Sandra Bollenbacher und Dr. Benjamin Ziech (Hg.) Body Enhancements. Die Zukunft lesen in 13 Kurzgeschichten. Polarise

düstere Sammlung auf hohem sprachlichen Niveau

body enhancements

 

Am Anfang dachte ich: Ich habe eine zweite Lieblingsantho 2022 gefunden! Die Sammlung beginnt mit gut geschriebenen Texten voller beeindruckender Ideen: ein Autopilot für den Körper, Avatare, die man stundenweise mieten kann, eine Welt mit Todes-Chips. Leider hat sich das recht schnell geändert, denn mir fiel auf, dass alle Texte negativ enden. Zum Schluss konnte ich mit Sicherheit sagen: Dreizehn scheiternde Protas – das ist dann doch mehr, als ich genießen kann.
Nach fünf maximal düsteren Enden verlor ich die Lust an den Texten, nahm ich doch immer schon im Vorhinein an, dass es auch diesmal wieder bitter wird, was die Enden zu oft vorhersehbar machte. Hier wurden meines Erachtens viele tolle Möglichkeiten verschenkt und die Ausrichtung der Anthologie (an deren Ausschreibungstext ich mich noch gut erinnere) ohne Not eingeengt. Denn recht oft handelte es sich eben nicht um Verbesserungen, eine Übersetzung, die das Wort „enhancement“ auch zulässt, sondern um Zurichtungen, stellenweise bis ins Horrorhafte.


Auch gab es dann doch zu viele Texte mit bereits hinlänglich bekannten Ideen: Die implantierten Kontaktlinsen sind alles andere als neu, ebenso wie die Idee ferngesteuerter Menschen, ohne dass im Weltenbau hinlänglich klar wurde, welchen Sinn das in dieser Welt ergibt. Nicht zuletzt fällt auf, dass einige Texte klassische Geschlechtsrollenbilder unwidersprochen fortführen: So sind es auch hier immer die Mütter, die sich um Kinder kümmern, während die Väter auf Arbeit oder abwesend sind. Und: Leider gibt es in zwei Texten deutlichen Ableismus. Um dies zu zeigen, werde ich daher hier von meiner Regel abweichen und auch etwas zu den Texten schreiben, die mir nicht gefallen haben.
Insgesamt lässt sich trotz meiner Kritikpunkte feststellen, dass das sprachliche Niveau der Texte hoch ist. Bis auf wenige Ausnahmen lassen sie sich gut lesen und sind stimmungsvoll und atmosphärisch gelungen.
Auch in dieser Anthologie stehen die Vitas vor den Texten, wobei sie alle recht konventionell und nicht sehr interessant zu lesen sind. Inhaltshinweise gibt es nicht, bei den krassen Inhalten mancher Texte hätte ich mir eine Vorwarnung gewünscht.

Lea Baumgart: Drive

Einfühlsam wird die Begegnung zweier Jugendlicher beschrieben, die ich zunächst für Kinder hielt und deren Alter vage bleibt, die dann aber doch älter sein müssen. Ich mochte es, wie die keimende Liebe zwischen beiden beschrieben wird und wie der eine von seinen Erlebnissen mit einem implantierten „Drive“ berichtet, dem der andere nicht ganz traut. Zu Recht, wie sich dann herausstellt. Leider wird die Auflösung für meinen Geschmack etwas zu sehr auf dem Silbertablett serviert. Der Text endet, bevor eine Idee entsteht, wie der Prota mit dem hinzugewonnenen Wissen umgeht.

 Helen Winter: Avatar-Kind

Eine Jugendliche erklärt sich bereit, einen Avatar zu nutzen, um Freiheiten zu haben, die ihre Eltern ihr sonst nicht zugestehen würden. Das ist sprachlich ansprechend und sensibel geschildert, ich mochte das gern. Allerdings finde ich die Schilderungen, wie es ist, den Avatar zu nutzen, dann etwas blass, und die Entscheidung, den letzten Teil der Geschichte aus einer anderen Perspektive zu schildern, hat mich auch nicht überzeugt. Trotzdem ist der Text inhaltlich so spannend, dass er einige Fragen aufgeworfen hat, die mich durch den Tag begleitet haben.

Simon Krappmann: Dezimal

In dieser bedrückenden Geschichte leben die Protagonist*innen in einer überbevölkerten Welt, in der durch Zufall Personen ausgelost werden, die getötet werden. Ein derartiger Weltenbau, in der weltweit jede zehnte Person sterben muss, ist wenig glaubwürdig, vor allem, weil die damit verbundene bedrückende Atmosphäre für niemanden lebenswert wäre und man mit der damit verbundenen Logistik ganz andere Problemlösungen finden könnte. Aber Krappmann schildert diese Atmosphäre sehr gelungen und erzählt eine so berührende Geschichte um ein Paar, das viel opfert, um einander zu retten, dass ich da gern mitgegangen bin. Kaum ein Text hat mich so berührt wie dieser!

R. West: Hamburg, 2054

Auch hier ist eine sehr berührende Geschichte gelungen: Zwei Personen treffen sich in einer Warteschlange, sensibel wird die Begegnung der beiden beschrieben. Sie bekommen die gewünschten Enhancements – und können sich nicht mehr wirklich begegnen. Ich mochte, wie dies genau beobachtet und in kleinen Gesten gezeigt wird.

Vaire J. Varitz: Sternenstaub

Eine Person lebt mit der Mutter allein und geht zum getrennt lebenden Vater, um sich Hörgeräte zu besorgen. Nur um zu erfahren, dass der Vater an der Taubheit Schuld ist und skrupellose Menschenexperimente durchführt. Natürlich hat die Mutter das alles verschwiegen.
Mich hat dieser Text weder sprachlich überzeugt, noch fand ich den Plot gelungen: Er wirkte auf mich ebenso eindimensional wie die wenig ausgearbeiteten Figuren. Auch die Grundannahme, dass ein gehörloser Mensch sich nichts weniger wünscht, als hören zu können, finde ich schwierig.

Anna Wick: Gehirnforst

In dieser sehr bedrückenden Geschichte verdient eine Person ihr Geld damit, Dinge zu lernen und das Wissen dann zu verkaufen. Es wird berührend und einfühlsam beschrieben, wie die Person bei jedem Verkauf mehr verliert als nur die Erinnerung an das Gelernte. Mir haben die atmosphärisch dichten Schilderungen sehr gefallen, auch die eigenen Bilder, die Anna Wick findet. Die Idee des Verkaufs von Erinnerungen ist zwar bekannt, in dieser Form habe ich sie aber noch nie gelesen.

Britta Redweik: Kindheitstraum

Der Text ist in gelungener geschlechtsneutraler Sprache geschrieben und spricht mich auch thematisch sehr an: Es geht um eine Person, die wegen ihrer Behinderung aussortiert wird. Leider wird die „Moral von der Geschicht“ mit dem Holzhammer vermittelt und der Text hat keine wirkliche Pointe.

Sabrina Sandig: Auge um Auge

Ich mochte den Anfang dieses Textes, die sensible Schilderung der Beziehung zweier Frauen, die in einem armen Stadtviertel wohnen und offenbar selbst arm sind. Gute Jobs bekommt in dieser Welt nur, wer implantiert ist und die Prota entscheidet sich für den sozialen Aufstieg, ohne ihre Partnerin darüber zu informieren. Dabei wird weder klar, warum sie diese Entscheidung trifft, noch warum sie danach quasi automatisch einen besseren Job hat. Das Ende erschien mir zu aufgesetzt horrorhaft, ebenso wie der irreführende Titel, der nicht zum Inhalt des Textes passt.

Ludo Brink: Autopilot

In schnoddriger Sprache wird von einem Protagonisten erzählt, der schlechte Jobs machen muss. Ich mochte die gefunden Bilder und auch die Phrasen, die zum Ich-Erzähler passen. Vor allem aber liebe ich die Idee, dass jemand einen Auto-Piloten für den eigenen Körper verwendet, der diesen eigentlich unmögliche Dinge tun lässt. Leider wird für mich nicht klar, warum der Prota ein Trophy-Wife hat (die natürlich nur durch Schönheit charakterisiert wird), und das Ende ist enorm vorhersehbar – da ich an dieser Stelle der Anthologie verstanden habe, dass alle Texte düster enden, weiß ich ab der Hälfte der Geschichte, was passiert. Schade, das hätte spannend enden können.

Gregor Wilhelmson: Need to know

Der Text spielt in einer Welt, in der die eigenen Erinnerungen an die Arbeitszeit den Firmen gehören. Die Erinnerungen einer Polizistin/Soldatin/Schlägerin werden ausgelesen. Dann soll sie jemanden zwingen, Erinnerungen herzugeben, wobei ihr Kollege unnötig grausam handelt, was sie zu einem Umdenken bewegt. Der Text ist gut geschrieben, aber in den Gewaltschilderungen und der geschilderten Welt so grausam, dass ich ihn nicht lesen mochte und mich damit sehr gequält habe.

Stuart, A. Smith: Vor dem Schreibtisch

Um Schulden abzuarbeiten, werden Leute zu Arbeiten verdonnert, für die sie körperliche Modifikationen brauchen, die ekelhaft sind und en Detail beschrieben werden. Ich fand das so widerwärtig, dass ich bei der zweiten Schilderung von mir unsinnig erscheinenden Zurichtungen abgebrochen habe.

Esther Geisslinger: Und am Himmel die Drachen

In dieser Welt haben alle Personen Vii-Linsen und leben in virtuellen Welten. Eine Frau weigert sich: Sie will weder sich noch ihr Kind implantieren lassen, wobei sie mit ihrem Kind wenig beziehungsvoll umgeht. Als sie als Künstlerin zu einer Ausstellung eingeladen wird, nutzt ihr Mann das, um hinter ihrem Rücken das Kind implantieren zu lassen. Es bleibt unerklärt, warum er so handelt und warum die beiden überhaupt ein Paar sind. Besonders geärgert hat mich aber die Ausstellung: Es sind nur Menschen mit Behinderung eingeladen, wogegen sich die Hauptperson verwahrt. Die implizite Grundannahme, es sei entwürdigend, als behindert betrachtet zu werden, obwohl man es nach eigenem Befinden nicht ist, finde ich mehr als fragwürdig; die Protagonistin zeigt eine ausgrenzende „mit denen will ich nichts zu tun haben“-Einstellung, die im Text nicht problematisiert wird. Im Gegenteil: Der Text funktioniert nur, wenn man dieser Prämisse folgt.

Florian Koch: Rot

Ohne Chip gibt es keinen Job, aber ohne Geld bekommt man keinen Chip. In dieser unnötig brutalen und sexistischen Geschichte wird eine Frau bei einem Bewerbungsgespräch als „Kleine“ entwertet und klaut nachher einen Chip, von dem mir unklar bleibt, wie er implantiert werden soll und warum er blinkt. Der Sinn des Textes erschloss sich mir nicht.

kategoriale Einschätzung:

Aufmachung 2 von 3 (e-book)
Unterhaltung 2 von 3
Textauswahl 1,5 von 3
Originalität 1,5 von 3
Diversität 1 von 3
Tiefe 2 von 3
Gesamtfazit: 10 von 18 möglichen Punkten