Bernadine Evaristo: Girl, Woman, Other. Penguin Books bzw. btb (deutsch)

irritierend und anregend

maedchen frau etc bernardine evarista 9783608504842Normalerweise rezensiere ich hier ja deutsche Science-Fiction. Heute möchte ich eine Ausnahme machen, denn Evaristos Buch hat mir so viel Nachdenkstoff gegeben, dass ich gern öffentlich darüber schwadronieren möchte. Ich habe das Buch auf englisch gelesen, es liegt aber auch in deutscher Übersetzung vor.

Das Buch hat mir den Einstieg nicht leicht gemacht. Evaristo erzählt die Lebensgeschichten von 11 Frauen und einer nichtbinären Person of Colour, die alle (zumindest zeitweise) in Großbritannien leben. Sie schreibt Satzanfänge klein und verzichtet weitgehend auf Satzzeichen, meistens ist ein Satz eine Zeile. Es dauerte eine Weile, bis ich für mich verstanden hatte, dass ich den Text genießen kann, wenn ich ihn so lese, als würde mir jemand den Text erzählen. In der Tradition von oral history hatte ich die fiktiven Stimmen der Erzählenden im Ohr, die ganz unterschiedliche Facetten von Leben in Großbritannien aufblättern: da sind Bildungsaufsteiger*innen, da ist die Generation der Einwandernden, da sind Leute, die sich gerade über Wasser halten und Leute, die sehr wohlhabend sind. Besonders spannend war für mich der unterschiedliche Blick auf Rassismen und der Umgang damit, wobei jede Person natürlich ihren eigenen Blickwinkel für den einzig wahren hielt. Bei der Benennung von „Marginalisierungs-Olympiaden“, bei denen jede Person versucht, die eigene Marginalisierungserfahrung gegen die anderer Personen auszuspielen, musste ich schmunzeln.

Jeder Person ist ein Adinkra-Symbol zugeordnet – das war es auch, was mir den Hinweis auf mündliche Traditionen der Wissensweitergabe gab. Ich kenne die Symbole aus Ghana, wo sie unter anderem für Sprichwörter stehen. Leider kenne ich nur wenige davon gut genug, um die Zuordnung zu den Personen im Buch zumindest intuitiv zu verstehen, so blieben sie für mich reine Schmuckelemente.
Das Buch wechselt gekonnt zwischen verschiedenen Erzähltraditionen, so habe ich einige beliebte Narrative aus Nollywood wiedererkannt, wie den Priester, der Frauen auf eigene Weise zur Lösung ihres versagten Kinderwunsches verhilft. Generationenfragen werden aufgeworfen – und wie die eigene Situiertheit den eigenen Blick auf Identität und damit zusammenhängend auf Geschlecht, race und die Klasse bedingt.
Neben den verschiedenen Blickwinkeln hat mich besonders fasziniert, wie Evaristo es schafft, dass ich den Charakteren, die ich zunächst fast ausnahmslos unsympathisch fand, dann doch gern gefolgt bin und Mitgefühl für sie entwickelte: Im Verstehen der Gewordenheit der Personen erschlossen sich mir deren oft enorme Härte, die Versuche, sich ihr jeweiliges Leben zu erobern. Darin sehe ich eine ganz große Stärke des Buches.
Evaristo beendet ihr Buch mit einem Kapitel, das einen Teil der Charaktere zusammenbringt und mit dem ich nicht so viel anfangen konnte. Dafür hat sie mich auf den letzten Seiten noch einmal belohnt und ein Rätsel gelüftet, das viele Seiten vorher aufgemacht wurde.

Unterhaltung: 1,5 von 3 Punkten
Sprache/Stil: 3 von 3
Spannung: 2 von 3
Charaktere/Beziehungen: 2,5 von 3
Originalität: 3 von 3
Tiefe der Thematik: 3 von 3
Weltenbau: unzutreffend
Macht 15 von 18 möglichen Punkten.