Mary Robinette Kowal: The Spare Man. Solaris

spannend und klischeereich

Spare Man

 

Ein Mord in einem Luxusreisemittel und niemand kann weg – spätestens seit “Mord im Orientexpress” ist das ein gängiges Krimisetting. Kowal verlegt ihre Reise ins Weltall, wir haben also eine Art Kreuzfahrt zum Mars. Tesla und ihr frisch angetrauter Mann Shal verbringen hier ihre Flitterwochen – auch das mutet sehr klassisch an. Wie das berühmte Original auch lebt der Roman von eigenwilligen Charakteren und sich ergebenden Verwicklungen. Hinzu kommen Science-Fiction-Elemente der Schiffstechnik und des Weltenbaus, wobei wir über die Welt jenseits der Wahrnehmung der Superreichen fast nichts erfahren.

 

 

Sylvana Freyberg und Uwe Post (Hg.): Future Fiction Magazine 05/September 23. Deutsche Ausgabe

durchwachsen

FFM 5

Theresa Hannig: Wo acht Arme grillen (Deutschland)

Diese amüsante Geschichte über ein entlaufenes Biotool stellt die Frage nach Freiheit. Sie ist spritzig und liest sich leicht, der stellenweise etwas klamaukige Humor hat mich immer wieder zum Schmunzeln gebracht. Das ist gute Unterhaltung und ein gelungener Weltenbau, wenn ich mir auch teilweise etwas mehr Tiefe gewünscht hätte, besonders bei der Figurenzeichnung.

Kehkashan Khalid: Splitter im Hirn (Pakistan)

In einer digitalisierten Welt lehnen die Eltern der Hauptfigur Shehrazad (eine junge Frau? Oder ein Mädchen?) Digitalisierung ab. Aber alle anderen sind implantiert und Sherazad will das auch. Als ihr ein experimentelles Implantat angeboten wird, sagt sie zu – was natürlich nicht ohne Folgen bleibt.
Die Geschichte folgt Shehrazad und einer anderen Frau auf deren Spuren, wobei beide Figuren miteinander verschwimmen. Mir war nicht ganz klar, ob das Absicht war oder nicht, ebenso wie es mir unwahrscheinlich erschien, dass die Eltern Shehrazads Versinken in virtuellen Welten so gar nicht wahrnehmen. Hier hätte ich mir etwas mehr Einblicke ins Umfeld der Hauptfigur gewünscht. Die Stärke des Textes liegt meines Erachtens in der berührenden nahen Figurenzeichnung und der gelungenen Schilderung dessen, wie sich Shehrazad in der virtuellen Welt verliert. Eine Schwäche liegt für mich in der leider häufigen Verwendung von Phrasen.

Octavia E. Butler: Imago. Xenogesis Trilogie 3. Heine

unerwartet schwacher Serienabschluss

Xenogesis 3Ich hatte angenommen, dass der dritte Teil von „Xenogesis“ auf dem Mars spielen würde, der zum neuen Lebensort der Menschen wird, aber das ist nicht der Fall: Wie Teil zwei auch spielt „Imago“ auf der Erde, die von Oankali und Menschen bewohnt wird. Aber anders als die beiden vorigen Teile handelt es sich um eine Ich-Erzählung. Erzählperson ist Jodahs, der erste menschgeborene Ooloi, ein weiteres Kind von Lilith aus Teil 1. Jodahs hat ein verbotenes Geschlecht, denn es sollte männlich werden. Die Oankali wachsen die ersten Jahre ihres Lebens geschlechtslos auf und entscheiden erst dann, auch abhängig von den Bedürfnissen der Lebewesen im Umfeld, ihr Geschlecht. Dies wird durch die Ooloi-Eltern überwacht. Aber Jodah wird nicht, was es werden sollte. Diese Tatsache führt zu einer schönen Thematisierung von Gendertransition, beispielsweise als Nikanj, sein Ooloi-Elternteil, zu Jodahs sagt: „Du willst sein, was du bist. Das ist gesund und richtig für dich.“
Leider fallen hier sprachliche Schnitzer auf: Wie in den Vorbänden auch, verwenden Ooloi das Pronomen „es“, bzw., wenn auf Spanisch gesprochen wird, „er/sie“. Im Buch kommt es immer wieder vor, dass mit männlichen Pronomen auf ein Ooloi rekurriert wird.

Octavia E. Butler: Dämmerung. Xenogesis Trilogie 1. Heine

bedrückend und eindringlich

Xenogesis 1Lilith, die Hauptfigur dieses Romans, erwacht in einem Raum. Sie ist allein, gefangen und nackt. In sehr nüchterner Sprache beschreibt Butler, wie Lilith mit dieser Situation umgeht, wie sich die Grenzen dessen, was Lilith willens ist zu ertragen, mehr und mehr verschieben. Butler gelingt es dabei, sowohl große Intimität zu erzeugen als auch eine Sprache zu wählen, die stets eine gewisse Distanz wahrt. So blieb Lilith mir einerseits fremd, während ich sie andererseits schnell liebgewann: eine sture, unglaublich starke und nur selten sanfte Frau, deren Sehnsucht nach Sicherheit immer wieder zerstört wird.

Lilith befindet sich, so lernt sie nach Wochen der Gefangenschaft, auf einem Raumschiff. Außerirdische, die Oankali, haben die letzten Überlebenden eines Atomkriegs von der Erde geborgen und gerettet. Sie haben auch die Erde wieder bewohnbar gemacht. Aber natürlich erwarten sie eine Gegenleistung: Lilith soll dabei helfen, eine neue Spezies zu züchten, eine Mischung aus Mensch und Oankali.
Liliths einzige Möglichkeit, damit umzugehen, ist die Hoffnung darauf, dass es ein Später geben wird, eine Zeit, zu der sie aus der Gefangenschaft fliehen und ihre eigene Idee von Menschlichkeit leben kann. Aber die Außerirdischen haben ihr Aufgaben zugedacht, und um diese zu erfüllen, muss Lilith sich verändern. Sie gibt nach und nach Teile dessen auf, was sie für den Kern ihrer Menschlichkeit hält, nimmt immer mehr Oankali-Fähigkeiten an – und gleichzeitig bleibt sie doch zutiefst menschlich. Butler beschreibt berührend, wie Lilith den Oankali näher kommt, wie tiefe, intime Beziehungen entstehen, deren Fremdartigkeit Lilith anekelt, erschreckt und immer wieder auch beglückt. Der Weltenbau und die Kultur der Oankali werden dabei nebenbei vermittelt, Vieles bleibt unverständlich und rätselhaft.

Highlights 2023 (und einige Notizen)

Lesejahr 2023Wie immer bin ich spät dran mit meinen persönlichen Favoriten des Erscheinungsjahres 2023. Aber da ich sehr gerne gute Texte feiere, möchte ich sie euch doch nicht vorenthalten: meine liebsten Kurzgeschichten, Romane und meine Lieblingsanthologie.

Kurzgeschichten

Mein absolutes Highlight war „Nur du und ich“ von Kris Brynn aus dem FFM 4.

Auf dem zweiten Platz ist „Der Spielplatz“ von Yvonne Tunnat, veröffentlicht in „Jenseits der Traumgrenze“ von Marianne Labisch. Tunnats Geschichte spielt in einem Frauengefängnis und die Insassen schippen Schnee. Die Geschichte verwebt meisterhaft Innen- und Außenwelt, die Handlung ist einerseits sehr sinnlich und real, andererseits bleibt Einiges in der Schwebe. Die Hauptfigur verfügt über ein Implantat, das es ihr ermöglicht, mit ihrem verstorbenen Kind in Kontakt zu bleiben, und langsam entblättert sich die Geschichte dessen, was passiert ist. Es geht um Verantwortung und Schuld und natürlich um den Umgang mit einem kaum aushaltbaren Verlust.

Octavia E. Butler: Rituale. Xenogesis Trilogie 2. Heine

berührend und verstörend

Xenogesis 2Ich war zunächst enttäuscht, als Band zwei dieser Trilogie nicht mit Lilith fortsetzte, die ich im ersten Band liebgewonnen hatte. Die zentrale Figur dieses zweiten Buchs ist Akin, Liliths erster Sohn. Akin hat fünf Eltern, zwei davon menschlich, und er ist ein „Konstruierter“, ein bewusst von einem Ooloi genetisch geplantes Kind. Er ist außerdem ein Kind, das wie ein Mann aussieht und einmal männlich werden wird und somit der erste menschgeborene Sohn. Ein Wesen, das als gefährlich gilt, weil es ein Mann ist.
Die Prämisse „Männer sind gefährlich und gewalttätig“ zieht sich durch das gesamte Buch. Das könnte platt oder feindselig wirken, aber Butler hat genau beobachtet und das Buch kann als Studie über toxische Männlichkeit gelesen werden, in der viele schmerzliche Wahrheiten ausgesprochen werden.
Akin wächst auf der wiederbesiedelten Erde in einer gemischten Gruppe aus Menschen und Oankali, den Außerirdischen auf, und er kann beide Spezies gut verstehen. Er ist wissbegierig und kognitiv enorm weit entwickelt, während seine körperliche Entwicklung hinterherhinkt. So kann er, als er mit knapp zwei Jahren von Widerständlern entführt wird, dem nichts entgegensetzen. Eine gewalttätige und sehr rohe Männergruppe versucht, ihn zu verkaufen, weil er menschlich aussieht, und schließlich gelingt das. Ich möchte nicht zu viel vom Plot verraten, weil das Buch sehr wesentlich von Spannung lebt. Auch wenn Akin im Zentrum steht, gibt es eine allwissende Erzählstimme mit Headhopping, wir tauchen also in wechselnde Perspektiven ein, besuchen Lilith aus dem ersten Band und Tino, einen Mann, der freiwillig zu den Oankali zurückkehrt, sowie andere Personen.

Amal El-Mohtar und Max Gladstone: Verlorene der Zeiten. Piper

verstörend, sprachgewaltig und schwer zu fassen

Coverbild des BuchesEin Buch, abwechselnd von zwei Autor*innen geschrieben, zwei Perspektiven (Rot und Blau) und in jeder Briefe – das ist insbesondere im Genre Science-Fiction eine ungewöhnliche Struktur. Der Text wirft Lesende in die Perspektive von Rot und schon im zweiten und dritten Satz tauchen wir in Sprachgewalt: “Blut klatscht ihr die Haare an den Kopf. In der letzten Nacht dieser sterbenden Welt bildet ihr Atem Dampfwolken.” Es sind düstere Welten, durch die die Hauptfiguren wandern, und es wimmelt nur so von Mord, Krieg und blutigen Bildern. Ich empfand die Sprache an vielen Stellen als gewaltvoll, die geschilderten Szenen als widerlich. Achtung, Beispiele: Da werden Menschenknochen geschnitzt und Augen aus Höhlen genommen, Menschen gefoltert usw.
Die zweite Schwierigkeit bestand für mich darin, dass der Inhalt des Textes so schwer fassbar ist. Gladstone und El-Mohtar erklären nichts und so habe ich bis zum Schluss nur sehr sehr wenig davon verstanden, wer da eigentlich warum und in welcher Welt was tut. Am Anfang habe ich es genossen, mir diese Welt allmählich zusammenzupuzzeln, irgendwann fand ich es aber doch frustrierend. Möglicherweise ist das, was ich verstanden zu haben glaube, auch ganz anders gemeint, ich kann hier also einerseits vor Spoilern warnen und andererseits vor jenem Schwebezustand, der den Text durchzieht und Verstehen an vielen Stellen verhindert.

René Moreau, Hans Jürgen Kugler und Heinz Wipperfürth (Hrsg.): Exodus 47. 11 / 2023

schwächelnde Sammlung

Exodus 47

Die „Exodus“ ist eine der etablierten Zeitschriften für Science-Fiction: Sie erschien in dreizehn Ausgaben bis 1980, machte dann 23 Jahre Pause und erscheint seit 2003 wieder halbjährlich. Auf rund 115 Seiten bietet die Zeitschrift nicht nur Kurzgeschichten Raum, sondern auch vielen hochwertig gedruckten Grafiken, einer Galerie mit Essay zum vorgestellten Künstler und Gedichten oder Micro-Fiction. Bislang konnte ich allen Ausgaben etwas abgewinnen. Diese hier ist die Erste, die mich fast durchweg enttäuschte.

Stanislaw Lem-Zitat

Die erste Seite des Heftes bietet ein Foto des berühmten Science-Fiction-Autors und ein Zitat. Nun, ich mag Lems Werke eigentlich. Das Zitat hier zeigt, dass er auch sexistische Klischees bedient, es wird Science-Fiction mit einem „gefallenen Mädchen“ verglichen. Ich verstehe nicht, warum jemand das heute unkommentiert abdruckt.