Christelle Dabos: Die Spiegelreisenden-Saga. Insel
reicher Leidensweg
Die Spiegelreisenden-Saga erzählt in vier jeweils gut 600 Seiten starken Bänden die Geschichte von Ophelia, die in eine Region weit von ihrem Heimatort zwangsverheiratet wird. Ophelia lebt am Anfang der Geschichte bei ihrer Herkunftsfamilie und arbeitet in einem historischen Museum. Sie liebt ihre Arbeit und hat gar keine Lust auf Ehe und Familie, wie es in ihrer Welt erwartet wird. Sie ist eine kleine Frau mit Brille, eine Animistin, die alles belebt, was um sie herum existiert, und die die Fähigkeit hat, Dinge zu „lesen“ - durch Berührung deren Vergangenheit zu erfahren – und durch Spiegel zu reisen. Um sich davor zu schützen, ständig unbeabsichtigt Dinge zu lesen, trägt sie stets Handschuhe. Ophelia hat außerdem eine Einschränkung, die von Dabos als Tollpatschigkeit beschrieben wird: Sie hat nach einem Unfall Schwierigkeiten, ihre Bewegungen zu koordinieren.
Mir hat es sehr gefallen, dass Dabos mit Ophelia eine alles andere als typische Heldenfigur geschaffen hat. Ophelia ist eigensinnig und sie hat eine Körperbehinderung, wobei mir dies aufgrund der bagatellisierenden Beschreibung erst im letzten Band aufgefallen ist. Dort wird die Behinderung deutlich, weil Ophelia sie vorübergehend verliert und sich nun problemlos bewegen kann.
Dabos ist ein grandioser Weltenbau gelungen: Nach einem Krieg hat Gott die Welt in Teile zerbrochen, die nun als unabhängige Archen um den früheren Planeten Erde herumschweben und nur mittels Luftschiffen verbunden sind. Jede Arche wird von einem Familiengeist beherrscht, der magische Fähigkeiten hat, die er an seine Nachkommen vererbt. Dabos’ Welt ist bis ins Detail ausgedacht und mit viel Liebe ausgestaltet.
Ebenfalls sehr genossen habe ich Dabos’ Sprache: Sie ist ausgeschmückt und etwas umständlich, gleichzeitig aber leichtfließend und immer wieder poetisch. Dabei findet die Autorin beeindruckende und anregende Beschreibungen und Bilder, besonders für Personen: „Schicksalsergeben hatte sie ihre langen Beine an die Brust gezogen, wie ein Bügelbrett, das man zusammengeklappt und bis auf Weiteres in den Schrank geräumt hatte“ oder auch „sein endloser Schatten wirkte wie Tinte, die aus seinen Absätzen rann“. Leider ist diese Sprache auch immer wieder etwas zu umständlich und mitunter haben mich die redundanten Beschreibungen von Gefühlen oder Personen etwas ermüdet. Besonders sind hier entwertende Attribute zu nennen, wie die „Pferdezähne“ von Ophelias Tante Roseline, einer Nebenfigur, die Ophelia als Anstandsdame zugeteilt wird. Die „Pferdezähne“ werden fast jedes Mal benannt, wenn Roseline auftaucht.
Eine weitere Schwierigkeit sehe ich in dem hohen Maß an Gewalt, die mit jedem Buch zunimmt und im letzten Band so große Ausmaße annimmt, dass ich es schwer aushalten konnte. Ich habe das Buch eigentlich zusammen mit meiner Tochter gelesen (es wird als Jugendbuch beworben), aber meine 14jährige stieg irgendwann aus, weil es ihr zu gewalttätig war.
Um meine Sicht auf die geschilderte Gewalt zu begründen, muss ich etwas ausholen: Die Bücher spielen auf vier verschiedenen Archen, was auch im ersten Buch schon ahnbar ist, obwohl darin nur zwei Archen vorkommen. Auf beiden sind Frauen massiv in der unterdrückten Position. Der Ausblick auf anders strukturierte Welten hat mich etwas bei der Stange gehalten, aber leider hat Dabos mich hier trotz des sehr gelungenen Weltenbaus enttäuscht: Es gibt zwar auf jeder Welt starke Frauenfiguren und auch rollenuntypische Frauen und Männer (andere Geschlechter kommen nicht vor), Ophelia ist aber in jeder Welt vor allem stark darin, verschiedene Demütigungen, Erniedrigungen und körperliche Übergriffe zu ertragen. Ich habe mich bereits im ersten Buch sehr danach gesehnt, dass sie endlich die Rolle der Duldsamen verlässt und sich auflehnen darf. Aber bis auf ein oder zwei kleinere Ausnahmen gesteht ihr Dabos dies nicht zu. Im Gegenteil: Am Ende des Buches überlebt Ophelia als verstümmelte und massiv körperbehinderte Person.
Zum Glück gibt es in jedem Buch Lichtblicke, Personen, zu denen Ophelia eine Freundschaft oder persönliche Beziehung aufbauen kann. Oft sind es ausgerechnet die Personen, unter denen sie am meisten leidet, an die sie sich schließlich bindet – ein in hohem Maße toxisches Beziehungsmuster, das auch ihre sich entwickelnde Liebesbeziehung zu ihrem Mann, Thorn, prägt. Auch Thorn ist ein Versehrter, ein traumatisierter und lebenslang ungeliebter Mensch, der mit seiner Zwanghaftigkeit alle anderen tyrannisiert. Ophelia entscheidet sich dafür, ihn unter Inkaufnahme von Selbstaufgabe durch ihre Liebe zu retten, ein tradiertes Narrativ, das Dabos immer wieder bricht – auch, indem Thorn stellenweise Verantwortung für sein Handeln übernimmt. Trotzdem konnte ich die Beziehungsgestaltung zwischen beiden teilweise schwer aushalten – wäre da nicht die immer vorhandene Spannung und der beeindruckende Weltenbau gewesen, ich hätte wohl nach Band 2 das Handtuch geworfen.
Dabos erzählt letztlich eine Weltrettungsgeschichte: Es wird immer deutlicher, dass die Familiengeister verstümmelt worden sind, jemand hat ihnen ihre Erinnerung genommen. Gleichzeitig gibt es eine Person, die die Welt zerstört – Thorn und Ophelia wollen diese Zerstörung aufhalten. Im letzten Band gibt es schließlich so viele Erzählstränge und Nebenfiguren, dass ich mich immer wieder gefragt habe, wie Dabos es schaffen kann, sämtliche Handlungsstränge zu verschnüren. Ich verlor immer mehr den Überblick, all die Wendungen der Handlung und neuen Aspekte von Personen, die doch anders waren, schienen mir kaum noch nachvollziehbar. Trotzdem schaffte Dabos es, dass ich weiterlesen wollte. Leider häufen sich am Ende die Plotlücken und es zeigt sich, dass es besser gewesen wäre, einige Stränge früher zu schließen oder ganz wegzulassen. Das fulminante Ende, an dem alle wichtigen Nebenfiguren noch einmal an einem Ort zusammenkommen, erscheint unglaubwürdig, zu konstruiert und das Ende selbst trotz Weltrettung für Ophelia so düster, dass ich es Dabos wirklich übelnehme.
Trotz dieser gravierenden Schwachpunkte des Textes, gibt es doch vieles, was an der Spiegelreisenden-Saga überzeugt: neben dem Weltenbau und der gelungenen Sprache ist das vor allem die Originalität der Umsetzung. So gibt es zum Beispiel einen animierten Schal, der eine zentrale Nebenfigur darstellt, und mit viel Liebe dargestellt ist.
Zum Schluss noch ein paar Überlegungen zur Genreeinordnung: Die Spiegelreisenden-Saga ist ganz klar Fantasy. Es gibt Magie und lebende Götter, klare Bestandteile dieses Genres. Aber es gibt in diesem Buch neben der Magie auch eine ganze Menge Science-Fiction-Elemente: An vielen Stellen sind Steampunk-Elemente beschrieben (altmodische Eisenbahnen, Zeppeline, Dampfmaschinen) und vor allem liefert Dabos eine Erklärung für die Magie. Nicht zuletzt kann man den Text als Alternativweltroman lesen: An einem Punkt konnte eine Person den bestehenden Krieg (den zweiten Weltkrieg?) nicht mehr aushalten und suchte nach einer Möglichkeit, Frieden zu erzwingen. Hier schwingt auch ein politisches Statement mit.
Unterhaltung: 2,5 von 3 Punkten
Sprache/Stil: 2 von 3
Spannung: 2,5 von 3
Charaktere/Beziehungen: 1,5 von 3
Originalität: 2 von 3
Tiefe der Thematik: 1 von 3
Weltenbau: 3 von 3
Macht 14,5 von 21 möglichen Punkten.