Octavia E. Butler: Rituale. Xenogesis Trilogie 2. Heine

berührend und verstörend

Xenogesis 2Ich war zunächst enttäuscht, als Band zwei dieser Trilogie nicht mit Lilith fortsetzte, die ich im ersten Band liebgewonnen hatte. Die zentrale Figur dieses zweiten Buchs ist Akin, Liliths erster Sohn. Akin hat fünf Eltern, zwei davon menschlich, und er ist ein „Konstruierter“, ein bewusst von einem Ooloi genetisch geplantes Kind. Er ist außerdem ein Kind, das wie ein Mann aussieht und einmal männlich werden wird und somit der erste menschgeborene Sohn. Ein Wesen, das als gefährlich gilt, weil es ein Mann ist.
Die Prämisse „Männer sind gefährlich und gewalttätig“ zieht sich durch das gesamte Buch. Das könnte platt oder feindselig wirken, aber Butler hat genau beobachtet und das Buch kann als Studie über toxische Männlichkeit gelesen werden, in der viele schmerzliche Wahrheiten ausgesprochen werden.
Akin wächst auf der wiederbesiedelten Erde in einer gemischten Gruppe aus Menschen und Oankali, den Außerirdischen auf, und er kann beide Spezies gut verstehen. Er ist wissbegierig und kognitiv enorm weit entwickelt, während seine körperliche Entwicklung hinterherhinkt. So kann er, als er mit knapp zwei Jahren von Widerständlern entführt wird, dem nichts entgegensetzen. Eine gewalttätige und sehr rohe Männergruppe versucht, ihn zu verkaufen, weil er menschlich aussieht, und schließlich gelingt das. Ich möchte nicht zu viel vom Plot verraten, weil das Buch sehr wesentlich von Spannung lebt. Auch wenn Akin im Zentrum steht, gibt es eine allwissende Erzählstimme mit Headhopping, wir tauchen also in wechselnde Perspektiven ein, besuchen Lilith aus dem ersten Band und Tino, einen Mann, der freiwillig zu den Oankali zurückkehrt, sowie andere Personen.

Octavia E. Butler: Dämmerung. Xenogesis Trilogie 1. Heine

bedrückend und eindringlich

Xenogesis 1Lilith, die Hauptfigur dieses Romans, erwacht in einem Raum. Sie ist allein, gefangen und nackt. In sehr nüchterner Sprache beschreibt Butler, wie Lilith mit dieser Situation umgeht, wie sich die Grenzen dessen, was Lilith willens ist zu ertragen, mehr und mehr verschieben. Butler gelingt es dabei, sowohl große Intimität zu erzeugen als auch eine Sprache zu wählen, die stets eine gewisse Distanz wahrt. So blieb Lilith mir einerseits fremd, während ich sie andererseits schnell liebgewann: eine sture, unglaublich starke und nur selten sanfte Frau, deren Sehnsucht nach Sicherheit immer wieder zerstört wird.

Lilith befindet sich, so lernt sie nach Wochen der Gefangenschaft, auf einem Raumschiff. Außerirdische, die Oankali, haben die letzten Überlebenden eines Atomkriegs von der Erde geborgen und gerettet. Sie haben auch die Erde wieder bewohnbar gemacht. Aber natürlich erwarten sie eine Gegenleistung: Lilith soll dabei helfen, eine neue Spezies zu züchten, eine Mischung aus Mensch und Oankali.
Liliths einzige Möglichkeit, damit umzugehen, ist die Hoffnung darauf, dass es ein Später geben wird, eine Zeit, zu der sie aus der Gefangenschaft fliehen und ihre eigene Idee von Menschlichkeit leben kann. Aber die Außerirdischen haben ihr Aufgaben zugedacht, und um diese zu erfüllen, muss Lilith sich verändern. Sie gibt nach und nach Teile dessen auf, was sie für den Kern ihrer Menschlichkeit hält, nimmt immer mehr Oankali-Fähigkeiten an – und gleichzeitig bleibt sie doch zutiefst menschlich. Butler beschreibt berührend, wie Lilith den Oankali näher kommt, wie tiefe, intime Beziehungen entstehen, deren Fremdartigkeit Lilith anekelt, erschreckt und immer wieder auch beglückt. Der Weltenbau und die Kultur der Oankali werden dabei nebenbei vermittelt, Vieles bleibt unverständlich und rätselhaft.

Amal El-Mohtar und Max Gladstone: Verlorene der Zeiten. Piper

verstörend, sprachgewaltig und schwer zu fassen

Coverbild des BuchesEin Buch, abwechselnd von zwei Autor*innen geschrieben, zwei Perspektiven (Rot und Blau) und in jeder Briefe – das ist insbesondere im Genre Science-Fiction eine ungewöhnliche Struktur. Der Text wirft Lesende in die Perspektive von Rot und schon im zweiten und dritten Satz tauchen wir in Sprachgewalt: “Blut klatscht ihr die Haare an den Kopf. In der letzten Nacht dieser sterbenden Welt bildet ihr Atem Dampfwolken.” Es sind düstere Welten, durch die die Hauptfiguren wandern, und es wimmelt nur so von Mord, Krieg und blutigen Bildern. Ich empfand die Sprache an vielen Stellen als gewaltvoll, die geschilderten Szenen als widerlich. Achtung, Beispiele: Da werden Menschenknochen geschnitzt und Augen aus Höhlen genommen, Menschen gefoltert usw.
Die zweite Schwierigkeit bestand für mich darin, dass der Inhalt des Textes so schwer fassbar ist. Gladstone und El-Mohtar erklären nichts und so habe ich bis zum Schluss nur sehr sehr wenig davon verstanden, wer da eigentlich warum und in welcher Welt was tut. Am Anfang habe ich es genossen, mir diese Welt allmählich zusammenzupuzzeln, irgendwann fand ich es aber doch frustrierend. Möglicherweise ist das, was ich verstanden zu haben glaube, auch ganz anders gemeint, ich kann hier also einerseits vor Spoilern warnen und andererseits vor jenem Schwebezustand, der den Text durchzieht und Verstehen an vielen Stellen verhindert.

René Moreau, Hans Jürgen Kugler und Heinz Wipperfürth (Hrsg.): Exodus 47. 11 / 2023

schwächelnde Sammlung

Exodus 47

Die „Exodus“ ist eine der etablierten Zeitschriften für Science-Fiction: Sie erschien in dreizehn Ausgaben bis 1980, machte dann 23 Jahre Pause und erscheint seit 2003 wieder halbjährlich. Auf rund 115 Seiten bietet die Zeitschrift nicht nur Kurzgeschichten Raum, sondern auch vielen hochwertig gedruckten Grafiken, einer Galerie mit Essay zum vorgestellten Künstler und Gedichten oder Micro-Fiction. Bislang konnte ich allen Ausgaben etwas abgewinnen. Diese hier ist die Erste, die mich fast durchweg enttäuschte.

Stanislaw Lem-Zitat

Die erste Seite des Heftes bietet ein Foto des berühmten Science-Fiction-Autors und ein Zitat. Nun, ich mag Lems Werke eigentlich. Das Zitat hier zeigt, dass er auch sexistische Klischees bedient, es wird Science-Fiction mit einem „gefallenen Mädchen“ verglichen. Ich verstehe nicht, warum jemand das heute unkommentiert abdruckt.

Elizabeth Moon: Speed of Dark. Orbit

intim und berührend

Speed of darkLou ist Autist, eine Krankheit, die in seiner Welt nur noch bei älteren Menschen vorkommt, die also weitgehend eliminiert ist. Er lebt allein und arbeitet für ein Pharmaunternehmen in einer Abteilung voller Autist*innen, die sehr erfolgreich Muster in Daten analysieren. Als die Firma ihm anbietet, seinen Autismus zu heilen, fragt Lou sich, ob er das möchte. Wer wäre er ohne Autismus?

“Speed of Dark” ist ein langsames Buch, das uns tief in Lous Gedanken eintauchen lässt. Es mäandert mit seinen sich wiederholenden Gedanken, folgt seitenlang seinen Ruminationen. Es fiel mir leicht, mich auf dieses Tempo einzulassen, denn ich empfand die Intimität der Ich-Erzählung als berührendes Geschenk: Lou nahm mich mit zu sehen, wie er die Welt sieht, wie er sich an Wortbedeutungen oder Krawattenmustern aufhängt. Seine Welt ist sehr anders als meine und dann doch wieder sehr ähnlich, besonders das Überfordertsein mit sensorischem Input kenne ich gut. Hinzu kommen Lous Ringen darum, in einer Welt, die auf neurotypische(re) Personen zugeschnitten ist, bestehen zu können, sowie Begegnungen mit Personen, die Dinge erwarten, die Lou nur mit Mühe leisten kann: seine Schwierigkeit, zu verstehen, was andere ihm mitteilen, wo ich beim Lesen oft genau wusste, worum es geht. Moons großes Verdienst ist es meines Erachtens, diese Einblicke einfühlsam und ohne Wertung zu gewähren und dabei zu vermitteln, was es heißt, immer wieder einem großen Normativitätsdruck ausgesetzt zu sein, immer wieder die Erfahrung zu machen “nicht normal” zu sein: “Even as hard as I try, the real people still want me to change, to be like them.” Dass der Text dabei an manchen Stellen zuspitzt, habe ich ihm nicht übelgenommen, zumal ich mir leider vorstellen kann, dass uneinfühlsame Fachpersonen (Psychiater*innen, Psycholog*innen und Berater*innen), wie sie im Buch geschildert werden, keine Seltenheit sind. Lou hat leider ausschließlich Kontakt zu solchen Fachpersonen.

Highlights 2023 (und einige Notizen)

Lesejahr 2023Wie immer bin ich spät dran mit meinen persönlichen Favoriten des Erscheinungsjahres 2023. Aber da ich sehr gerne gute Texte feiere, möchte ich sie euch doch nicht vorenthalten: meine liebsten Kurzgeschichten, Romane und meine Lieblingsanthologie.

Kurzgeschichten

Mein absolutes Highlight war „Nur du und ich“ von Kris Brynn aus dem FFM 4.

Auf dem zweiten Platz ist „Der Spielplatz“ von Yvonne Tunnat, veröffentlicht in „Jenseits der Traumgrenze“ von Marianne Labisch. Tunnats Geschichte spielt in einem Frauengefängnis und die Insassen schippen Schnee. Die Geschichte verwebt meisterhaft Innen- und Außenwelt, die Handlung ist einerseits sehr sinnlich und real, andererseits bleibt Einiges in der Schwebe. Die Hauptfigur verfügt über ein Implantat, das es ihr ermöglicht, mit ihrem verstorbenen Kind in Kontakt zu bleiben, und langsam entblättert sich die Geschichte dessen, was passiert ist. Es geht um Verantwortung und Schuld und natürlich um den Umgang mit einem kaum aushaltbaren Verlust.

René Moreau, Hans Jürgen Kugler und Heinz Wipperfürth (Hrsg.): Exodus 46. 5 / 2023

anregendes Potpourri

Exodus 46Die „Exodus“ ist eine der etablierten Zeitschriften für Science-Fiction: Sie erschien in dreizehn Ausgaben bis 1980, machte dann 23 Jahre Pause und erscheint seit 2003 wieder halbjährlich. Auf rund 115 Seiten bietet die Zeitschrift nicht nur Kurzgeschichten Raum, sondern auch vielen hochwertig gedruckten Grafiken, einer Galerie mit Essay zum vorgestellten Künstler und Gedichten oder Micro-Fiction.

Ulf Fildebrandt: Das Chinesische Zimmer

Der Text greift ein sehr interessantes und philosophisches Thema auf: Ein Regierungsberater soll darüber entscheiden, ob ein Leben Bewusstsein hat oder nicht. Hat das Wesen, wenn es denn eines ist, ein Lebensrecht?
Der Text beginnt locker fließend und wir folgen dem Protagonisten Aiden Baker in ein Militärkrankenhaus. Dort begegnet er der Person, über die er entscheiden soll. Leider überzeugt mich der Text ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. Weder erfahren wir wirklich, wie Baker sich in der Begegnung fühlt, noch kann ich seine Herangehensweise an das Problem nachvollziehen. Auch warum er ausgewählt wurde, um die folgenreiche Entscheidung zu treffen, bleibt unklar.
Sprachlich überzeugt mich der Text nicht wirklich, wartet er doch mit einigen Phrasen auf, die leicht hätten eliminiert werden können. Am enttäuschendsten ist für mich jedoch das Ende: Der Text hört einfach ein einer Stelle auf, ohne dass irgendetwas geklärt wird.

Maja Ilisch: Unten. Dressler

bedrückend und doch leicht

Unten

“Unten” ist das erste Kinderbuch der deutschen Fantasy- und Science-Fiction Autorin Maja Ilisch. Hauptfigur ist die ungefähr zwölfjährige Nevo. Sie lebt mit ihrer Mutter in einem Haus in einer kleinen Wohnung und wie alle anderen um sie herum kennt sie nur ihre Etage und wenige Etagen darüber und darunter – den Block Zinnober. Das Leben aller ist von der Hausordnung bestimmt, ein strenges Regelset, das alles verbietet, was Spaß macht und lebendig ist.
Als Nevo mit ihrer Freundin Juma fangen spielt, was natürlich verboten ist, werden sie erwischt und verstecken sich. Dabei fällt Juma in den Wäscheschacht – und bleibt verschwunden. Niemanden von den Erwachsenen scheint das zu verwundern, aber Nevo gibt sich nicht zufrieden: Sie begibt sich auf die Suche nach Nevo, nach unten, und erkundet dabei das Haus.