Sandra Bollenbacher und Dr. Benjamin Ziech (Hg.) Body Enhancements. Die Zukunft lesen in 13 Kurzgeschichten. Polarise

düstere Sammlung auf hohem sprachlichen Niveau

body enhancements

 

Am Anfang dachte ich: Ich habe eine zweite Lieblingsantho 2022 gefunden! Die Sammlung beginnt mit gut geschriebenen Texten voller beeindruckender Ideen: ein Autopilot für den Körper, Avatare, die man stundenweise mieten kann, eine Welt mit Todes-Chips. Leider hat sich das recht schnell geändert, denn mir fiel auf, dass alle Texte negativ enden. Zum Schluss konnte ich mit Sicherheit sagen: Dreizehn scheiternde Protas – das ist dann doch mehr, als ich genießen kann.
Nach fünf maximal düsteren Enden verlor ich die Lust an den Texten, nahm ich doch immer schon im Vorhinein an, dass es auch diesmal wieder bitter wird, was die Enden zu oft vorhersehbar machte. Hier wurden meines Erachtens viele tolle Möglichkeiten verschenkt und die Ausrichtung der Anthologie (an deren Ausschreibungstext ich mich noch gut erinnere) ohne Not eingeengt. Denn recht oft handelte es sich eben nicht um Verbesserungen, eine Übersetzung, die das Wort „enhancement“ auch zulässt, sondern um Zurichtungen, stellenweise bis ins Horrorhafte.

Christoph Grimm (Hg.) Weltenportal Nr 4. 11/2022

Liebevoll gemachtes Heft
Weltenportal 4Was sofort auffällt, wenn man dieses Heft in die Hand nimmt, ist die liebevolle und aufwendige Gestaltung. Die Illustration nimmt fast den gesamten Raum ein, die Schrift ist sehr zurückhaltend am oberen Ende der Seite platziert. Zu sehen ist eine futuristisch-asiatisch wirkende Großstadt; im Vordergrund sind zwei Figuren mit gebogenen Schwertern und auf der Rückseite eine kindlich wirkende Figur mit retrofuturistischem Helm. Der glänzende Kartoneinband lässt die Farben der Illustration brillant wirken, auch innen sprechen der großzügige Satz und die vielen Illustrationen in verschiedenen Stilen an. Die Mischung aus Kurz- und Kürzestgeschichten, einem Comic, Interviews, einem Werkstattbericht und Rezensionen wirkt ebenfalls durchdacht. Das „Weltenportal“ ist gratis als pdf zu haben, ich finde aber eindeutig, dass sich der Kauf der Printausgabe lohnt, denn so hat man einfach mehr von den Illustrationen.


Inhaltlich haben mich die Interviews und Rezensionen sehr angesprochen. Nicht alles traf meinen Geschmack, aber es ist eine breite Vielfalt von Literatur in der Phantastik abgebildet und da wird sicher jede*r etwas finden. Eine Enttäuschung waren dagegen für mich die Kurzgeschichten. Die beiden Kürzestgeschichten von Volker Dornemann empfinde ich als wenig gelungen, da kenne ich aus dem Englischen wesentlich ansprechendere und überraschendere Texte. Von den dreizehn längeren Kurzgeschichten gibt es eine, die mich wirklich überzeugt hat und zwei die ich gut lesbar und unterhaltsam fand. Drei Texten konnte ich immerhin etwas abgewinnen, aber die restlichen sieben Texte hatten entweder gravierende sprachliche Mängel oder so althergebrachte, und für Viellesende wie mich zu oft verwendete oder unlogische (oder schlicht fehlende) Plots, dass ich mich gefragt habe, warum sie für dieses Heft ausgewählt wurden. Manches davon mag einfach Geschmackssache sein – Texte verlieren mich, wenn sie sehr adjektiv- und phrasenlastig sind oder einen blumigen Stil pflegen –, anderes fällt vielleicht Leuten nicht auf, die nicht so viel lesen (was ich bei Herausgeber Christoph Grimm nicht annehme), aber an zu vielen Stellen scheint es schlicht am Handwerklichen zu fehlen, wenn beispielsweise Wendungen und Wörter sinnentstellend benutzt werden oder Sätze umständlich formuliert sind. Hier hätte ein gutes Lektorat sicher einiges reißen können. Vielleicht ist es die Idee dahinter, Neulingen einen Ort zu bieten, dagegen spricht allerdings die Tatsache, dass ich doch einige der Namen bereits kannte. Ich werde hier nur über die Texte schreiben, denen ich etwas abgewinnen konnte, einfach um die Kritik in Maßen zu halten.

Kim de L’Horizon: Blutbuch. Dumont

intim und sprachgewaltig

BlutbuchAls dieses Buch den Deutschen Buchpreis 2022 gewann, war Autorj Kim de L’Horizon in aller Munde. Ich las zunächst Interviews mit Kim und fand die geäußerten Sichtweisen interessant. Also kaufte ich mir das Buch.

Was mir zuerst auffiel, war die Sprache. Sie fließt schnell, ist lyrisch anmutend, dicht, scheint irgendwie immer schneller zu sein, als ich lesen kann. Der Text zog mich rasch in seinen Bann, vor allem wegen dieser Sprache, aber auch wegen des Inhalts: Eine Person, die dem Namen nach mit Kim de L’Horizon identisch ist, sucht nach der eigenen Biografie, den eigenen Wurzeln und versucht, so zumindest meine Interpretation, sich darüber selbst zu erschließen. Ich empfand den Text, auf dem zwar Roman steht, der aber keinen klassischen Formen folgt und auch keinen Spannungsbogen im klassischen Sinne hat, als psychoanalytisch in seiner Suche nach dem Verschwiegenen, dem Nicht-Aussprechbaren, dem Tabuisierten. Kim geht dabei den intergenerationalen Traumata nach, dem körperlich eingeschriebenem Schmerz, der, so meine Interpretation, sich auch in Kims schwierigem Verhältnis zum eigenen Körper äußert.
Kim schreibt von einem Ich, von dem für mich unklar bleibt, ob es mit Autorj-Kim identisch ist oder nicht. Autorj-Kim treibt die Verschleierung an dieser Stelle auf die Spitze, indem in den biografischen Angaben als Geburtsort „Gethen“ und als -jahr 2666 angeben ist: Es könnten die von Hauptperson Kim sein, müssen aber natürlich nicht. Spannend für mich ist natürlich der Verweis auf Science Fiction. Gethen ist ein Planet in „The Left Hand of Darkness“ von Ursula K. Le Guin, einer Autorin, die mich sehr beeinflusst hat und die schon 1969 eine Gesellschaft geschildert hat, in der Geschlecht irrelevant ist. Mit „2666“ konnte ich nichts anfangen, aber eine Google-Suche ergibt, dass es der Titel des letzten Romans des chilenischen Autors Robert Bolano ist, der, ebenso wie das „Blutbuch“ fünf Kapitel hat und offenbar begeistert aufgenommen wurde.

Stefan Cernohuby (Hg): Facetten der Zukunft: Science-Fiction made in Austria. ohneohren

abwechslungsreich und sprachlich solide

facetten cover webEin Feuerwerk von Ideen und verschiedenen Erzählstimmen, sprachlich schöne, etwas ausgefallene Texte und viel Protanähe – das war es, was ich mir von dieser Anthologie erhoffte. Konventionelle Sprache reizt mich ebensowenig wie konventionelle Plots mit viel Action und wenig Beziehungsgestaltung. Aufgrund der Vielzahl an Kurzgeschichten, die ich lese (im Jahrgang 2022 waren es nur im Bereich SF bislang über 200), kenne ich viele Ideen und Plots, es ist daher schwer, mich zu überraschen. Auch fiel mir auf, dass ich nicht die einzige schreibende Person zu sein scheine, der es schwer fällt, überzeugende Enden für die eigenen Texte zu finden.
Nun, es ist vielleicht bereits ahnbar: Ich wurde enttäuscht. Trotzdem denke ich, dass andere Lesende hier sicher Spaß haben – vor allem, wenn ihre Lesevorlieben eher den SF-Konventionen á la Perry Rhodan entsprechen.
Von dreizehn Texten gefielen mir nur sechs, zu denen ich hier etwas schreiben werde, allerdings gibt es keinen Text, der mich richtig begeistert hat. Meines Erachtens gelungen ist die Auswahl abwechslungsreicher Texte, es gibt keine thematischen Häufungen. Auch das Cover ist ansprechend, wobei der e-book-Satz für mich gewöhnungsbedürftig war, denn statt Leerzeilen sind durchgehende Linien enthalten, die etwas sperrig wirken.

Ingrid Pointecker (Hrsg.): Hereinspaziert. Ohneohren

solide erzählte Texte

hereinspaziert cover webEine Steampunk-Anthologie, bei der marginalisierte Personen im Fokus stehen – das konnte ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Das im Inhaltsverzeichnis angekündigte Vorwort habe ich in meinem ebook nicht finden können, mein Buch beginnt mit Content Notes und der Vita des ersten Autors.

Fangen wir mal ausnahmsweise mit dem Fazit an, denn meine Einzelrezensionen der Texte spoilern teilweise. Diese Anthologie ist für mich etwas Besonderes: Es ist die erste Antho, die ich gelesen habe, in der ich alle Geschichten „ganz gut“ fand: Weder gab es eine, die mir gar nicht gefiel, noch gab es eine, die mich wirklich nachhaltig berührte und mir darum besonders gut gefiel. Viele der Texte hätte ich besser gefunden, wenn sie nicht so viele ähnliche Elemente enthalten hätten. Das bringt mich zu der Frage, was eigentlich ein gutes Thema für eine Anthologie ist. Ist die Klammer zu lose, fehlt der Textsammlung der rote Faden, ist sie zu eng, fehlt die Vielfalt. Hier habe ich das Gefühl, dass das Thema zu eng gestrickt war, denn mich haben die vielen thematischen Wiederholungen genervt: Immer wieder die Idee, dass Leute wegen ihrer Hässlichkeit ausgestoßen werden oder nicht liebenswert sind – auch wenn die Texte das implizit meist thematisieren, hat mich die Häufung des Themas doch abgeschreckt. Und immer wieder der böse Zirkusdirektor: Nach der dritten Geschichte, in der er vorkam, hat er mich doch gelangweilt. Ebenso wiederholt sich das Motiv, dass der Direktor dafür sorgt, dass seine Exponate geschaffen werden, er also an Menschen experimentiert oder experimentieren lässt, was mich in der Menge auch nicht recht überzeugen konnte.
Oft ist es Thema, wie die Unterdrückten und Ausgestoßenen ihr Leben selbst gestalten können, zu oft sind sie aber auch passiv und müssen sich retten lassen. Es geht um Rache, um ein anonymes Publikum, das zum Gegner wird. Fast alle der Texte spielen in Wanderzirkussen. Fast alle Texte sind sprachlich schön, aber nur wenige haben jene Perlen, die ich so genieße. Auch hat mich kein Text wirklich tief berührt, auch wenn sie fast alle atmosphärisch dicht sind.
Gibt es also keine Überraschungen? Doch: Nicht alle Geschichten haben ein düsteres Ende, wie ich es bei der Ausschreibung erwartet hätte. Erstaunlicherweise haben viele der Geschichten Enden, die mich nicht überzeugt haben. Also ist entweder meine Messlatte für gute Enden sehr hoch oder die Herausgeberin hat einfach einen anderen Ende-Geschmack als ich. In dieser Sammlung gab es einige Texte, die für mich sehr gut hätten sein können – wenn das Ende anders gewesen wäre.
Und dann noch die Frage der CNs und Vitae vor den jeweiligen Texten. Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, fand ich es , was die CNs angeht, für ein ebook gut. So finden Personen, die sie benötigen, sie gut, ich kann sie aber recht leicht wegwischen. Die Vitae hätte ich doch lieber nach dem jeweiligen Text gelesen. Davor machen sie sich sehr wichtig. Allerdings lässt sich festhalten, dass viele der hier vertretenen Autor*innen es hinbekommen haben, ihre Vita interessant zu gestalten ...

René Moreau, Heinz Wipperfürth und Hans Jürgen Kugler (Hrsg.): Exodus 44. Science-Fiction-Storys & Phantastische Grafik

solide Geschichten und hochwertige Illustrationen

Exodus 44Die „Exodus“ ist eine der tradierten Zeitschriften für Science-Fiction: Sie erschien in dreizehn Ausgaben bis 1980, machte dann 23 Jahre Pause und erscheint seit 2003 wieder halbjährlich. Auf rund 115 Seiten bietet die Zeitschrift nicht nur Kurzgeschichten Raum, sondern auch vielen hochwertig gedruckten Grafiken, einem Essay und Gedichten oder Micro-Fiction. Ich lese die Exodus seit gut zwei Jahren und habe hier auch schon etliche halbfertige Rezensionen liegen. Nie traute ich mich, sie in die Welt hinauszulassen bzw. hinke ich mit dem Lesen der Exodus stets so hinterher, dass immer schon die nächste Ausgabe erschienen ist, bis ich meine Rezension fertig habe. So ist es auch diesmal: Das Heft 44 erschien im April 2022 und inzwischen liegt hier Heft 45 auf dem Lesestapel.
Zuerst hatte ich den Fehler begangen, die Exodus als pdf zu kaufen. Ich kann es nicht empfehlen: Gerade die aufwändigen Grafiken – jede Geschichte ist großformatig illustriert – kommen so nicht wirklich zur Geltung, und das gedruckte Heft ist auch haptisch eine Freude. Heft 44 vereint, wie eigentlich alle Hefte, Texte bekannter Autor*innen mit Texten von Newcomern oder Unbekannten. Um ihm wirklich gerecht zu werden, möchte ich über alle enthaltenen Texte schreiben, um dann mein Fazit gut begründen zu können.

Judith und Christian Vogt: Laylayland. Plan9

düster und rasant

LaylaylandIch habe schon den ersten Teil „Wasteland“ sehr genossen und war daher sehr gespannt auf den zweiten Teil dieses Hope-Punk-Romans: „Laylayland“. Der Roman beginnt mit einer Zusammenfassung des ersten Teils, so dass man ihn auch lesen kann, wenn man „Wasteland“ nicht kennt. Diese Zusammenfassung wird in der Ich-Form geliefert und spricht die Lesenden direkt an, wobei zunächst unklar ist, wer dieses Ich ist. In der Folge erzählen dann die beiden Hauptfiguren Zeeto und Laylay abwechselnd, unterbrochen von Kapiteln von Root 2.0, einer Person, die sich selbst als Cyborg bezeichnet und das Pronomen ser verwendet. Dazwischen gibt es immer wieder Briefe, deren Sinn und Absender*in ich erst recht spät im Buch verstanden habe.

Mir fiel der Einstieg in das Buch aus drei Gründen nicht leicht: Erstens hatte ich zunächst Schwierigkeiten mit der Erzählstimme von Root 2.0, zweites war die Welt so düster und Zeeto und Laylay so vielen negativen Erfahrungen ausgesetzt, dass ich mich nur schwer darauf einlassen konnte. Und drittens mochte ich die Sache mit den Werwölfen nicht: Laylay ist ein Werwolf, eine sogenannte Ferales, eine gezüchtete Menschenunterart, die gegen das im Wasteland häufige Virus weitgehend immun ist. Werwölfe sind stärker als Menschen und heilen sehr schnell – sie können so auch schwere Verletzungen fast ohne medizinische Hilfe überleben. Laylay ist also eine Art Superheldin – was das für sie und ihre Identität bedeutet, wird im Buch ansatzweise beleuchtet, hätte aber meiner Meinung nach noch etwas mehr Tiefe vertragen können.

Aiki Mira: Neongrau. Polarise

düster und sprachgewaltig

mira neongrauDer Roman wirft mich gleich mit einem beeindruckenden Bild in eine heftige Szene: Go (Stuntboi) stürzt und wie es aussieht, ist der Sturz so heftig, dass sein/ihr Leben auf dem Spiel steht. Elba (Elll) hilft ihm, weil sie einen Auftrag hat. Ich bin sofort neugierig: Was für einen Auftrag hat sie? Warum ist dieser so wichtig? Was war das für ein Job, bei dem Go gestürzt ist und warum interessiert der Sturz ihre Arbeitsgeber nicht? Und was ist mit Ellls Gesicht, dass sie heftige Reaktionen darauf fürchtet?

Der Text zieht mich schnell in seinen Bann. Ich erfahre, dass Ellls Auftrag darin bestand, den Sturz hervorzurufen, damit Go den Job verliert. Natürlich wirft auch das wieder Fragen auf, Aiki Mira entwickelt hier gekonnt Spannung. Aber der Text hält sich nicht an klassische Erzählweisen und auf viele dieser Fragen habe ich auch nach Textende keine Antworten. Es gibt mit Go zwar eine Hauptfigur, aber sie bleibt, wie alle anderen Figuren auch, im Vagen, wird nie wirklich fassbar. Zwar sind fast alle Figuren vielschichtig, diese Vielschichtigkeit bleibt aber oft unbestimmt.
Ein Großteils des Textes erzählt von anderen Figuren: Da ist Gos Vater Tayo, der im Kampf um Geld für sich und Go den Kontakt zu ihr und allen anderen verloren hat, da ist Gos Mutter Ren, die die Familie schon vor Jahren für eine fixe Idee verlassen hat, da ist Elll, die vergeblich versucht, in Ren eine Ersatzmutter zu finden. Außerdem lesen wir von Ellls dauerbedrogter Mutter und Ellls Ziehvater und irgendwann von zwei Gamern, denen Elll und Go begegnen. Der Text ist wie ein Kaleidoskop, das mir immer neue und faszinierende Facetten der Welt zeigt, es aber gleichzeitig nicht erlaubt, zu fokussieren und sich etwas genauer anzusehen. Zahlreiche fantasievolle Details werden gezeigt, ihr Sinn im Weltenbau bleibt aber fast immer mysteriös. Ein Beispiel sind hier künstliche Vögel und Ratten. Immer wieder werde ich in neue kurze Szenen geworfen, es entstehen immer neue Fragen, die aber nie wirklich geklärt werden. Was eigentlich Gos Job war, habe ich erst nach dem Lesen des Buches erfahren, weil ich durch das Glossar geblättert habe. Dort erfahre ich, dass Stuntboi nicht nur Gos Netzname ist, sondern auch eine Jobbezeichnung für Promi-doubles, Stuntmen also, wobei sich mir nicht erschließt, wen Go doublen kann, wenn er nur Skateboardstunts beherrscht, die dazu noch völlig aus der Mode gekommen sind. Auch beantwortet das nicht die Frage, warum seine Arbeitgeber sich nicht nur nicht um seine medizinische Versorgung kümmern, sondern Elll noch dafür bestrafen, dass sie es tut. Ich nehme an, dass es Aiki Mira ganz oft nicht darum geht, eine nachvollziehbare und inhaltlich korrekte Geschichte zu erzählen. Im Zentrum steht dagegen eine dichte und unbedingt verstörende Atmosphäre – und Aiki Mira ist meisterhaft darin, diese darzustellen. Leider entspricht dies gar nicht meinen Lesevorlieben: Ich mag es, wenn Texte beziehungsvoll und verständlich sind, ich finde das reale Leben verstörend genug.

Aber weiter zum Text: Go und Elll verlieben sich ineinander, wobei sich eine hochtoxische Beziehung entwickelt, in der Elll nicht nur für ein Aneurisma verantwortlich ist, das Go sich beim Sturz zugezogen hat, sondern auch für seinen ersten Drogenkonsum und eine Menge anderer waghalsiger Aktionen. Insgesamt wird eine Welt gezeigt, in der alle handelnden Personen hochgradig bindungstraumatisiert und beziehungsgestört erscheinen: Tayo lebt in einer Parallelwelt und lauscht einem Guru, weil er seinen Job nicht aushält. Alles, was er tut, ist durch den Guru bestimmt. Sein einziger Freund ist jemand, den er für die Simulation einer Freundschaft bezahlt. Ren hat Tayo und Go vor Jahren verlassen und widmet sich seitdem der Idee, eine KI zu entwickeln, die das Leben vorhersagen kann und ihr so Macht ermöglichen soll, wobei die Idee wahnhaft wirkt, unter anderem auch, weil völlig unklar bleibt, was sie mit ihrer Macht zu tun gedenkt. Elll ist Ren hörig und lässt sich von ihr für allerlei Tätigkeiten ausnutzen, Ren ist es auch, die Elll beauftragt hat, dafür zu sorgen, dass Go seinen Job verliert. Warum bleibt bis zum Schluss im Unklaren.

Go bekommt nun mithilfe der KI, die Ren entwickelt hat, einen Job im Stadium, in dem die berühmten Profis VI-Turniere spielen. Dort lernt Go, eine genderfluide Person, die abwechselnd die Pronomen er und sie verwendet, die Spieler Ash und Phoenix kennen, die Go auch wieder nur ausnutzen und ebenfalls eine toxisch wirkende Beziehung zueinander pflegen. Das Buch baut nun Tempo auf, immer wieder ist jemand in Lebensgefahr: Massive körperliche Verletzungen, Vertrauensbrüche und das Ausnutzen Anderer sind an der Tagesordnung, die Welt ist düster und atmosphärisch dicht beschrieben. Gleichzeitig gibt es mir so unverständliche (weil unmögliche) Dinge, wie dass Elll angeblich als Baby mit einer Mischung aus Lack und Alkohol ernährt wurde, oder dass Go und Elll auf ein Gerüst klettern und ein Hemd als Hängematte verwenden, in der sie Sex haben. Auch die Erzählung von Gos Großeltern, die sich an den Schultern zusammengenäht haben, um sich dann als Kunstaktion zu suizidieren, gehört zu den im Roman erzählten Dingen, die absurd und unglaubwürdig wirken. Im Weltenbau sind Ratten, die gern in die Münder schlafender Menschen kriechen, ein Beispiel für derartige Bilder. Mein Gefühl ist, dass es Aiki Mira hier nicht um Glaubwürdigkeit geht, sondern um gekonnte Verstörung. Das Ergebnis wirkt auf mich stellenweise dadaistisch. Auch der Umgang mit Sprache erinnert mitunter an diese expressive Kunstströmung, wenn Aiki Mira beispielsweise schreibt: „Elll tanzt hinreißend expressiv. Brachial, athletisch, konkurrenzlos und aufregend selbstbewusst.“ (S. 140) Es ist ein kreativer Umgang mit Sprache, gleichzeitig ist es einer, der in mir keine Bilder entstehen lässt, immer wieder verstört, statt zu beschreiben. Ich war hier mehrfach an ein Podcastgespräch mit Aiki Mira erinnert, in dem wir über James Tiptree Jr. sprachen (Rewrite-Podcast, hier zu finden), eine Autorenperson, deren verstörende Sprache und Texte Aiki Mira liebt (und die ich quälend zu lesen finde).
Aiki Miras eigenwillige Vergleiche werfen mich oft aus dem Text, wenn Dinge beschrieben werden, die schlicht unmöglich sind (wie in einer stinkenden Umgebung nebeneinander gehend die Haare des Anderen zu riechen) oder die sich widersprechen: „Dort an den Wänden hängen riesige, gebärmutterähnliche Leiterplatten.“ (S. 81). Ich habe an dieser Sprache aber auch immer wieder große Freude gehabt und manche Sätze mit Genuss mehrfach gelesen. Aiki Miras Sprache ist somit für mich ein großer Punkt, der für diesen Text spricht. Gleichzeitig habe ich oft sprechende Beschreibungen vermisst. So weiß ich bis zum Schluss nicht, wie Elll eigentlich aussieht und was an ihrem Gesicht so verstörend ist, dass sie bei jeder neuen Begegnung davon ausgeht, deswegen gemieden zu werden. Es wird beschrieben, dass sie hässlich ist, eine bildlose und subjektive Bewertung, die ich in ihrer Entwertung schwierig finde.

Aiki Mira hat eine Erzählstimme geschaffen, die den Protagonist*innen nie wirklich nahe kommt, immer in der Schwebe bleibt, oft die Sprache über das Erzählte stellt. So werden oft bewusst Informationen vorenthalten, um Spannung zu erzeugen. Das funktioniert insbesondere in der zweiten Hälfte des Textes gut, hier hat das Buch fast schon Pageturnerqualitäten. Dabei fieberte ich immer mit, ob Go, Elll, Tayo und Ren nun leben oder nicht. Niemand von ihnen hat irgendein Ziel (zumindest kein für mich nachvollziehbares), alle sind Getriebene, deren Leben steht ständig auf dem Spiel steht. Es gibt brutale Kämpfe, diverse körperliche und psychische Übergriffe und viel Drogenkonsum. Für meinen Geschmack war die Welt deutlich zu düster. Der einzige Lichtblick sind für mich Go und Tayo, wobei Tayos Naivität für mich unglaubwürdig scheint: Er lässt sich immer wieder ausnutzen und über den Tisch ziehen. Auch sein Festhalten an der Liebe zu Ren bleibt für mich nicht nachvollziehbar. Und hier kommen wir zu einer für mich gravierenden Schwäche des Textes: den Beziehungen. Die einzige Person, die sich wirklich um jemand anderen bemüht, ist Tayo, der sich um Go bemüht. Aber er ist dabei enorm unbeholfen. Die während der Erzählung entstehenden Beziehungen sind dagegen für mich in ihrer toxischen Ausprägung schwer auszuhalten. Go bezeichnet Phoenix und Elll als Freunde, wird aber von beiden lebensgefährlich verletzt. Die Schnelligkeit, mit der Go ihnen vertraut, ist für mich nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar. Ebenso, dass sie das erneut tut, nachdem sie von beiden schlecht behandelt worden ist.
Schwierigkeiten hatte ich auch mit dem Ende des Buches. Achtung, hier werde ich massiv spoilern! Bei einem derart düsteren Weltenbau habe ich keine Lichtblicke mehr erwartet – und nun gibt es sie völlig unvorbereitet. Die Bombe wurde doch nicht geschluckt/gezündet, die KI ist doch gut und Ren gesteht Elll nun doch ihre Liebe – ich fand das nicht nur kitschig, sondern leider auch völlig unglaubwürdig. Ren ist als Charakter nicht so angelegt. Ihre Liebe hat dann in den Folgeszenen auch keinerlei Folgen. Dass auch Aiki Mira phrasenhaft Herzen brechen lassen muss, hat mir leider fast das Herz gebrochen: Bei dem hohen sprachlichen Niveau habe ich nicht damit gerechnet, dass nun doch noch Kitsch und altbekannte Phrasen vorkommen. Aber zum Glück sind das nur wenige Abschnitte und der Roman ist fast durchgängig auf hohem sprachlichen Niveau.
Die eine Versöhnung, auf die ich seit Beginn des Buches gewartet habe – dass Tayo und Go wieder zueinander finden – passiert nicht, stattdessen trifft Tayo sein Idol. Und fällt gleich in den nächsten Kult.
Ein weiteres Problem hatte ich mit Inkonsistenzen in Weltenbau und Plot: Warum kann Go plötzlich spielen wie ein Profigamer? Wieso spielt Gos lebensbedrohliche Erkrankung nie wirklich eine Rolle oder hindert Go an irgendetwas? Wie kann es sein, dass haufenweise Personen obdachlos sind und hungern, gleichzeitig gibt es aber nicht nur eine Krankenversorgung für alle, sondern Go kann auch noch gratis geschlechtsangleichende OPs erhalten? Woher kommt dann der Zeitdruck und warum macht man solche Operationen, wenn das Überleben fraglich ist? Und warum sprechen die Gamer mal in einem kaum verständlichen Slang voller (gelungener) Neologismen und klingen zwei Szenen später hochwissenschaftlich wie Foucault? Warum funktionieren die Gehirnimplantate nur mit In-Augen?
Ich gehe davon aus, dass vieles hier symbolhaft gemeint ist und das Schaffen einer konsistenten nicht zentral ist. Für einen Welten-Nerd wie mich ist dies jedoch eine Herausforderung.

Ich habe lange darüber nachgedacht, was das untergründige Thema dieses Romans ist. Wäre da nicht das Ende gewesen, ich hätte behauptet, es gehe darum, wie technisch unterstützte Kommunikation in Blasen und auf von Konzernen gesteuerten Plattformen Beziehungen zerstört, wie Leute in Parallelwelten getrieben werden, die Begegnungen erschweren. Aber zu dieser Prämisse passt das Ende nicht.
Eine andere mögliche Prämisse wäre „Das Leben ist sinnlos und nicht beeinflussbar“ – auch dazu passen 95% des Textes – aber das Ende nicht, in dem es plötzlich doch Einfluss zu geben scheint, wobei die von Ren gewollte Revolution weiter inhaltsleer bleibt.
Somit bleiben für mich mehrere angerissene Themen, die aber nicht vertieft behandelt werden: die Beeinflussung von Personen durch Personenkulte, die Beziehung zwischen Mensch und Maschine, die Frage danach, was an Menschlichkeit bleibt, wenn die Gesellschaft Menschlichkeit zerstört. Auch Fragen nach Identität werden anhand von Gos Genderfluidität gestellt. Mir sagt es nicht zu, dass diese Frage vor allem daran festgemacht wird, ob Go eine geschlechtsangleichende OP möchte oder nicht – aber beruhigenderweise endet der Text mit der Schlussfolgerung, dass Gos Geschlecht nicht mit seinem/ihrem Körper gleichzusetzen ist (yay!). Trotzdem habe ich mich gefragt, ob und wie seine Diskriminierung als Transperson in der gezeichneten Welt verankert ist. Das konnte ich, ähnlich wie beim immer wieder gezeigten Rassismus gegenüber Go, der asiatische und afrikanische Vorfahren hat, nicht wirklich nachvollziehen. Denn Rassismus und Transfeindlichkeit müssten sich in einer von konzerngesteuerten Algorithmen beherrschten Welt vor allem institutionalisiert in den Algorithmen niederschlagen. Dies kann ich aber aus dem Text nicht ablesen. Es sind die Menschen, die ausgrenzen – meist ohne Konsequenzen.

Fazit:

Aiki Mira hat interessante und wichtige Themen aufgemacht und auf sehr eigene Art verhandelt. Wer einen düsteren Weltenbau mag und Freude an Zuspitzungen hat, wird hier mit dichter Atmosphäre verwöhnt. Auch die verwendete Sprache ist ein großer Pluspunkt. Den Vergleich mit dem Vorbild Tiptree Jr. muss der Text meines Erachtens nicht scheuen.

Unterhaltung: 2 von 3
Sprache/Stil: 3 von 3
Spannung: 2 von 3
Charaktere/Beziehungen: 1,5 von 3
Originalität: 3 von 3
Tiefe der Thematik:  1,5 von 3
Weltenbau:  2 von 3
Gesamt: 15 von 21