Meine nachhaltigsten Kritikpunkte betreffen die Qualität der Texte. Mir ist bewusst, dass Qualität nicht objektiv beurteilt werden kann. Qualität ist enorm subjektiv, das sollte bei meinen folgenden Ausführungen beachtet werden. Meine Vorstellungen von Qualität von Literatur beginnen bei korrekter Rechtschreibung und Grammatik, einem verständlichen Inhalt und gut lesbarem Stil. Man merkt der Anthologie insgesamt deutlich an, dass es kein Lektorat gab: Viele Texte sind schwer lesbar, so etwas wie Zeitformen- und Perspektivfehler hätten leicht begradigt werden können. Stilistisch sind viele Texte für mich ungenießbar: Füllwörter, Adjektiv- und Partiziphäufungen, schwülstige, nicht stimmige Bilder, sperrige Formulierungen und umständliche Beschreibungen sind in nicht wenigen Texten zu finden. Da steppt der Erklärbär, Dialoge sind hölzern und es wimmelt nur so von Längen. Für mich liest sich das wie fehlendes schriftstellerisches Handwerk.

Inhaltlich gibt es eine starke Häufung reaktionär anmutender Geschlechterbilder, in vielen Texten kommen nur Männer vor, in anderen gibt es zwar Frauen, aber nur als Bösewichte, Sehnsuchtsobjekte von Männern oder Mütter – oder sie haben die klischeehafte Rolle der nörgelnden Ehefrau oder des rettenden Engels á la Mutter Teresa. Einige Texte sind offen sexistisch, drei meiner Einschätzung nach rassistisch (bei einem halte ich das auch nicht für eine versehentliche Reproduktion von Rassismus) – solche Texte hätten, so meine Meinung, nicht abgedruckt werden dürfen.

Dass ein Text von mir in so einer Umgebung abgedruckt wurde, tut mir weh. Es ist der einzige in der Anthologie, der eine nichtbinäre Figur enthält. Bei mehreren Texten habe ich den Inhalt nicht verstanden (da scheint sich meiner für andere leider einzureihen, seufz), einige sind nur klamaukig. Es gibt Texte mit guten Ideen – meist sind diese aber handwerklich so schlecht umgesetzt, dass ich sie nicht genießen konnte. Und dann gibt es natürlich eine ganze Menge an „bekannte Idee, unzureichende Umsetzung“.

 

Für mich ist das Fazit, dass ich diesem Verlag keine Texte mehr schicken werde. Und das ist angesichts der überschaubaren Antho-Szene schade. Wenn ich mir die Liste der in der Anthologie enthaltenen Autor*innen ansehe, scheint es, als sei ich nicht die erste Person, die diese Entscheidung gefällt hat: Die gängigen Namen der deutschen Science-Fiction-Szene fehlen. Galax Acheronian ist der einzige, den ich kenne. Das wird, so meine Voraussage, neben dem fehlenden Honorar und der Aussage, dass sich die Ausschreibung an „Hobbyautoren“ richte, dazu führen, dass der Verlag kaum noch gute Texte angeboten bekommt und es immer schwerer wird, gute Anthologien zusammenzustellen. Und das finde ich enorm betrüblich. Das ist auch der Grund, warum ich diesen Text hier doch geschrieben habe: Ich schätze es sehr, wenn sich Verleger*innen die Mühe machen, Science-Fiction-Ausschreibungen anzubieten. Es ist wichtig für Newcomer, sowohl unter den Schreibenden als auch unter den Lesenden. Aber es funktioniert eben – so meine ganz unbescheidene Meinung – nur bei sorgfältiger Auswahl der Texte und gutem Lektorat. Und das ist hier nicht geschehen.

 

Kleine Anmerkung: Ich verstehe mich nicht als Hobbyautorx. Aber wie so viele meiner Kolleg*innen auch, kann ich vom Schreiben nicht leben. Das an sich ist schon eine Schwäche des (wahrscheinlich nicht nur deutschen) Buchmarktes. Ich bin in der privilegierten Position, einen zweiten Beruf zu haben, der mir Freude macht und den ich als sinnstiftend erlebe – und der als Halbtagstätigkeit ausreichend Geld einbringt, um mir zu erlauben, professionell zu schreiben. Das macht mein Schreiben aber meines Erachtens nicht zu einem Hobby. Ich liebe die Kurzgeschichte als Gattung. Darum möchte ich dafür werben, ihr würdige Orte zu gewähren.

 

Zum Schluss möchte ich mich den meiner Meinung nach besseren Texten widmen. Wirklich überzeugt hat mich leider keiner. Das ist Premiere für mich, bislang fand ich in jeder Anthologie Texte, die ich sehr gut fand.

 

Mein Favorit in dieser Anthologie ist Erwachsenwerden von Galax Acheronian. Dieser Text liest sich leicht weg, auch wenn die Charaktere für meinen Geschmack zu blass bleiben. Aber die Idee ist grandios: Die Menschen leben in virtuellen Welten und sehr viel länger als heute (300 Jahre). Da die Kindheit vielen Eltern angesichts dieser Lebensspanne zu kurz ist, wird sie künstlich verlängert – was für die „Kinder“, die künstlich unmündig gehalten werden, nicht erfreulich ist. Sie müssen in der virtuellen Welt als Kind auftreten, auch wenn sie real lange erwachsen sind. Die Geschichte thematisiert ein Eltern-Kind-Verhältnis und den Ärger der kindlichen Person. Der Text hat, wie für Acheronian typisch, deutlich männlich-homoerotische Anklänge. Allerdings fügen sich diese für mich unzureichend in den Weltenbau ein: Warum Körper in dieser Welt so enorm wichtig sind, erschließt sich mir nicht.

 

In Kieselsteine von Moritz Boltz wächst ein Kind einsam in einer Zelle auf und wird von einem sprechenden Kuscheltierroboter versorgt. Alle paar Wochen kommt seine Mutter. Aber dann geht der Roboter kaputt und es kann fliehen. Die Freiheit währt nicht lange, das Kind ist unerlaubt und wird ermordet.

Stilistisch konnte ich den Text trotz einiger Holperer gut goutieren, allerdings erschloss sich mir der Plot nicht. Müsste Einsamkeit nicht eine größere Rolle spielen? Und warum sollte sich jemand für ein Kind entscheiden, das keinerlei Zukunft hat und ein Leben lang eingesperrt werden muss? Wie kann es überhaupt funktionieren, die Ressourcen zur Verfügung zu stellen, ein solches Kind zu versorgen?

 

Der zweite Text in der Anthologie, Ruhestand, ist von mir. Und ausnahmsweise schreibe ich mal etwas zu meinem eigenen Text. Ich wollte hier eine ganz große ethische Frage aufmachen. Mein Text hatte sechs Probelesende, von denen nur eine Person angab, den Text nicht verstanden zu haben. Nun, wo er erschienen ist, habe ich nur eine einzige Rückmeldung bekommen und zwar von Yvonne Tunnat, die wirklich viele Science-Fiction-Kurzgeschichten liest. Sie hat den Text nicht verstanden. Beim zweiten Lesen hat sich ihr die zweite Ebene erschlossen, die dritte aber, die die ethische Frage aufmacht, blieb unsichtbar. Es stellt sich also die Frage, ob mein Text nicht doch gut in diese Sammlung passt. Peggy Gehrke hatte mich vor der Veröffentlichung angeschrieben und um eine Klarifizierung der zweiten Ebene gebeten; leider war ich so hochnäsig zu meinen, dass der Text davon lebt, dass diese Ebene nicht erklärt wird und sie hat sich damit zufrieden gegeben. Im Nachhinein wäre es besser gewesen, nach einer Lösung ohne Erklärung zu suchen – also zu zeigen, was ich zeigen will. Das ist dann wohl ein typischer Fall von: Selbst dran Schuld!

 

In Maximilian Wusts Tag der Entscheidung sterben auf einem 60 Jahre dauernden Flug alle bis auf den Haupthelden, dessen Videologbuch uns beschrieben wird. Die Beschreibung eines Films ist natürlich immer eine schwierige Sache. Wust hat das mit Beschreibungen dessen, was zu sehen ist, gelöst. Das Ergebnis ist zwar ein gut lesbarer Text, aber der Hauptheld - natürlich männlich – bleibt uns fern. Er wirkt unlebendig und seltsam generisch, was es mit ihm macht, so lange auf sich allein gestellt zu sein, wird kaum deutlich. Natürlich ärgert mich auch, dass die beschriebene Crew rein männlich ist, bis auf den Bösewicht, das ist eine Frau. Der Text hat deutliche Längen, hier hätte ein Lektorat gutgetan. Am Ende steht der Prota vor einer Entscheidung: Will er überhaupt tun, wofür er so viel seines Lebens geopfert hat? Das ist ein Dreh, der der Geschichte doch noch eine eigene Note gibt.

 

Beatrice Sonntag beschreibt in Flucht in die Realität eine Zukunft, in der die Menschen in einer virtuellen Realität leben. Die Protagonistin entdeckt die reale Welt, in der sich nur noch bewegt, wer durch finanzielle Engpässe dazu gezwungen ist. Die Idee ist nicht neu, trotzdem gelingt es Sonntag, eine packende Geschichte um eine Frau zu erzählen, die sich doch für die Realität entscheidet. Leider bleibt sie dabei dem Stereotyp der helfenden Frau verhaftet, die in der Mutterschaft ihre Erfüllung findet. Stilistisch ist zu viel erklärt, die Figuren sind blass und der Text benutzt für meinen Geschmack zu viele abgedroschene Phrasen.

 

In der Anthologie gibt es einige Texte mit guten Ideen. Mae Ludwig beschreibt in Anders eine solche: In einer zukünftigen Gesellschaft gilt es als modern, wie ein Android zu wirken. Menschen sollen keine Gefühle zeigen, die selbbe Haarfarbe haben, gleich schlank sein. Dazu sind sie zu einer Menge Operationen und Zurichtungen bereit. Leider wird die Idee für mich wenig interessant erzählt: Der Text hat deutliche Längen und am Ende ist es dann doch bloß eine altbacken wirkende Liebesgeschichte zwischen einer Frau und einem Mann – der die Frau natürlich rettet, weil sie das allein nicht hinbekommt.

 

In Schlaflos von Nob Shepherd bekommt ein abgehalfterter Privatdetektiv ein Jobangebot, für dass er sich mittels Nanobots den Schlaf abgewöhnen soll. Er hat keine Wahl, als anzunehmen – und wird für ein Verbrechen missbraucht. Das liest sich gut weg und ist unterhaltsam, allerdings ist die Pointe für meinen Geschmack dann doch zu komponiert und wer wer ist, ging mir immer wieder verloren. Außerdem ist es natürlich mal wieder eine reine Männerwelt, eine (unechte) Frau taucht nur als Verführerin auf.

 

kategoriale Einschätzung:

Aufmachung 2 von 3

Unterhaltung 0 von 3

Textauswahl 0 von 3

Originalität 1 von 3

Diversität 0 von 3

Tiefe 1 von 3

Düsteres Gesamtfazit: 4 von 18 möglichen Punkten