Mein Science-Fiction-Jahrgang 2022

IMG 20221231 225009Ich weiß, ich bin spät dran. Es ist bereits April, und ich komme zu meinen Highlights des Jahrgangs 2022! Ich habe lange gebraucht zum Lesen. Von den 2022 erstmals auf deutsch erschienenen Werken deutschsprachiger Autor*innen habe ich 231 Kurzgeschichten und 24 Romane gelesen bzw. angelesen. Hinzu kommen Artikel, Interviews und übersetzte Texte. Daraus, dass nur ein kleiner Teil der gelesenen Texte hier rezensiert wurde, lässt sich bereits ablesen, dass mir doch so einiges missfallen hat. Manches traf einfach nicht meinen Geschmack, anderes … nun, dazu später! Rezensiert habe ich nur, was ich auch bis zum Ende gelesen habe, und das war gerade bei den Romanen nicht so oft der Fall. Auch wenn meine Rezensionen häufig kritisch klingen: Hier rezensiert zu sein, heißt bis auf wenige Ausnahmen, dass ein Text mich grundlegend erst einmal überzeugt hat. Das Gemecker ist dann der Bonus. ;)
Wenn ich analysiere, warum ich Texte abbreche, dann ist es oft die Sprache, die mir nicht liegt. Zu konventionelle oder glatte Sprachstile langweilen mich, ebenso wie romantisierende oder adjektivlastige. So etwas habe ich einfach schon zu oft gelesen, was auch heißt, dass man mich mit ungewöhnlichen Adjektiven noch ködern kann. Ich habe auch keine Angst vor langen Sätzen. Noch öfter ist es jedoch so, dass ich einen beim ersten Auftritt überzeugenden Charakter im Verlauf eines Romans als zu flach empfinde, so dass mein Interesse nicht ausreicht, um bis zum Ende durchzuhalten. Mir fehlt dann die Weiterentwicklung oder die Anreicherung mit weiteren Aspekten. Ich bin eben auch in der Literatur psychologisch interessiert und brauche vielschichtige, lebendige Charaktere, die mich durch eine Geschichte tragen. Aber ich möchte hier ja nicht über die Durchschnittsware des Jahres schreiben, sondern über die Perlen, die mich begeistert haben, wobei die Reihenfolge tatsächlich meinem persönlichen und schrecklich subjektiven Ranking entspricht. Die meisten Bücher habe ich schon rezensiert, einige Rezis kommen noch nach, die werde ich nach und nach hier verlinken!

Sandra Bollenbacher und Dr. Benjamin Ziech (Hg.) Body Enhancements. Die Zukunft lesen in 13 Kurzgeschichten. Polarise

düstere Sammlung auf hohem sprachlichen Niveau

body enhancements

 

Am Anfang dachte ich: Ich habe eine zweite Lieblingsantho 2022 gefunden! Die Sammlung beginnt mit gut geschriebenen Texten voller beeindruckender Ideen: ein Autopilot für den Körper, Avatare, die man stundenweise mieten kann, eine Welt mit Todes-Chips. Leider hat sich das recht schnell geändert, denn mir fiel auf, dass alle Texte negativ enden. Zum Schluss konnte ich mit Sicherheit sagen: Dreizehn scheiternde Protas – das ist dann doch mehr, als ich genießen kann.
Nach fünf maximal düsteren Enden verlor ich die Lust an den Texten, nahm ich doch immer schon im Vorhinein an, dass es auch diesmal wieder bitter wird, was die Enden zu oft vorhersehbar machte. Hier wurden meines Erachtens viele tolle Möglichkeiten verschenkt und die Ausrichtung der Anthologie (an deren Ausschreibungstext ich mich noch gut erinnere) ohne Not eingeengt. Denn recht oft handelte es sich eben nicht um Verbesserungen, eine Übersetzung, die das Wort „enhancement“ auch zulässt, sondern um Zurichtungen, stellenweise bis ins Horrorhafte.

Christoph Grimm (Hg.) Weltenportal Nr 4. 11/2022

Liebevoll gemachtes Heft
Weltenportal 4Was sofort auffällt, wenn man dieses Heft in die Hand nimmt, ist die liebevolle und aufwendige Gestaltung. Die Illustration nimmt fast den gesamten Raum ein, die Schrift ist sehr zurückhaltend am oberen Ende der Seite platziert. Zu sehen ist eine futuristisch-asiatisch wirkende Großstadt; im Vordergrund sind zwei Figuren mit gebogenen Schwertern und auf der Rückseite eine kindlich wirkende Figur mit retrofuturistischem Helm. Der glänzende Kartoneinband lässt die Farben der Illustration brillant wirken, auch innen sprechen der großzügige Satz und die vielen Illustrationen in verschiedenen Stilen an. Die Mischung aus Kurz- und Kürzestgeschichten, einem Comic, Interviews, einem Werkstattbericht und Rezensionen wirkt ebenfalls durchdacht. Das „Weltenportal“ ist gratis als pdf zu haben, ich finde aber eindeutig, dass sich der Kauf der Printausgabe lohnt, denn so hat man einfach mehr von den Illustrationen.


Inhaltlich haben mich die Interviews und Rezensionen sehr angesprochen. Nicht alles traf meinen Geschmack, aber es ist eine breite Vielfalt von Literatur in der Phantastik abgebildet und da wird sicher jede*r etwas finden. Eine Enttäuschung waren dagegen für mich die Kurzgeschichten. Die beiden Kürzestgeschichten von Volker Dornemann empfinde ich als wenig gelungen, da kenne ich aus dem Englischen wesentlich ansprechendere und überraschendere Texte. Von den dreizehn längeren Kurzgeschichten gibt es eine, die mich wirklich überzeugt hat und zwei die ich gut lesbar und unterhaltsam fand. Drei Texten konnte ich immerhin etwas abgewinnen, aber die restlichen sieben Texte hatten entweder gravierende sprachliche Mängel oder so althergebrachte, und für Viellesende wie mich zu oft verwendete oder unlogische (oder schlicht fehlende) Plots, dass ich mich gefragt habe, warum sie für dieses Heft ausgewählt wurden. Manches davon mag einfach Geschmackssache sein – Texte verlieren mich, wenn sie sehr adjektiv- und phrasenlastig sind oder einen blumigen Stil pflegen –, anderes fällt vielleicht Leuten nicht auf, die nicht so viel lesen (was ich bei Herausgeber Christoph Grimm nicht annehme), aber an zu vielen Stellen scheint es schlicht am Handwerklichen zu fehlen, wenn beispielsweise Wendungen und Wörter sinnentstellend benutzt werden oder Sätze umständlich formuliert sind. Hier hätte ein gutes Lektorat sicher einiges reißen können. Vielleicht ist es die Idee dahinter, Neulingen einen Ort zu bieten, dagegen spricht allerdings die Tatsache, dass ich doch einige der Namen bereits kannte. Ich werde hier nur über die Texte schreiben, denen ich etwas abgewinnen konnte, einfach um die Kritik in Maßen zu halten.

René Moreau, Heinz Wipperfürth und Hans Jürgen Kugler (Hrsg.): Exodus 44. Science-Fiction-Storys & Phantastische Grafik

solide Geschichten und hochwertige Illustrationen

Exodus 44Die „Exodus“ ist eine der tradierten Zeitschriften für Science-Fiction: Sie erschien in dreizehn Ausgaben bis 1980, machte dann 23 Jahre Pause und erscheint seit 2003 wieder halbjährlich. Auf rund 115 Seiten bietet die Zeitschrift nicht nur Kurzgeschichten Raum, sondern auch vielen hochwertig gedruckten Grafiken, einem Essay und Gedichten oder Micro-Fiction. Ich lese die Exodus seit gut zwei Jahren und habe hier auch schon etliche halbfertige Rezensionen liegen. Nie traute ich mich, sie in die Welt hinauszulassen bzw. hinke ich mit dem Lesen der Exodus stets so hinterher, dass immer schon die nächste Ausgabe erschienen ist, bis ich meine Rezension fertig habe. So ist es auch diesmal: Das Heft 44 erschien im April 2022 und inzwischen liegt hier Heft 45 auf dem Lesestapel.
Zuerst hatte ich den Fehler begangen, die Exodus als pdf zu kaufen. Ich kann es nicht empfehlen: Gerade die aufwändigen Grafiken – jede Geschichte ist großformatig illustriert – kommen so nicht wirklich zur Geltung, und das gedruckte Heft ist auch haptisch eine Freude. Heft 44 vereint, wie eigentlich alle Hefte, Texte bekannter Autor*innen mit Texten von Newcomern oder Unbekannten. Um ihm wirklich gerecht zu werden, möchte ich über alle enthaltenen Texte schreiben, um dann mein Fazit gut begründen zu können.

Judith und Christian Vogt: Laylayland. Plan9

düster und rasant

LaylaylandIch habe schon den ersten Teil „Wasteland“ sehr genossen und war daher sehr gespannt auf den zweiten Teil dieses Hope-Punk-Romans: „Laylayland“. Der Roman beginnt mit einer Zusammenfassung des ersten Teils, so dass man ihn auch lesen kann, wenn man „Wasteland“ nicht kennt. Diese Zusammenfassung wird in der Ich-Form geliefert und spricht die Lesenden direkt an, wobei zunächst unklar ist, wer dieses Ich ist. In der Folge erzählen dann die beiden Hauptfiguren Zeeto und Laylay abwechselnd, unterbrochen von Kapiteln von Root 2.0, einer Person, die sich selbst als Cyborg bezeichnet und das Pronomen ser verwendet. Dazwischen gibt es immer wieder Briefe, deren Sinn und Absender*in ich erst recht spät im Buch verstanden habe.

Mir fiel der Einstieg in das Buch aus drei Gründen nicht leicht: Erstens hatte ich zunächst Schwierigkeiten mit der Erzählstimme von Root 2.0, zweites war die Welt so düster und Zeeto und Laylay so vielen negativen Erfahrungen ausgesetzt, dass ich mich nur schwer darauf einlassen konnte. Und drittens mochte ich die Sache mit den Werwölfen nicht: Laylay ist ein Werwolf, eine sogenannte Ferales, eine gezüchtete Menschenunterart, die gegen das im Wasteland häufige Virus weitgehend immun ist. Werwölfe sind stärker als Menschen und heilen sehr schnell – sie können so auch schwere Verletzungen fast ohne medizinische Hilfe überleben. Laylay ist also eine Art Superheldin – was das für sie und ihre Identität bedeutet, wird im Buch ansatzweise beleuchtet, hätte aber meiner Meinung nach noch etwas mehr Tiefe vertragen können.

Kim de L’Horizon: Blutbuch. Dumont

intim und sprachgewaltig

BlutbuchAls dieses Buch den Deutschen Buchpreis 2022 gewann, war Autorj Kim de L’Horizon in aller Munde. Ich las zunächst Interviews mit Kim und fand die geäußerten Sichtweisen interessant. Also kaufte ich mir das Buch.

Was mir zuerst auffiel, war die Sprache. Sie fließt schnell, ist lyrisch anmutend, dicht, scheint irgendwie immer schneller zu sein, als ich lesen kann. Der Text zog mich rasch in seinen Bann, vor allem wegen dieser Sprache, aber auch wegen des Inhalts: Eine Person, die dem Namen nach mit Kim de L’Horizon identisch ist, sucht nach der eigenen Biografie, den eigenen Wurzeln und versucht, so zumindest meine Interpretation, sich darüber selbst zu erschließen. Ich empfand den Text, auf dem zwar Roman steht, der aber keinen klassischen Formen folgt und auch keinen Spannungsbogen im klassischen Sinne hat, als psychoanalytisch in seiner Suche nach dem Verschwiegenen, dem Nicht-Aussprechbaren, dem Tabuisierten. Kim geht dabei den intergenerationalen Traumata nach, dem körperlich eingeschriebenem Schmerz, der, so meine Interpretation, sich auch in Kims schwierigem Verhältnis zum eigenen Körper äußert.
Kim schreibt von einem Ich, von dem für mich unklar bleibt, ob es mit Autorj-Kim identisch ist oder nicht. Autorj-Kim treibt die Verschleierung an dieser Stelle auf die Spitze, indem in den biografischen Angaben als Geburtsort „Gethen“ und als -jahr 2666 angeben ist: Es könnten die von Hauptperson Kim sein, müssen aber natürlich nicht. Spannend für mich ist natürlich der Verweis auf Science Fiction. Gethen ist ein Planet in „The Left Hand of Darkness“ von Ursula K. Le Guin, einer Autorin, die mich sehr beeinflusst hat und die schon 1969 eine Gesellschaft geschildert hat, in der Geschlecht irrelevant ist. Mit „2666“ konnte ich nichts anfangen, aber eine Google-Suche ergibt, dass es der Titel des letzten Romans des chilenischen Autors Robert Bolano ist, der, ebenso wie das „Blutbuch“ fünf Kapitel hat und offenbar begeistert aufgenommen wurde.

Stefan Cernohuby (Hg): Facetten der Zukunft: Science-Fiction made in Austria. ohneohren

abwechslungsreich und sprachlich solide

facetten cover webEin Feuerwerk von Ideen und verschiedenen Erzählstimmen, sprachlich schöne, etwas ausgefallene Texte und viel Protanähe – das war es, was ich mir von dieser Anthologie erhoffte. Konventionelle Sprache reizt mich ebensowenig wie konventionelle Plots mit viel Action und wenig Beziehungsgestaltung. Aufgrund der Vielzahl an Kurzgeschichten, die ich lese (im Jahrgang 2022 waren es nur im Bereich SF bislang über 200), kenne ich viele Ideen und Plots, es ist daher schwer, mich zu überraschen. Auch fiel mir auf, dass ich nicht die einzige schreibende Person zu sein scheine, der es schwer fällt, überzeugende Enden für die eigenen Texte zu finden.
Nun, es ist vielleicht bereits ahnbar: Ich wurde enttäuscht. Trotzdem denke ich, dass andere Lesende hier sicher Spaß haben – vor allem, wenn ihre Lesevorlieben eher den SF-Konventionen á la Perry Rhodan entsprechen.
Von dreizehn Texten gefielen mir nur sechs, zu denen ich hier etwas schreiben werde, allerdings gibt es keinen Text, der mich richtig begeistert hat. Meines Erachtens gelungen ist die Auswahl abwechslungsreicher Texte, es gibt keine thematischen Häufungen. Auch das Cover ist ansprechend, wobei der e-book-Satz für mich gewöhnungsbedürftig war, denn statt Leerzeilen sind durchgehende Linien enthalten, die etwas sperrig wirken.

Ingrid Pointecker (Hrsg.): Hereinspaziert. Ohneohren

solide erzählte Texte

hereinspaziert cover webEine Steampunk-Anthologie, bei der marginalisierte Personen im Fokus stehen – das konnte ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Das im Inhaltsverzeichnis angekündigte Vorwort habe ich in meinem ebook nicht finden können, mein Buch beginnt mit Content Notes und der Vita des ersten Autors.

Fangen wir mal ausnahmsweise mit dem Fazit an, denn meine Einzelrezensionen der Texte spoilern teilweise. Diese Anthologie ist für mich etwas Besonderes: Es ist die erste Antho, die ich gelesen habe, in der ich alle Geschichten „ganz gut“ fand: Weder gab es eine, die mir gar nicht gefiel, noch gab es eine, die mich wirklich nachhaltig berührte und mir darum besonders gut gefiel. Viele der Texte hätte ich besser gefunden, wenn sie nicht so viele ähnliche Elemente enthalten hätten. Das bringt mich zu der Frage, was eigentlich ein gutes Thema für eine Anthologie ist. Ist die Klammer zu lose, fehlt der Textsammlung der rote Faden, ist sie zu eng, fehlt die Vielfalt. Hier habe ich das Gefühl, dass das Thema zu eng gestrickt war, denn mich haben die vielen thematischen Wiederholungen genervt: Immer wieder die Idee, dass Leute wegen ihrer Hässlichkeit ausgestoßen werden oder nicht liebenswert sind – auch wenn die Texte das implizit meist thematisieren, hat mich die Häufung des Themas doch abgeschreckt. Und immer wieder der böse Zirkusdirektor: Nach der dritten Geschichte, in der er vorkam, hat er mich doch gelangweilt. Ebenso wiederholt sich das Motiv, dass der Direktor dafür sorgt, dass seine Exponate geschaffen werden, er also an Menschen experimentiert oder experimentieren lässt, was mich in der Menge auch nicht recht überzeugen konnte.
Oft ist es Thema, wie die Unterdrückten und Ausgestoßenen ihr Leben selbst gestalten können, zu oft sind sie aber auch passiv und müssen sich retten lassen. Es geht um Rache, um ein anonymes Publikum, das zum Gegner wird. Fast alle der Texte spielen in Wanderzirkussen. Fast alle Texte sind sprachlich schön, aber nur wenige haben jene Perlen, die ich so genieße. Auch hat mich kein Text wirklich tief berührt, auch wenn sie fast alle atmosphärisch dicht sind.
Gibt es also keine Überraschungen? Doch: Nicht alle Geschichten haben ein düsteres Ende, wie ich es bei der Ausschreibung erwartet hätte. Erstaunlicherweise haben viele der Geschichten Enden, die mich nicht überzeugt haben. Also ist entweder meine Messlatte für gute Enden sehr hoch oder die Herausgeberin hat einfach einen anderen Ende-Geschmack als ich. In dieser Sammlung gab es einige Texte, die für mich sehr gut hätten sein können – wenn das Ende anders gewesen wäre.
Und dann noch die Frage der CNs und Vitae vor den jeweiligen Texten. Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, fand ich es , was die CNs angeht, für ein ebook gut. So finden Personen, die sie benötigen, sie gut, ich kann sie aber recht leicht wegwischen. Die Vitae hätte ich doch lieber nach dem jeweiligen Text gelesen. Davor machen sie sich sehr wichtig. Allerdings lässt sich festhalten, dass viele der hier vertretenen Autor*innen es hinbekommen haben, ihre Vita interessant zu gestalten ...