Aiki Mira: Neongrau. Polarise
düster und sprachgewaltig
Der Roman wirft mich gleich mit einem beeindruckenden Bild in eine heftige Szene: Go (Stuntboi) stürzt und wie es aussieht, ist der Sturz so heftig, dass sein/ihr Leben auf dem Spiel steht. Elba (Elll) hilft ihm, weil sie einen Auftrag hat. Ich bin sofort neugierig: Was für einen Auftrag hat sie? Warum ist dieser so wichtig? Was war das für ein Job, bei dem Go gestürzt ist und warum interessiert der Sturz ihre Arbeitsgeber nicht? Und was ist mit Ellls Gesicht, dass sie heftige Reaktionen darauf fürchtet?
Der Text zieht mich schnell in seinen Bann. Ich erfahre, dass Ellls Auftrag darin bestand, den Sturz hervorzurufen, damit Go den Job verliert. Natürlich wirft auch das wieder Fragen auf, Aiki Mira entwickelt hier gekonnt Spannung. Aber der Text hält sich nicht an klassische Erzählweisen und auf viele dieser Fragen habe ich auch nach Textende keine Antworten. Es gibt mit Go zwar eine Hauptfigur, aber sie bleibt, wie alle anderen Figuren auch, im Vagen, wird nie wirklich fassbar. Zwar sind fast alle Figuren vielschichtig, diese Vielschichtigkeit bleibt aber oft unbestimmt.
Ein Großteils des Textes erzählt von anderen Figuren: Da ist Gos Vater Tayo, der im Kampf um Geld für sich und Go den Kontakt zu ihr und allen anderen verloren hat, da ist Gos Mutter Ren, die die Familie schon vor Jahren für eine fixe Idee verlassen hat, da ist Elll, die vergeblich versucht, in Ren eine Ersatzmutter zu finden. Außerdem lesen wir von Ellls dauerbedrogter Mutter und Ellls Ziehvater und irgendwann von zwei Gamern, denen Elll und Go begegnen. Der Text ist wie ein Kaleidoskop, das mir immer neue und faszinierende Facetten der Welt zeigt, es aber gleichzeitig nicht erlaubt, zu fokussieren und sich etwas genauer anzusehen. Zahlreiche fantasievolle Details werden gezeigt, ihr Sinn im Weltenbau bleibt aber fast immer mysteriös. Ein Beispiel sind hier künstliche Vögel und Ratten. Immer wieder werde ich in neue kurze Szenen geworfen, es entstehen immer neue Fragen, die aber nie wirklich geklärt werden. Was eigentlich Gos Job war, habe ich erst nach dem Lesen des Buches erfahren, weil ich durch das Glossar geblättert habe. Dort erfahre ich, dass Stuntboi nicht nur Gos Netzname ist, sondern auch eine Jobbezeichnung für Promi-doubles, Stuntmen also, wobei sich mir nicht erschließt, wen Go doublen kann, wenn er nur Skateboardstunts beherrscht, die dazu noch völlig aus der Mode gekommen sind. Auch beantwortet das nicht die Frage, warum seine Arbeitgeber sich nicht nur nicht um seine medizinische Versorgung kümmern, sondern Elll noch dafür bestrafen, dass sie es tut. Ich nehme an, dass es Aiki Mira ganz oft nicht darum geht, eine nachvollziehbare und inhaltlich korrekte Geschichte zu erzählen. Im Zentrum steht dagegen eine dichte und unbedingt verstörende Atmosphäre – und Aiki Mira ist meisterhaft darin, diese darzustellen. Leider entspricht dies gar nicht meinen Lesevorlieben: Ich mag es, wenn Texte beziehungsvoll und verständlich sind, ich finde das reale Leben verstörend genug.
Aber weiter zum Text: Go und Elll verlieben sich ineinander, wobei sich eine hochtoxische Beziehung entwickelt, in der Elll nicht nur für ein Aneurisma verantwortlich ist, das Go sich beim Sturz zugezogen hat, sondern auch für seinen ersten Drogenkonsum und eine Menge anderer waghalsiger Aktionen. Insgesamt wird eine Welt gezeigt, in der alle handelnden Personen hochgradig bindungstraumatisiert und beziehungsgestört erscheinen: Tayo lebt in einer Parallelwelt und lauscht einem Guru, weil er seinen Job nicht aushält. Alles, was er tut, ist durch den Guru bestimmt. Sein einziger Freund ist jemand, den er für die Simulation einer Freundschaft bezahlt. Ren hat Tayo und Go vor Jahren verlassen und widmet sich seitdem der Idee, eine KI zu entwickeln, die das Leben vorhersagen kann und ihr so Macht ermöglichen soll, wobei die Idee wahnhaft wirkt, unter anderem auch, weil völlig unklar bleibt, was sie mit ihrer Macht zu tun gedenkt. Elll ist Ren hörig und lässt sich von ihr für allerlei Tätigkeiten ausnutzen, Ren ist es auch, die Elll beauftragt hat, dafür zu sorgen, dass Go seinen Job verliert. Warum bleibt bis zum Schluss im Unklaren.
Go bekommt nun mithilfe der KI, die Ren entwickelt hat, einen Job im Stadium, in dem die berühmten Profis VI-Turniere spielen. Dort lernt Go, eine genderfluide Person, die abwechselnd die Pronomen er und sie verwendet, die Spieler Ash und Phoenix kennen, die Go auch wieder nur ausnutzen und ebenfalls eine toxisch wirkende Beziehung zueinander pflegen. Das Buch baut nun Tempo auf, immer wieder ist jemand in Lebensgefahr: Massive körperliche Verletzungen, Vertrauensbrüche und das Ausnutzen Anderer sind an der Tagesordnung, die Welt ist düster und atmosphärisch dicht beschrieben. Gleichzeitig gibt es mir so unverständliche (weil unmögliche) Dinge, wie dass Elll angeblich als Baby mit einer Mischung aus Lack und Alkohol ernährt wurde, oder dass Go und Elll auf ein Gerüst klettern und ein Hemd als Hängematte verwenden, in der sie Sex haben. Auch die Erzählung von Gos Großeltern, die sich an den Schultern zusammengenäht haben, um sich dann als Kunstaktion zu suizidieren, gehört zu den im Roman erzählten Dingen, die absurd und unglaubwürdig wirken. Im Weltenbau sind Ratten, die gern in die Münder schlafender Menschen kriechen, ein Beispiel für derartige Bilder. Mein Gefühl ist, dass es Aiki Mira hier nicht um Glaubwürdigkeit geht, sondern um gekonnte Verstörung. Das Ergebnis wirkt auf mich stellenweise dadaistisch. Auch der Umgang mit Sprache erinnert mitunter an diese expressive Kunstströmung, wenn Aiki Mira beispielsweise schreibt: „Elll tanzt hinreißend expressiv. Brachial, athletisch, konkurrenzlos und aufregend selbstbewusst.“ (S. 140) Es ist ein kreativer Umgang mit Sprache, gleichzeitig ist es einer, der in mir keine Bilder entstehen lässt, immer wieder verstört, statt zu beschreiben. Ich war hier mehrfach an ein Podcastgespräch mit Aiki Mira erinnert, in dem wir über James Tiptree Jr. sprachen (Rewrite-Podcast, hier zu finden), eine Autorenperson, deren verstörende Sprache und Texte Aiki Mira liebt (und die ich quälend zu lesen finde).
Aiki Miras eigenwillige Vergleiche werfen mich oft aus dem Text, wenn Dinge beschrieben werden, die schlicht unmöglich sind (wie in einer stinkenden Umgebung nebeneinander gehend die Haare des Anderen zu riechen) oder die sich widersprechen: „Dort an den Wänden hängen riesige, gebärmutterähnliche Leiterplatten.“ (S. 81). Ich habe an dieser Sprache aber auch immer wieder große Freude gehabt und manche Sätze mit Genuss mehrfach gelesen. Aiki Miras Sprache ist somit für mich ein großer Punkt, der für diesen Text spricht. Gleichzeitig habe ich oft sprechende Beschreibungen vermisst. So weiß ich bis zum Schluss nicht, wie Elll eigentlich aussieht und was an ihrem Gesicht so verstörend ist, dass sie bei jeder neuen Begegnung davon ausgeht, deswegen gemieden zu werden. Es wird beschrieben, dass sie hässlich ist, eine bildlose und subjektive Bewertung, die ich in ihrer Entwertung schwierig finde.
Aiki Mira hat eine Erzählstimme geschaffen, die den Protagonist*innen nie wirklich nahe kommt, immer in der Schwebe bleibt, oft die Sprache über das Erzählte stellt. So werden oft bewusst Informationen vorenthalten, um Spannung zu erzeugen. Das funktioniert insbesondere in der zweiten Hälfte des Textes gut, hier hat das Buch fast schon Pageturnerqualitäten. Dabei fieberte ich immer mit, ob Go, Elll, Tayo und Ren nun leben oder nicht. Niemand von ihnen hat irgendein Ziel (zumindest kein für mich nachvollziehbares), alle sind Getriebene, deren Leben steht ständig auf dem Spiel steht. Es gibt brutale Kämpfe, diverse körperliche und psychische Übergriffe und viel Drogenkonsum. Für meinen Geschmack war die Welt deutlich zu düster. Der einzige Lichtblick sind für mich Go und Tayo, wobei Tayos Naivität für mich unglaubwürdig scheint: Er lässt sich immer wieder ausnutzen und über den Tisch ziehen. Auch sein Festhalten an der Liebe zu Ren bleibt für mich nicht nachvollziehbar. Und hier kommen wir zu einer für mich gravierenden Schwäche des Textes: den Beziehungen. Die einzige Person, die sich wirklich um jemand anderen bemüht, ist Tayo, der sich um Go bemüht. Aber er ist dabei enorm unbeholfen. Die während der Erzählung entstehenden Beziehungen sind dagegen für mich in ihrer toxischen Ausprägung schwer auszuhalten. Go bezeichnet Phoenix und Elll als Freunde, wird aber von beiden lebensgefährlich verletzt. Die Schnelligkeit, mit der Go ihnen vertraut, ist für mich nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar. Ebenso, dass sie das erneut tut, nachdem sie von beiden schlecht behandelt worden ist.
Schwierigkeiten hatte ich auch mit dem Ende des Buches. Achtung, hier werde ich massiv spoilern! Bei einem derart düsteren Weltenbau habe ich keine Lichtblicke mehr erwartet – und nun gibt es sie völlig unvorbereitet. Die Bombe wurde doch nicht geschluckt/gezündet, die KI ist doch gut und Ren gesteht Elll nun doch ihre Liebe – ich fand das nicht nur kitschig, sondern leider auch völlig unglaubwürdig. Ren ist als Charakter nicht so angelegt. Ihre Liebe hat dann in den Folgeszenen auch keinerlei Folgen. Dass auch Aiki Mira phrasenhaft Herzen brechen lassen muss, hat mir leider fast das Herz gebrochen: Bei dem hohen sprachlichen Niveau habe ich nicht damit gerechnet, dass nun doch noch Kitsch und altbekannte Phrasen vorkommen. Aber zum Glück sind das nur wenige Abschnitte und der Roman ist fast durchgängig auf hohem sprachlichen Niveau.
Die eine Versöhnung, auf die ich seit Beginn des Buches gewartet habe – dass Tayo und Go wieder zueinander finden – passiert nicht, stattdessen trifft Tayo sein Idol. Und fällt gleich in den nächsten Kult.
Ein weiteres Problem hatte ich mit Inkonsistenzen in Weltenbau und Plot: Warum kann Go plötzlich spielen wie ein Profigamer? Wieso spielt Gos lebensbedrohliche Erkrankung nie wirklich eine Rolle oder hindert Go an irgendetwas? Wie kann es sein, dass haufenweise Personen obdachlos sind und hungern, gleichzeitig gibt es aber nicht nur eine Krankenversorgung für alle, sondern Go kann auch noch gratis geschlechtsangleichende OPs erhalten? Woher kommt dann der Zeitdruck und warum macht man solche Operationen, wenn das Überleben fraglich ist? Und warum sprechen die Gamer mal in einem kaum verständlichen Slang voller (gelungener) Neologismen und klingen zwei Szenen später hochwissenschaftlich wie Foucault? Warum funktionieren die Gehirnimplantate nur mit In-Augen?
Ich gehe davon aus, dass vieles hier symbolhaft gemeint ist und das Schaffen einer konsistenten nicht zentral ist. Für einen Welten-Nerd wie mich ist dies jedoch eine Herausforderung.
Ich habe lange darüber nachgedacht, was das untergründige Thema dieses Romans ist. Wäre da nicht das Ende gewesen, ich hätte behauptet, es gehe darum, wie technisch unterstützte Kommunikation in Blasen und auf von Konzernen gesteuerten Plattformen Beziehungen zerstört, wie Leute in Parallelwelten getrieben werden, die Begegnungen erschweren. Aber zu dieser Prämisse passt das Ende nicht.
Eine andere mögliche Prämisse wäre „Das Leben ist sinnlos und nicht beeinflussbar“ – auch dazu passen 95% des Textes – aber das Ende nicht, in dem es plötzlich doch Einfluss zu geben scheint, wobei die von Ren gewollte Revolution weiter inhaltsleer bleibt.
Somit bleiben für mich mehrere angerissene Themen, die aber nicht vertieft behandelt werden: die Beeinflussung von Personen durch Personenkulte, die Beziehung zwischen Mensch und Maschine, die Frage danach, was an Menschlichkeit bleibt, wenn die Gesellschaft Menschlichkeit zerstört. Auch Fragen nach Identität werden anhand von Gos Genderfluidität gestellt. Mir sagt es nicht zu, dass diese Frage vor allem daran festgemacht wird, ob Go eine geschlechtsangleichende OP möchte oder nicht – aber beruhigenderweise endet der Text mit der Schlussfolgerung, dass Gos Geschlecht nicht mit seinem/ihrem Körper gleichzusetzen ist (yay!). Trotzdem habe ich mich gefragt, ob und wie seine Diskriminierung als Transperson in der gezeichneten Welt verankert ist. Das konnte ich, ähnlich wie beim immer wieder gezeigten Rassismus gegenüber Go, der asiatische und afrikanische Vorfahren hat, nicht wirklich nachvollziehen. Denn Rassismus und Transfeindlichkeit müssten sich in einer von konzerngesteuerten Algorithmen beherrschten Welt vor allem institutionalisiert in den Algorithmen niederschlagen. Dies kann ich aber aus dem Text nicht ablesen. Es sind die Menschen, die ausgrenzen – meist ohne Konsequenzen.
Fazit:
Aiki Mira hat interessante und wichtige Themen aufgemacht und auf sehr eigene Art verhandelt. Wer einen düsteren Weltenbau mag und Freude an Zuspitzungen hat, wird hier mit dichter Atmosphäre verwöhnt. Auch die verwendete Sprache ist ein großer Pluspunkt. Den Vergleich mit dem Vorbild Tiptree Jr. muss der Text meines Erachtens nicht scheuen.
Unterhaltung: 2 von 3
Sprache/Stil: 3 von 3
Spannung: 2 von 3
Charaktere/Beziehungen: 1,5 von 3
Originalität: 3 von 3
Tiefe der Thematik: 1,5 von 3
Weltenbau: 2 von 3
Gesamt: 15 von 21