Christoph Grimm (Hg.) Weltenportal Nr 4. 11/2022

Liebevoll gemachtes Heft
Weltenportal 4Was sofort auffällt, wenn man dieses Heft in die Hand nimmt, ist die liebevolle und aufwendige Gestaltung. Die Illustration nimmt fast den gesamten Raum ein, die Schrift ist sehr zurückhaltend am oberen Ende der Seite platziert. Zu sehen ist eine futuristisch-asiatisch wirkende Großstadt; im Vordergrund sind zwei Figuren mit gebogenen Schwertern und auf der Rückseite eine kindlich wirkende Figur mit retrofuturistischem Helm. Der glänzende Kartoneinband lässt die Farben der Illustration brillant wirken, auch innen sprechen der großzügige Satz und die vielen Illustrationen in verschiedenen Stilen an. Die Mischung aus Kurz- und Kürzestgeschichten, einem Comic, Interviews, einem Werkstattbericht und Rezensionen wirkt ebenfalls durchdacht. Das „Weltenportal“ ist gratis als pdf zu haben, ich finde aber eindeutig, dass sich der Kauf der Printausgabe lohnt, denn so hat man einfach mehr von den Illustrationen.


Inhaltlich haben mich die Interviews und Rezensionen sehr angesprochen. Nicht alles traf meinen Geschmack, aber es ist eine breite Vielfalt von Literatur in der Phantastik abgebildet und da wird sicher jede*r etwas finden. Eine Enttäuschung waren dagegen für mich die Kurzgeschichten. Die beiden Kürzestgeschichten von Volker Dornemann empfinde ich als wenig gelungen, da kenne ich aus dem Englischen wesentlich ansprechendere und überraschendere Texte. Von den dreizehn längeren Kurzgeschichten gibt es eine, die mich wirklich überzeugt hat und zwei die ich gut lesbar und unterhaltsam fand. Drei Texten konnte ich immerhin etwas abgewinnen, aber die restlichen sieben Texte hatten entweder gravierende sprachliche Mängel oder so althergebrachte, und für Viellesende wie mich zu oft verwendete oder unlogische (oder schlicht fehlende) Plots, dass ich mich gefragt habe, warum sie für dieses Heft ausgewählt wurden. Manches davon mag einfach Geschmackssache sein – Texte verlieren mich, wenn sie sehr adjektiv- und phrasenlastig sind oder einen blumigen Stil pflegen –, anderes fällt vielleicht Leuten nicht auf, die nicht so viel lesen (was ich bei Herausgeber Christoph Grimm nicht annehme), aber an zu vielen Stellen scheint es schlicht am Handwerklichen zu fehlen, wenn beispielsweise Wendungen und Wörter sinnentstellend benutzt werden oder Sätze umständlich formuliert sind. Hier hätte ein gutes Lektorat sicher einiges reißen können. Vielleicht ist es die Idee dahinter, Neulingen einen Ort zu bieten, dagegen spricht allerdings die Tatsache, dass ich doch einige der Namen bereits kannte. Ich werde hier nur über die Texte schreiben, denen ich etwas abgewinnen konnte, einfach um die Kritik in Maßen zu halten.


V. A. Kramer: Verbotener Genuss


In einer zukünftigen Welt ist der Anbau von Lebensmitteln verboten, alles wird synthetisch hergestellt. Vom Weltenbau her ergibt das keinen Sinn, denn aus irgendetwas muss Essen ja entstehen – auch synthetisches Essen braucht Bestandteile, aus denen es zusammengesetzt wird. Wenn man sich nicht zu sehr von diesem Loch im Weltenbau ablenken lässt, ist der Text flott geschrieben und man kann der im Zentrum stehenden Schmugglerin auf ihren Gängen folgen. Natürlich wird sie verfolgt – und leider verhält sie sich zunächst unlogisch, als sie versucht, vor einer fliegenden Drohne wegzulaufen. Witzig fand ich, was sie schließlich schmuggelt, diese Pointe hat mich mit dem Text etwas versöhnt.


Kornelia Schmidt: Der letzte Splitter Farbe


Dieser an sich flüssig geschriebene Text hat mich immer wieder stolpern lassen, weil Formulierungen oder Wörter falsch verwendet werden. Auch hat mich der enthaltene Ableismus geärgert, wenn Personen als Dummköpfe oder dümmlich entwertet werden, ohne dass dies für den Inhalt des Textes nötig wäre.
Inhaltlich geht es um eine Bergarbeiterin, die erst ihr Erz schlägt und danach schaut, ob es sich gelohnt hat (was nicht wirklich Sinn zu ergeben scheint). Dann erfährt sie, dass ihr Bergwerk und der gesamte Planet evakuiert werden. Sie läuft in den Schnee, trifft ein Alien und begeht eine Handlung, die ich hier nicht spoilern will – der Grund dafür blieb für mich leider wenig nachvollziehbar. Das Pro an dem Text ist, dass die Figur mich berührt hat, ich habe mit der Protagonistin gern mitgefühlt. Das Kontra ist, dass der von der Prota aufgedeckte Zusammenhang (den ich hier nicht benenne, um nicht zu spoilern) der Bergbau betreibenden Firma aufgefallen sein müsste, zumal er das Verhalten der Firma sogar besser erklären würde, als die in der Geschichte gegebene Begründung.


Detlev Klewer: Das lange Warten (Comic)


Ich gebe zu: Ich habe keine Ahnung von Comics. Gelegentlich lese ich mit Genuss eine Graphic Novel, allgemein neige ich jedoch dazu, Comics nicht zu verstehen und muss dann mein Umfeld bitten, mir das Gezeigte zu „übersetzen“. Das war hier nicht der Fall: Den Plot habe ich sofort verstanden, leider so sehr, dass ich schon auf Seite drei wusste, was auf Seite fünf passieren wird. Ich habe diesen Plot schon etliche Male gelesen. Leider fehlt ihm auch jede Tiefe. Das ist enorm schade, denn der Comic ist sehr schön gezeichnet, im Vergleich dazu fallen Plot und Text sehr ab.


Christian Künne: Wiedererwachen


Dieser Text ist mein Highlight in dieser Ausgabe des Weltenportals. Er hat eine sehr beeindruckende, melancholische Sprache, die die Innenwelt des Protagonisten lebendig beschreibt. Dieser ist auf der Reise zu einem Ort, den er mit einer verflossenen Liebe verbindet. Nach und nach erfährt man, dass die Geliebte den Erzähler für einen anderen Mann verlassen hat. Diesen sammelt der Erzähler ein und sie fahren gemeinsam ans Meer, durch völlig verlassen wirkende Landschaften. Landflucht und Klimawandel werden hier nebenbei vermittelt, bilden die Stimmungslandschaft für das, was im Prota passiert. Ich will hier die Wendung am Schluss nicht verraten, für mich kam sie überraschend und veränderte meinen Blick auf die gesamte Geschichte.


Interviews mit Marlene von Hagen, David A. Lindsam und Sven Haupt


Die Interviews zeigen drei Autor*innen, die sehr verschiedene Herangehensweise und Ansprüche an ihr Schreiben haben. Marlene von Hagen steht für Schreibende, die Unterhaltung und das Eintauchen in andere Welten fokussieren – eine für mich eher uninteressante Herangehensweise. Lindsam und Haupt haben einen anderen Anspruch und beschäftigen sich mit tieferen Ebenen in ihren Texten, wobei ich mich in Lindsams Äußerungen sehr wiedergefunden habe, weil er eine ähnliche Idee beschreibt wie die, die ich verfolge (alltägliche Themen durch Verfremdung eingehender zu betrachten). Haupt beschreibt nachvollziehbar, dass und warum er verstören möchte. Besonders gelungen an dieser Interviewzusammenstellung finde ich, dass die in Deutschland so übliche Unterscheidung in unterhaltende und ernsthafte Literatur nicht aufgenommen wird. Die drei Herangehensweisen stehen ohne Wertung nebeneinander und bekommen ähnlich viel Raum.


Volker Dornemann: Tauschgeschäft


Nach einem ansprechenden Beginn – jemand wacht an einem See auf und fühlt sich verändert – folgt ein zu ausführlicher und langweiliger Infodump-Block, in dem wir erfahren, dass es seit Kurzem Menschen mit parapsychischen Begabungen gibt, die gejagt werden. Der Prota findet heraus, dass er in einem fremden Körper steckt und im letzten Satz erfahren wir, warum er das sogar gut findet. Sprachlich ist der Text glatt, ohne Besonderheiten. Das macht ihn gut lesbar, aber es fehlt ihm eine eigene Stimme, die ihn für mich interessant machen würde. Auch der Prota bleibt blass und der Plot ist recht generisch. Für mich bricht die Geschichte auch recht unvermittelt ab, ohne den Spannungsbogen wirklich zu beenden.


Meara Finnegan: Der Duft von Lavendel


Bei dieser Fantasy-Detektivgeschichte mit Shirley Houmes und Jane Wadson folgen wir den beiden Ermittlerinnen in ein Spukhaus. Eine Frau mit reisendem Ehemann hat Angst, weil sie Geräusche hört, außerdem ist die Bedienstete spurlos verschwunden. Wadson hat übersinnliche Fähigkeiten als Medium und kann Geister sehen, Houmes ist eine grandiose Beobachterin. Zusammen lösen sie den Fall, wobei für mich nicht alle Elemente an ihre Stelle fielen, so dass am Ende einige Fragen offen blieben, die ich lieber beantwortet gehabt hätte, wie beispielsweise wie genau die Bedienstete gestorben ist.
Das Ganze ist flüssig erzählt, bleibt aber trotz der Andeutungen, dass die Ermittlerinnen ein lesbisches Paar sind, sehr in konventioneller Sprache und Erzählweise verhaftet. Ich bin mir aber sicher, dass diese Sorte Text aufgrund ihrer Unterhaltsamkeit Liebhaber*innen findet. Leider wird die Moral für meinen Geschmack etwas zu aufdringlich vermittelt.


Kaia Rose: In Rauch aufgegangen


Die Mutter der Prota kann zeitreisen, wobei unklar bleibt, was davon sie steuern kann und was nicht, und was überhaupt ihre Motivation des Reisens ist. Als sie von einer Zeitreise verändert zurückkommt, wagt es die Prota lange nicht, sie anzusprechen. Als sie sich endlich traut, erfährt sie vom bevorstehenden Tod ihrer Tochter und versucht, diesen zu verhindern, indem sie selbst zur Mörderin wird.
Der Text ist atmosphärisch dicht, das finde ich eine große Stärke. Allerdings hat er viele Redundanzen, die das Lesen für mich anstrengend machen. Die Sprache ist leider sehr phrasenreich und der Plot für mich wenig nachvollziehbar: Warum wird die Prota zur Mörderin? Dass das den Tod ihrer Tochter nicht verhindert, erstaunt nicht. Im Gegenteil: Er sorgt dafür, dass die Prota ihre Tochter früher verliert, da sie ins Gefängnis muss, wo sie ohne ihre Tochter lebt. Zum Schluss kann sie selbst zeitreisen und es ist mehr Begegnung als vorher möglich.

Im Weltenportal folgt nun ein fiktives Interview mit einer Romanfigur (Liberty von Sarah Lutter) und Yvonne Tunnats Bericht zum Entstehen der Anthologie „Der Tod kommt auf Zahnrädern“. Hier gibt es interessante Einblicke in die Arbeit im Hintergrund der Anthologieentstehung.
Im Folgeartikel greift David A. Lindsam das bereits weiter vorn angerissene Thema der fraglichen Einteilung in Genre- und ernsthafte Literatur auf, in dem er über Kazuo Ishiguros „Der begrabene Riese“ und dessen Rezeption schreibt. Den Abschluss bilden vierzehn Rezensionen von verschiedenen Autor*innen, die rezensierten Bücher bilden einen bunten Querschnitt durch die Fantastiklandschaft und sind alle gut lesbar und nachvollziehbar begründet. Es folgen die Vitae der Beitragenden, die nicht mit einer Kurzgeschichte vertreten sind, und eine Liste der Content Notes der Kurzgeschichten (wobei der von mir bemängelte Ableismus in „Der letzte Splitter Farbe“ nicht benannt wird, was meine Vermutung erhärtet, dass er Autorin und Herausgeber entgangen ist).

Ich habe das Heft mit etwas Wehmut geschlossen. Positiv zu benennen ist, dass jeder Text eine Illustration bekommen hat und dass es hier einmal, wie leider in kaum einem Phantastikmagazin, keinen Überhang männlicher Autoren gibt (sondern ein umgekehrtes Geschlechterverhältnis mit einem Frauenüberschuss). Es gibt nicht nur heterosexuelle Beziehungen und somit mehr Diversität als leider noch üblich. Die Illustrationen sind abwechslungsreich und zu den Texten passend. Insgesamt habe ich das Gefühl, dass die ausgewählten Texte zwar vielfältig sind, ihre handwerkliche Qualität aber der schönen und liebevollen Aufmachung nicht wirklich gerecht wird. Auch sind bei den Kurzgeschichten originelle Beiträge in der Unterzahl. Hier würde ich mir eine Veränderung wünschen, einfach weil der Rest des Magazins so gelungen ist.


kategoriale Einschätzung


Aufmachung 3 von 3
Unterhaltung 1,5 von 3
Textauswahl 1,5 von 3
Originalität 0,5 von 3
Diversität 1,5 von 3
Tiefe 1 von 3
Sonderpunkte für Illustrationen: 3
Gesamtfazit: 12 von 21 möglichen Punkten