Lena Richter: Dies ist mein letztes Lied. Ohneohren

berührend und viel zu schnell vorbei

Letztes Lied Cover

 

Diesen Schreibstil habe ich sofort geliebt: eigene Bilder und trotzdem leicht lesbar, eine flüssige Sprache, die das Beschriebene in mir lebendig werden lässt. Die Hauptperson Qui wächst in einer zukünftigen Welt auf, in der Qui eigene Träume langsam vergisst und zwischen Ablenkung und Arbeit pendelt – genau wie Quis Freund*innen. Als es darum geht, auf einem klavierähnlichen Instrument zu spielen, um drei Drinks zu gewinnen, sitzt Qui erstmals seit Jahren wieder an einem Instrument. Aus Quis Fingern fließt ein Lied, das die gesamte Sehnsucht und Ausweglosigkeit fasst, und es erscheint eine magische Tür, die nur Qui durchschreiten kann. Qui geht – und begibt sich in ein neues, unerklärliches Leben.

 

 

In den acht Kapiteln dieses Buches spielt Qui jeweils ein Lied. Qui wird von einer Situation in die nächste geworfen und mit Qui gemeinsam versuchte ich zunächst, einen Sinn in dem Ganzen zu entdecken. Für mich ist Quis vergebliche Suche nach Sinn und Erklärungen ein Gleichnis auf das Leben, in dem wir nur beitragen können, was wir zu geben haben, meist ohne zu wissen, ob es etwas bewirkt und wenn ja was. Mit Qui durchschreiten wir verschiedene Welten und Planeten. Alle sind von Menschen bewohnt. Viele der Welten erscheinen recht düster und hoffnungslos, manche auch hinlänglich bekannt: der Planet zweier Gruppen, die sich ständig bekriegen, das Schiff mit den schlafenden Flüchtenden, das Gefangensein zwischen Alltag und Eskapismus – all das sind bekannte SF-Themen. Lena Richter gelingt es, ihnen allen einen neuen Aspekt abzugewinnen. Und immer wenn ich dachte „Jetzt habe ich verstanden, nach welchem Muster dieses Buch funktioniert!“ schlug es einen Haken und ging anders weiter. So dachte ich zunächst, dass jedes Kapitel eine Notlage behandelt, die wir alle kennen, aber beständig ignorieren: Flüchtende, Kriege, Verhungernde, Leiden unter Verstrahlung, Klimawandel – das alles kommt vor. Aber dann geht es im nächsten Kapitel um Vergänglichkeit und das Wissen, nichts festhalten zu können, und meine schöne Theorie ist dahin.

Lange habe ich mich beim Lesen gefragt, wie Qui eigentlich die Einsamkeit erträgt. Was Qui eigentlich für eine Person ist. Die Hauptperson dieses Buches blieb für mich schwer fassbar, irgendwie schien da etwas zu fehlen – und gleichzeitig merkte ich, dass mich das nicht die Bohne stört. Was wirklich merkwürdig ist. Lena Richter hat mit der Ich-Perspektive eine sehr figur-nahe Perspektive gewählt, wir sind quasi in Qui drin, verfolgen Quis Suchen und Leiden. Dass Qui dabei so wenig fassbar bleibt, scheint die Figur gerade auszumachen. Quis Sprechstimme ist einfach und gleichzeitig berührend, ohne dass ich sie je als kitschig empfand: „Ich bin Zeugnis all jener, die mich getragen haben, mich gerettet, berührt, geliebt. Mein Weg ist ihr Weg.“ Das ist weise und für mich stimmig, und gleichzeitig seltsam vage, wie vieles in diesem Buch.

Als große Stärke des Buches empfinde ich, dass es mich berührt. Quis Begegnungen mit verschiedenen Personen werden einfühlsam geschildert, ebenso wie Quis Suche. Irgendwann spürt Qui, wann das letzte Lied für den jeweiligen Ort näherkommt, wann die Tür erscheinen wird. Die Türen bleiben dabei ein unerklärliches, rätselhaftes Element; ich habe sie als Übergänge im Leben interpretiert, als die Zeiten, über die wir erst danach sagen können, dass sich da etwas wesentlich verändert hat. Qui erahnt also irgendwann, wann die nächste Tür kommt, und kann den Abschied gestalten – ohne zu wissen, wohin der Weg führt. Und so gelangt Qui irgendwann an den Punkt, an dem klar wird: „Dies ist mein letztes Lied“. Achtung, jetzt kommt ein Spoiler: Qui durchschreitet die letzte Tür, lange arbeitet Qui darauf zu. Und wir erfahren nicht, was hinter der Tür ist. Das ist einerseits folgerichtig, denn niemand von uns weiß, was sich hinter der letzten Tür befindet. Und gleichzeitig hat es mich bitter enttäuscht, denn für mich ist es, als würde das letzte Lied mit der Dominante enden … es hängt irgendwie offen da herum und ich möchte zur Gitarre greifen und den abschließenden Akkord spielen – wenn ich ihn denn kennen würde.
Ob das nun genau so sein muss, weil das Leben nunmal so ist, oder nicht, weil Geschichten eben irgendwie besser sein sollten als das Leben – ich kann mich nicht entscheiden. So oder so: Mir hat diese Novelle außerordentlich gut gefallen und ich wünsche ihr zahlreiche Leser*innen!

Unterhaltung: 3 von 3
Sprache/Stil: 2,5 von 3
Spannung: 2,5 von 3
Charaktere/Beziehungen: 2 von 3
Originalität: 2,5 von 3
Tiefe der Thematik: 2,5 von 3
Weltenbau: 3 von 3
Gesamt: 18 von 21