Judith Vogt, Lena Richter, Heike Knopp-Sullivan (Hrsg.): Queer*Welten 10-2023

volle Ladung queere SF

qw10 front bw 700x1001Das Vorwort äußert sich diesmal zu jeder Kurzgeschichte und ordnet diese ein – und legt dar, dass diese Jubiläumsqueerwelten einen Science-Fiction-Schwerpunkt hat. Da bin ich natürlich sofort begeistert!

Melanie Vogltanz: No Filter

Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich eine Kurzgeschichte mit wechselnden Perspektiven gelesen habe, die mich wirklich überzeugt hat: Sem und Eris begegnen sich, weil Sem die alte DVD-Sammlung der Mutter verkauft. Und Eris sammelt alte DVDs, aus Zeiten, in denen nicht jeglicher Content zensiert wurde, so wie es jetzt in dieser Welt passiert. In kleinen Szenen wird deutlich, was das bedeutet. Der Text schildert sensibel das Zusammentreffen beider Personen und zeigt einen Umgang mit potenziell verstörenden Inhalten auf, der ohne Verbote auskommt.
Mich hat dieser Text begeistert. Es ist genau die Sorte Text, die ich mir für meine „Psyche mit Zukunft“-Ausschreibung wünsche: sprachlich schön, mit eigenen Bildern und Vergleichen, inhaltlich dicht und mit mehreren Ebenen (da wird nebenbei noch eine Mutterbeziehung aufgemacht und eine Freundschaft erzählt), und mit ausgefeilten aber nicht übererklärten Charakteren, die mit ihren Eigenheiten sensibel dargestellt werden.
Hachz! Ich liebe diesen Text!

Eleanor Bardilac: Brunnenlied

Dieser Text besticht durch seine lyrische, bildreiche Sprache. Er besteht aus vier Teilen mit verschiedenen Perspektiven: ein Du, ein Er, ein Ich und wieder ein Du. Ich glaube, verstanden zu haben, dass in dieser Welt Tiere und Menschen mit technischer Hilfe Verbindungen eingehen und sich manche Menschen in diesen Verbindungen verlieren. Der Rest blieb mir großenteils unverständlich. Vielleicht muss man Iwein kennen, um das zu verstehen, mir gelang nicht wirklich ein Zugang.

Simon Klemp: Der Seelenpartnertest

Ein schwules Paar lebt miteinander und es geht ihnen gut. Aber der Ich-Erzähler möchte diesen gerade sehr modernen Test machen und herausfinden: „Sind wir Seelenpartner?“ Natürlich ist der Test negativ. Wem soll er nun glauben: seinem Erleben oder dem Test?
Der Text geht mäandernd dieser Frage nach; in einer leicht lesbaren und an manchen Stellen lyrisch anmutenden Sprache, die gelegentlich einen Zeh ins Kitschwässerchen tunkt, erfahren wir von den Versuchen des Erzählers, seine Wahrheit zu finden. Mir wurde er dabei immer unsympathischer. Das Ende der Geschichte hatte für mich einen Schlenker zu viel – dass der Prota nun übergriffig wird und seine Freundin küsst, ergab für mich nicht viel Sinn und wäre für die (für mich sehr passende) Aussage des Textes auch unnötig gewesen. Auch ist der schwule Mann mit der Hetero-Freundin schon fast ein Klischee. Trotzdem habe ich diesen Text gern gelesen.

Eva-Maria Obermann: Zwischentöne

Ich musste dieses Gedicht mehrfach lesen, bis es sich mir erschlossen hat. Tatsächlich geben die Inhaltshinweise hier einen Tipp zu einer möglichen Lesart und so kann man den Text als Aussage über Diskriminierung lesen. Er hat keinen fantastischen Gehalt, hebt sich somit von den anderen Texten ab. Ich mochte die bildhafte, aber einfache Sprache, die Verdichtung und auch die Rhythmik dieses Textes. Nur in der letzten Zeile gibt es für mich ein Stolpern.

Jol Rosenberg: Unterschied

Ich hoffe, dass sich zu diesem Text andere Leute äußern.

Clara Maj Dahlke: Sarah

Dieser Text in Tagebuch- oder Logform spricht von einem Du, eine Perspektive, die ich oft sperrig zu lesen finde. Dieser Text ist eine Ausnahme: Die lyrische, dichte, sehr emotionale Sprache nahm mich schnell gefangen: „Will mich einkokonieren, mein metallenes Selbst in samtige Schale hüllen und so bei dir liegen“ - das ist so menschlich und berührend.
Erzählt wird eine postapokalyptische Geschichte: Eine KI rettet eine Frau und vielleicht ist diese der letzte Mensch. Sie lebt mit der KI, die unter anderem einen Androidenkörper bewohnt. Und natürlich kann sie sich nicht mit diesem Leben zufrieden geben, auch wenn es sicherer wäre, sich nicht hinauszuwagen. Ein Text, nach dem ich lange still saß und ihn einfach nachwirken ließ, wunderschön!

T.B. Persson: Auf Nimmerwiedersehen, Mittelerde – Über queere Unterkünfte, tote „Südländer“ und die Macht des Unsichtbaren

Anhand von Tolkiens Werk geht Persson sehr gezielt der Frage nach, wie Ein- und Ausschlussprozesse funktionieren und sich in Texten oder Filmen niederschlagen. Persson schafft es dabei, gleichzeitig fundiert und persönlich zu sein und das Thema in einer leicht lesbaren Sprache auszubreiten. Ein anregender Text!

Postkarten aus queeren Welten

Die abgedruckten Postkarten sind eine bunte Mischung verschiedener Herangehensweisen an das Thema „Postkarten aus queeren Welten“. Sie sind oft auch optisch sehr ansprechend. Ich hatte Spaß an den fiktiven Stempeln und Adressen, allerdings habe ich mich bei manchen Karten gefragt, was daran queer sein soll. Bei anderen hingegen wirkte mir die Queerness zu aufgesetzt. Und dann gab es die Karten, die mich begeistert haben, weil ich sie als so spielerisch und leicht und doch so ermutigend empfunden habe, wie die von Fräulein Kirsten oder gregoere.

Judith Vogt, Lena Richter, Heike Knopp-Sullivan (Hrsg.): Ein Queer*Welten-Werkstattbericht

Hier wird ein Blick hinter die Kulissen geboten: Wie die Queer*Welten-Hefte entstehen, was für Schwierigkeiten es gab, was Spaß gemacht hat; die Verleger*innen plaudern aus ihren Erfahrungen. Erstaunliches ist hier kaum zu finden, eher werden meine Vermutungen bestätigt. Wobei: Die hohe Quote angenommener Geschichten hat mich dann doch erstaunt. Sie ist bei den meisten Ausschreibungen für Anthologien wesentlich geringer.

Queertalsbericht

Wie immer schließt das Heft mit Veranstaltungshinweisen und Rezensionen. Diesmal kenne ich einige der Bücher schon, bei anderen gibt es kurze und knackige Eindrücke, die in mir die Bücherkauflust entfacht haben.

Fazit:
Insgesamt ist das meine bisherige Lieblingsausgabe der Queer*Welten. Ich mochte zwei Texte sehr und fand die anderen ansprechend, auch mit den Kurzformaten kann ich etwas anfangen. Meine Vermutung, dass Science-Fiction meine Lesezufriedenheit steigert, wird somit erhärtet. ;) Um so mehr freue ich mich, Teil dieser tollen Ausgabe zu sein und wünsche ihr viele Leser*innen.


Aufmachung 2 von 3
Unterhaltung 2,5 von 3
Textauswahl 2,5 von 3
Originalität 2,5 von 3
Diversität 2,5 von 3
Tiefe 2 von 3
Gesamtfazit: 14 von 18 möglichen Punkten