Becky Chambers: Record of a Spaceborn Few. Harper Voyager / Hodder & Stoughton

Erst fängt es ganz langsam an ...

Wayfarer3klein

 

 

Nachdem ich Band 1 und 2 der Serie gelesen hatte, nahm ich nun an, dass ich wüsste, was mich in Band 3 erwartet. Weit gefehlt! Band 3 der Wayfarer-Serie „Record of a Spaceborn Few“ (deutsch: „Unter uns die Nacht“) spielt auf der Asteria, einem Generationenschiff, das Teil der Exodusflotte ist, die vor Generationen die Erde verlassen hat, weil ein Überleben auf ihr nicht mehr möglich war. Nach langer Reise traf die Flotte auf nichtmenschliche vernunftbegabte Spezies und ist inzwischen Teil eines Zusammenschlusses verschiedener Spezies. Zum Zeitpunkt des Romans kreist die Flotte um eine Sonne und wird so gut wie ausschließlich von Menschen bewohnt.

 

 

Chambers beginnt ihr Buch mit einer Art Prolog, drei kleinen Szenen aus der Sicht von drei Personen, die ich nicht recht einordnen kann. Das eigentliche Buch startet mit sechs Perspektiven: Tessa, Lagerverwalterin, Mutter zweiter Kinder und Schwester von Ashby aus Band eins,
Kip, ein gelangweilter und ruheloser Teenager, der nach seiner Bestimmung sucht,
Isabel, eine ältere Archivarin in lesbischer Partnerschaft, und Gastgeberin von Ghuh'loloan,
Sawyer, ein junger Mann, der aus einer kleinen Kolonie in die Flotte migriert und
Eyas, eine Hüterin, die ihren Beruf sehr ernst nimmt und mag, sich aber irgendwie leer fühlt und
Ghuh'loloan, eine Harmagianerin , die als teilnehmende Beobachterin die Flotte besucht, um darüber zu berichten. Sie ist Isabels Gast.

Ich gebe zu, ich war zunächst völlig verloren in der Vielzahl an Perspektiven, zumal die einzelnen Protagonist*innen zu Beginn für mich nicht wirklich plastisch wurden. Man folgt ihnen in recht alltäglichen Situationen, sieht ihnen beim Essen und Arbeiten zu und erlebt kleinere Konflikte. Das Buch plätscherte gut einhundert Seiten eher vor sich hin, wobei in Chambers-typischem Stil sehr prota-nahe und personale Perspektiven gewählt werden, bei denen viel gezeigt und zusätzlich erklärt wird. Gerade diese Nähe sorgte dann dafür, dass ich mich doch mit den Protagonist*innen anfreundete und sie mir immer näher kamen. Trotz der Langsamkeit hat das Buch mich in seinen Bann gezogen; vor allem die vielen kleinen Details des Lebens auf einem Generationenschiff haben mich begeistert: Was es bedeutet, mit begrenzten Ressourcen Kreisläufe zu bilden, wie das Zusammenleben funktioniert, wie Konflikte durch die Anlage der Gesellschaft vermieden werden. Es ist sehr nachvollziehbar, dass ein solches Zusammenleben auch neue Berufe braucht, wie Eyas’, deren Beruf als „caretaker“ beschrieben ist, und die Bestatterin, Seelsorgerin und Biologin ist (die exodanischen Toten werden kompostiert und sie bereitet die Leichen vor, verteilt den entstandenen Kompost und begleitet die Hinterbliebenen).
Chambers erklärt hier für meinen Geschmack teilweise zu viel – ich hätte mir mehr Leerstellen gewünscht – andererseits gelingt es ihr mal wieder quasi im Vorbeigehen, diverse Themen auf den Tisch zu bringen. Es geht um die Verständigung zwischen Spezies (besonders grandios fand ich hier die Szene, in der Ghuh'loloan vor einer menschlichen Leiche steht und darüber nachdenkt, ab wann ein toter Körper eine Leiche – oder eben Essen oder ein Kadaver – ist), es geht um Sinnfragen und die Frage nach dem guten Leben, um Freundschaft und Liebe, wobei ich besonders die Charakterisierung der Liebe zwischen Isabel und ihrer Frau sehr liebevoll dargestellt fand. Zentral ist meines Erachtens die Frage nach der Lebbarkeit einer nachhaltigen Gesellschaft: Die Exodusflotte ist letztlich eine gelebte Utopie, in der die Personen, die sich entscheiden, Teil der Flotte zu bleiben, auf Annehmlichkeiten verzichten, die für viele Personen außerhalb der Flotte normal sind. Oberstes Kriterium aller Handlungen ist die Entscheidung, mit den verfügbaren Ressourcen auszukommen – und das zu leben, führt letztlich zu einer Beschränkung, die Geschenk und Zumutung zugleich ist.

Gerade als ich mich fragte, ob der Text nicht doch etwas langweilt, ging dann die Story los und der Roman gewann an Tempo. Er wird bis zum Schluss nicht wirklich rasant, ist aber trotzdem so packend, dass ich ihn kaum weglegen konnte. Kip lässt sich von seinem sehr von sich überzeugten Freund Ras zu typisch jugendlichem Unsinn anstiften, parallel dazu gerät Sawyer in die Fänge von Dieben. Eyas nimmt die Dienste eines Sexarbeiters in Anspruch, diskutiert Sinnfragen mit ihm und kommt ihm langsam näher, Isabell ringt mit Ghuh'loloan (deren Spezies ich als schneckenähnlich eingeordnet habe) und der Frage, wie ehrlich sie der Besucherin gegenüber sein kann. Tessa fragt sich, ob sie mit einem Kind, das Angst hat, im Weltall zu leben, wirklich dort bleiben muss und Ghuh'loloan verändert ihren Blick auf die gelebte Utopie der Exodaner. Ich möchte hier nicht zu viel der Handlung vorwegnehmen, nur verraten, dass es eine Wendung gibt, die mir sehr nahe ging, denn angesichts des plätschernd und lieb erscheinenden Textes dachte ich nicht, dass hier etwas wirklich Schlimmes passieren könnte. Nun, ich dachte falsch. Chambers gelingt es, trotzdem einen positiven Abschluss zu finden, aber zwischendurch fühlte ich mich, als habe mir jemand in den Magen geschlagen.
Insgesamt lässt sich sagen, dass die Protagonist*innen mir sehr ans Herz gewachsen sind. Sie werden nur langsam plastisch, aber dann hatte ich zu jeder Person eine Idee und ein Gefühl, wer sie sind und wie sie ticken. Sprachlich gab es hier Stellen, wo ich angesichts der Vergleiche und der witzigen Schilderungen sozialer Interaktionen Absätze mit Vergnügen mehrfach gelesen habe und wie in den anderen beiden Büchern auch, gibt es grandiose Dialoge. Auch der Weltenbau ist grandios und detailreich ausgedacht. Es gab Stellen, an denen ich dachte, etwas sei nicht durchdacht, aber das hat sich später immer relativiert. Ein Beispiel: In der Flotte gibt es kein Geld, sondern Warentausch. Ich nahm zunächst an, dass das nicht logisch sei, weil nicht jede Person etwas Tauschbares produziert. Dann wurde klar: Es werden Gehälter in Form von tauschbaren Dingen ausgeteilt – was dann letztlich doch wieder eine Art Währung ist, aber eben eine, die man aufessen und nicht beliebig lange horten kann.

Chambers beschreibt sehr eindrücklich das Zusammenleben mehrerer Generationen in einem Haushalt. Die Schrulligkeiten, aber auch die Zugewandtheit der Personen sind gut dargestellt. Eine Sache gab es, über die ich mehrfach gestolpert bin: Adultismus. Chambers schildert einen sehr liebevollen Umgang mit Kindern, aber er ist an vielen Stellen nicht auf Augenhöhe: Da werden Kinder beispielsweise gezwungen, Bitte und Danke zu sagen und mit dem Entzug von Essen oder anderen Privilegien bestraft, in der Schule gibt es selbstverständlich Noten und Hausaufgaben – Dinge die schon heute von manchen Eltern und Wissenschaftler*innen in Frage gestellt werden und von denen ich ganz persönlich hoffe, dass sie sich in 200+ Jahren erübrigt haben, weil wir andere Wege gefunden haben, unsere Kinder zu begleiten. (Wer sich für andere Wege der Begleitung von Kindern interessiert, sei hier ganz am Thema dieser Rezension vorbei auf das unerzogen-Magazin und die Rabeneltern verwiesen.)

Das Buch endet mit einigen Ausblicken und Zeitsprüngen, die die Story abrunden. Ich kann die Begeisterung, die ich schon bei den anderen Büchern hatte, auch hier wieder vollumfänglich wiederholen: Lest Chambers!

Unterhaltung: 2 von 3 Punkten
Sprache/Stil: 2 von 3
Spannung: 2 von 3
Charaktere/Beziehungen: 2,5 von 3
Originalität: 2,5 von 3
Tiefe der Thematik: 3 von 3
Weltenbau: 3 von 3
macht 16 von 21 möglichen Punkten.