Becky Chambers: A Long Way to a Small, Angry Planet.
Hodder & Stoughton / Fischer Tor
freundliches Ideenfeuerwerk
Rosemary läuft aus zunächst unbekannten Gründen von zu Hause weg, ändert ihre Identität und heuert als Büroangestellte auf dem Tunnelbauschiff „Wayfarer“ an, das Wurmlöcher baut. Die vorher sehr behütet aufgewachsene junge Frau entdeckt eine neue Welt voller Aliens – „Außerirdische“ passt nicht, denn die Erde ist so gut wie unbewohnt, Rosemary ist zwar ein Mensch, stammt aber vom Mars. Die meisten Menschen leben auf Generationenschiffen.
Auch wenn Rosemary und ihre Entwicklung im Zentrum steht, kommen im Buch verschiedene Personen zu Wort: Chambers wechselt kapitelweise die Perspektiven und erzählt jeweils personal, dabei folgen wir bis auf wenige Ausnahmen den Mitgliedern der neuneinhalb-köpfigen Crew. Da ist Ashby, Mensch und Captain, Sissix , Aandrisk und Pilotin, Kizzy, Mensch und Mechanikern, der kleinwüchsige Mensch Jenks und Computertechniker, Ohan, ein Sianat der mit seinem Virus das Navigatorenteam bildet, die KI Lovey und Dr. Chef, Grum, Arzt und Koch, und Corbin, ein Mensch, der sich um den Algenantrieb kümmert, und den niemand leiden kann, weil er sich aufgrund seiner sozialen Schwierigkeiten unbeliebt macht.
Zunächst erleben wir den Alltag der Crew. Chambers wirft uns in eine bunte Welt voller Konflikte und Fallstricke, wobei die Spannung im Wesentlichen darin besteht, dass man verstehen will, wer die Charaktere sind und welche Hintergründe sie haben. Warum und wovor ist Rosemary weggelaufen? Gelingt Ashby der Aufstieg hin zu besseren Jobs? Wie wird Jenks' Liebe mit Lovey weitergehen?
Obwohl Chambers sehr viel erklärt, hat mich der Text sofort für sich eingenommen. Chambers humorvolle und leichtfließende Sprache entführt mühelos in dieses Universum und nach und nach kann ich mir die Welt zusammenpuzzeln – auch wenn viele Leerstellen bleiben. Die Vielfalt an Aliens (Reptiloide, Blobs, Wesen mit Fell, Federn und Schuppen), die vielen kulturellen Besonderheiten, die Wege sich zu verständigen und die Beiläufigkeit, mit der Behinderungen und verschiedene sexuelle Vorlieben und Neigungen erwähnt werden, machen die Welt sehr vielfältig und Neugier anregend. Als besonders wohltuend empfinde ich es, dass Chambers‘ Hauptpersonen alle um Freundlichkeit bemüht sind: Sie necken einander und gehen dabei auch einmal über Grenzen und sie streiten sich, im Großen und Ganzen sind sie aber sozialkompetent und umeinander bemüht – was zu sehr vielen herzwärmenden Szenen führt, die ich genossen habe. Auch wenn Chambers‘ Universum alles andere als heimelig und nur gut ist, führen diese Hauptpersonen doch dazu, dass der Grundton ein freundlicher ist, etwas, was ich gern noch häufiger lesen würde und was der deutschen SF meines Erachtens weitgehend fehlt.
Chambers bekommt es hin, dreidimensionale und eigenwillige Charaktere zu schaffen, wobei sie vieles der Imagination überlässt und an den richtigen Stellen Futter für neue Vorstellungen gibt. Besonders grandios finde ich die Dialoge, über die ich oft herzlich lachen musste, weil sie so schräg und komisch sind, und in denen oft wesentliche Themen verhandelt werden. Dabei gelingt es Chambers, viele philosophische Themen anzusprechen, ohne dabei die Leichtigkeit zu verlieren: Wie können wir vor unserem eigenen Standpunkt andere Kulturen vorurteilsfrei betrachten? Wie können Gesellschaften friedlich zusammenleben? Was bedeutet Mutterschaft? Wie gehen wir gut mit Andersartigkeit um? Das sind nur einige der Themen, die Chambers berührt.
Chambers‘ Text wird zum Ende hin immer spannender und entwickelt sich zum Pageturner, insgesamt habe ich den Text aber als langsam erlebt. Es gibt immer Spannung, aber meistens ist diese auf einem angenehmem Mittelniveau, so dass viel Zeit bleibt, sich den Beziehungen und inneren Entwicklungen der Charaktere zu widmen, was ich sehr genossen habe.
Aber ich wäre nicht Jol, wenn ich nicht auch was zu meckern hätte. Der Text hat einige Längen, manchmal werden Dinge erklärt, die ich an dieser Stelle oder insgesamt nicht unbedingt wissen muss, ein Beispiel dafür sind die teilweise etwas ausufernden Schilderungen von Essen und Mahlzeiten. Auch erscheinen manche Dialoge sehr offen so, dass klar ist, dass mir als Leser*in etwas erklärt werden soll, beispielsweise wie schwarze Löcher getunnelt werden. Und dann gibt es zwar Neopronomen und Geschlechtswechsel, aber nur bei Nichtmenschen. Meine größte Schwierigkeit ist, dass Chambers manchmal sehr nah an der Kitschgrenze operiert. Da ich den Text auf Englisch gelesen habe, ist davon auszugehen, dass es einige Phrasen gibt, die ich nicht erkannt habe, aber auch bei Chambers brechen emotionale Dinge in Personen und insbesondere bei emotionalen Szenen greift sie gelegentlich in die Phrasenkiste. Mein Verdacht ist, dass mir das auf deutsch mehr aufgestoßen wäre, allerdings zeigt ein Blick in die Leseprobe bei Fischer Tor, dass ich auch die Sprache mag, die Will im Deutschen gefunden hat: Die Art, wie Chambers/Will kleine Details des Weltraumlebens einfangen und atmosphärisch spürbar machen, ist einfach großartig.
Aber zurück zum Gemecker: Chambers spricht so viele Themen an, dass ich mir bei manchen eine tiefere Betrachtung gewünscht hätte. Aber das alles hält mich nicht davon ab, für den Text eine eindeutige Leseempfehlung auszusprechen: wer langsame Texte mit viel Protanähe und ein Feuerwerk an Ideen und Phantastik mag, wird hier gut bedient.
Noch ein kurzer Hinweis zum Schluss: Das Buch ist zunächst über Kickstarter finanziert worden und im Selfpublishing erschienen. Erst nachdem es mit den Nachfolgebänden Preise gewann, hat es einen Verlag gefunden. Auf deutsch sind alle vier Teile der Wayfarer Trilogie ;) bei Fischer Tor erschienen, dieser hier als „Die lange Reise zu einem kleinen, zornigen Planeten“, übersetzt von Karin Will. Dabei handelt es sich nicht um eine mehrbändige Reihe als solche, jedes Buch hat eigene Protagonist*innen, die gemeinsame Klammer ist das gleiche Universum, in dem sie spielen.
Das Coverbild oben ist das deutsche, weil das rechtlich viel leichter zu verwenden ist und ich noch nicht herausgefunden habe, wie ich die Erlaubnis für die Verwendung ausländischer Cover bekommen kann.
Unterhaltung: 2,5 von 3 Punkten
Sprache/Stil: 2 von 3
Spannung: 2 von 3
Charaktere/Beziehungen: 3 von 3
Originalität: 3 von 3
Tiefe der Thematik: 2 von 3
Weltenbau: 3 von 3
macht 17,5 von 21 möglichen Punkten.