Tino Falke und Jule Jessenberger (Hrsg.): Sonnenseiten. StreetArt trifft Solarpunk. Müncher Schreiberlinge im SP

 mehr Sonne als Schatten

Sonnenseiten

 

 

 

Nach einem Vorwort zum Genre, das sich vor allem utopischen Sichtweisen verschrieben hat, und zu verwendeten Neopronomen (von denen nicht viele vorkommen), startet der Band mit einem ausführlichen Essay von Alessandra Reß. Reß geht der Geschichte und den verschiedenen Ursprüngen des Genres nach und stellt heraus, dass die vorliegende Anthologie die erste originär deutschsprachige zum Thema ist. Es folgen 22 Kurzgeschichten, von denen ich hier nur die erwähnen möchte, die mir besonders gefallen haben.

 

 

Marie Teres: Like offline systems

In einer rundum genormten Welt soll ein Roboter einen Auftrag für seine Besitzerin erfüllen – und trifft dabei auf andere KIs, mit denen er erstmals eine Beziehung hat, in denen er sich als Ich erleben kann. Roboter und Menschen sind dem Diktat der Effizienz unterworfen, wer sich weigert, wird abgeschafft. Die Art, wie die Selbstwerdung in den Programmieranfragen des Roboters an sich selbst beschrieben ist, wie es eine eigene Sprache bildet, die man sich selbst erarbeiten muss, finde ich grandios: „RK 4813 bleibt still, und in seine Stille fallen SIns nächste Worte, knisternd und heilig.“ Auch humorvoll ist der Text, wenn alle Gesten einer Nummer haben: „Nicken, das der Nummer 35 für ernste Anlässe“.

Auch wenn mich dieser Text begeistert hat: Es ist ein dystopischer Text, der meiner Meinung nach nicht zur Ausschreibung passt.

Dani Aquitaine: Kaleido und Bumerang

Wow, was für ein Text! Ich mag die Sprache, leicht und mit schönen Beschreibungen. Und es gibt Sätze wie „Seine Kunst gab mir Kraft. Vielleicht, weil er genau wie ich größte Anstrengungen unternahm, um rein gar nichts zu bewirken“, die sprachlich und inhaltlich schön sind und mich tief berühren. Vom Weltenbau her ist hier zwar nur ein kleiner Ausschnitt gezeigt, der ist aber überzeugend.

Das Thema ist ein Teenagerstreit, wie er auch in den besten Utopien vorkommt. Die bei Teenagern so häufige Einsamkeit, verbunden mit dem Gefühl, unverstanden zu sein, wird einfühlsam thematisiert. Das Ende ist überraschend und bewegend, dabei auch gut vorbereitet.

Dominik Windgätter: Cloudart

Diese Geschichte spielt in einer Zukunft nach der Klimakatastrophe. Die Menschen leben auf fliegenden Inseln in den Wolken und Wolkenkünstler*innen reinigen die verpestete Luft und lassen dabei schöne Bilder entstehen. Der Text handelt von einer jugendlichen Wolkenkünstlerin, die ihren ersten großen Auftritt haben soll. Die Aufregung der Jugendlichen ist dabei gut beschrieben. Leider wird das gute Ende durch einen Perspektivwechsel bereits vorweggenommen, so dass der Text weniger spannend ist, als er sein könnte. Auch hätte ich mir etwas mehr Hinweise dazu gewünscht, wie die Luftreinigung funktioniert.

Oliver Bayer: Als wir uns treffen, lächeln die Dinos

Das ist eine Geschichte über einen Künstler virtueller Streetart. Es gibt eine Person, die seine Kunst verändert und er weiß noch nicht, wie er das findet. Ich fand den Text gut zu lesen, allerdings blieb der Weltenbau etwas dünn und die Verwendung entgenderter Formen mit -iks war für mich sperrig zu lesen. Im Grunde ist das eine Liebesgeschichte, nett und unterhaltsam.

C. F. Srebalus: Bugreport

Dieser Text besticht sofort durch eine eigene Sprache und eigene Bilder. Inhaltlich habe ich das Gefühl, ihn nicht ganz verstanden zu haben: Eine alte Frau arbeitet nur noch im Garten, war aber vorher Botschafterin. Als sie unerwartet Besuch bekommt, geht sie davon aus, für ein bislang nicht aufgeklärtes Verbrechen zur Verantwortung gezogen zu werden. Aber das passiert nicht. Ich finde die Einschübe von Zeitungsberichten nicht wirklich gelungen, auch scheint mir die Perspektive an einigen Stellen nicht wirklich durchgehalten. Obwohl das Gefühl blieb, nur einen Teil verstanden zu haben, fand ich die Figurenzeichnung und vor allem die Sprache so gut, dass ich den Text gern gelesen habe.

Tino Falke: Lo-fu chill hop beats to hope/keep on fighting to

Das Konzert einer unbekannten Band wird abgesagt, weil alle lieber Altbekanntes hören wollen und dafür der Saal gebraucht wird. Aber die Band nimmt das nicht hin und bringt ihre Musik in die Welt. Das Thema, dass es schwer ist, mit neuen Themen und Gesichtern Publikum zu begeistern, ist sehr aktuell und vielen Kunstschaffenden bekannt. Falke hat es hier in eine gut lesbare Geschichte mit einem eigenwilligen Titel verpackt, die mich auch sprachlich begeistert hat: „Irgendwer tanzt immer, auch wenn man selbst es nicht tut.“

Roman Maas: Die falsche Sonne

In einer dystopischen Diktatur mit strengster Überwachung brennt Mahani Bilder in Tempelfassaden. Wenn sie erwischt wird, droht Folter. Natürlich wird sie erwischt, aber die Hohepriesterin, der sie dann begegnet, plant wie Mahani Widerstand, wobei beide von magischen Tieren geleitet werden. Die barocke Sprache entsprach nicht ganz meinem Geschmack, aber der eigene Stil und die für mich neuen Bilder haben mich trotzdem für sich eingenommen.

Roxane Bicker: Fuchsfeuer

Den Einstieg in diesen Text fand ich schwierig, denn er wechselt in verschiedene Zeitebenen und zu verschiedenen Protas. Aber nach zwei Seiten fand ich mich zurecht und habe die eigenwilligen Bilder und den etwas lyrisch anmutenden Schreibstil gern goutiert.

Eine Person möchte eine Gemeinschaft verlassen, ein schwerer Schritt, zu dem ein altes Graffiti ermutigt. Es bleibt sehr viel offen – was das für eine Gemeinschaft ist, warum die Hauptperson der Geschichte gehen will, was Gehen heißt – aber trotzdem mochte ich diesen kleinen Einblick sehr gern, vor allem wegen der Sprache und der auch durch das Präsens geschaffenen Intimität.

 

Fazit:

Reß stellt in ihrem Essay bereits heraus, dass es Streit darum gebe, was Solarpunk sei und was nicht. Gemeinsam seien allen Ausdrucksformen der Gattung die utopische, optimistische Ausrichtung, Kapitalismuskritik und die Auseinandersetzung mit Folgen von Klimawandel und sozialer Ungerechtigkeit. Die Texte, die diesem Vorwort folgen, scheinen zu einem überraschend großen Teil nicht zu dieser Einstimmung zu passen: Viele der Geschichten ranken sich rund um Straftaten, vor allem um Diebstahl und Vandalismus. Ich habe in dieser Textsammlung keine für mich überzeugende Utopie gefunden. Viele der Texte spielen in dystopisch anmutenden Ökodikaturen, wobei die Protagonist*innen der Geschichten oft an heutigen Konsum- oder Freiheitswerten festhalten und dadurch aus ihren Welten fallen, ohne dass dies für mich überzeugend hergeleitet wird. Einige der Texte präsentieren zwar utopische Welten, aber diese funktionieren nur mithilfe von Magie, was meinem Verständnis des Genres Science Fiction widerspricht (zumindest so lange, wie für die Magie kein Erklärungsversuch unternommen wird) und was ich auch nicht als optimistisch empfinde. Denn, um es mal salopp zu sagen: Wenn wir unsere heutigen Probleme nur mit Magie lösen können, sind wir am Arsch.

Ich befinde mich also laut Reß in guter Gesellschaft, wenn ich behaupte, dass nach meinem Verständnis neun von den hier abgedruckten 22 Texten kein Solarpunk sind. Natürlich stellt sich mir die Frage, warum das so ist. Ich weiß, wie schwierig es ist, eine utopische Geschichte zu schreiben, die spannend ist. Da ist es leicht, Straftaten zu erfinden oder eben doch eine dystopische Welt zu bauen. Befriedigend ist es für mich nicht.

Die zweite Frage ist die nach der Qualität der Texte. Mir gefallen acht von 22 Texten, das ist eine gute Quote. Zwei Texte finde ich sogar richtig gut. Der Kauf der Anthologie hat sich für mich also gelohnt. Auch die meisten hier nicht benannten Texte sind gut lesbar und flüssig geschrieben, allerdings fällt auf, dass das Lektorat etwas (wirklich nur etwas) zu wünschen übrig ließ: Ich habe für meinen Anspruch zu viele Grammatik-, Zeitformen- und Bezugsfehler gefunden, die sich hätten korrigieren ließen – wenn man sie denn gesehen hätte, was, ich weiß es, bevorzugt nach dem Druck geschieht. Auch die Aufmachung ist ansprechend, der Buchsatz mit den kleinen Spraydosen-Blumen-Vignetten vor jeder Geschichte ist angenehm und übersichtlich. Einen Pluspunkt gibt es von mir außerdem für die Content Notes zu einigen Texten am Buchende. Daher: Von mir eine klare Kaufempfehlung für die (etwas schattigen) Sonnenseiten.

 

kategoriale Einschätzung:

Aufmachung 2,5 von 3

Unterhaltung 2 von 3

Textauswahl 1 von 3

Originalität 1,5 von 3

Diversität 3 von 3

Tiefe 1,5 von 3

Gesamtfazit: 11,5 von 18 möglichen Punkten (wobei ich der Textauswahl rein von der Qualität her einen Punkt mehr gegeben hätte)