René Moreau, Hans Jürgen Kugler und Heinz Wipperfürth (Hrsg.): Exodus 45, 10/22

solide, aber ...

Exodus 45Wie immer liegt schon die nächste Exodus hier, wenn ich mit meiner Rezension soweit bin. Diesmal gab es einige Texte, die mich angesprochen haben. Aber auch einiges für mich Schwieriges ...

Uwe Schimunek: KIM

Ein Musiker hat einen Auftritt – und es ist fraglich, wer hier eigentlich die Musik macht. Diese kurze Geschichte hat mich nicht nur gut unterhalten, sondern auch nachdenklich gemacht und fasziniert: „Seit dem letzten Update schleift die Software die Ecken aus meinen Bewegungen und synchronisiert mein digitales Alter Ego auf den Beat ...“ heißt es da. Es ist schwer, darüber zu schreiben, ohne zu spoilern, denn die Stärke des Textes liegt meines Erachtens nicht nur in der sehr eigenen fantasievollen Sprache, sondern in dem, was zwischen den Zeilen verhandelt wird: Ein Weltenbau, der Menschen letztlich überflüssig macht. Die Frage, ob Maschinen Menschen dienen oder umgekehrt, ist keine neue, wird hier aber einmal im Rahmen von Musik verhandelt.

Kris Brynn: A.R.T. Coup zwischen den Sternen. Knaur

rasante Kunst im Weltall

Cover ARTCaius Fichtner, ein Arzt, der sich auf Kosten seiner Patient*innen zu bereichernd sucht und dabei buchstäblich über Leichen geht und Savoy Midthunder, eine frisch im Job angekommene Sicherheitsexpertin, die Kunstobjekte bewacht – das sind die Protas dieses Romans. Die Figuren werden rasch eingeführt und gelungen durch spezifische Beschreibungen charakterisiert: Savoy hat die Angewohnheit, in der Aufregung Palindrome zu rezitieren und Caius orientiert sich nur an Marken, ein Chauvinist, der sich ausschließlich für sich selbst interessiert.

Ich mochte die Sprache dieses Buches mit ihren eigenwilligen Vergleichen, den Bezügen zu bildender Kunst und sprachlicher Schönheit im Wechsel mit flappsigen Dialogen; ein gekonntes und gut gemachtes Spielen zwischen hochsprachlichen Kunstbeschreibungen, die mich als Kunstlieberhaberx wirklich beglückt haben, und umgangssprachlichen Bemerkungen. Ein Beispiel dafür sind die Zitate aus Savoys Tagebuch, das den vielsagenden Titel „Dies ist kein Apfel“ trägt, ein Titel, der in mir sofort eine Vielzahl an Assoziationen hervorruft, von Apple, über Adam und Eva bis hin zu Magrittes „Dies ist keine Pfeife“. Ein anderes Stilbeispiel: „Ungesagtes versteckten sie in verbalen Ornamenten unter einem doppelten Boden, dessen Öffnungsmechanismus Savoy erst entdecken musste.“
Im Buch kommen zahlreiche Kunstwerke und bekannte Designobjekte vor, reale wie fiktive, und es gelingt Brynn meisterhaft, die Wirkung dieser Kunstwerke auf die verschiedenen Betrachter*innen zu beschreiben und mich dadurch zu berühren. Schwierigkeiten hatte ich damit, dass Caius so unsympathisch ist. Ich wollte ihm nicht folgen; war angewidert, als er eine Patientin mal eben fast sterbend auf die Straße wirft, weil sie kein Geld hat. Es wird dann aber recht schnell klar, dass es Caius an den Kragen geht – ich folgte ihm also, weil ich hoffte, dass er seine Strafe erhält, und hatte eine diebische Freude daran, zuzusehen, wie sich seine Situation rapide verschlechterte. Allerdings mochte ich mich selbst dabei nicht sonderlich, denn Schadenfreude ist kein Zug, den ich sehr schätze. ;)
Brynns Protas – es kommen noch einige hinzu – sind alle nicht sonderlich sympathisch und auch alle in ihren Motivationen und Handlungen einigermaßen rätselhaft: Neben Savoy und Caius sind da die Assistenzärztin Gitta, Savoys Ex-Freundin Lizzy, eine Nonne, und noch so einige Figuren, die mir nach und nach ans Herz wuchsen.

Sven Haupt: Wo beginnt die Nacht. Eridanus

Witziges Cross-over voller Sprachhumor

Haupt Nacht

 

Sven Haupt wirft Lesende sofort in die erste Szene, aus der sie verwirrt in die nächste fallen und so geht es eigentlich immer weiter: Ein offensichtlich alkoholabhängiger Mann, von dem wir später erfahren, dass er Arzt ist, und eine weiße, sprechende, geflügelte Katze reisen in einem durch Zeit und Dimensionen springenden Haus von einer Welt in die andere. Sven Haupt reiht in eindrucksvoller, oft lyrisch anmutender Sprache eine düstere Szene an die nächste. Es sind alles Welten, die gerade zerfallen oder bereits zerfallen sind: „Regen fiel in dichten Schleiern aus einem grauen Himmel, sodass der Eindruck entstand, die grauen Fassaden zerfielen auf halbem Weg den Himmel hinauf einfach in trostlosen Regen und kehrten zum Boden zurück.“ Wie auch in diesem Beispiel ist die Sprache oft atmosphärisch dicht und wunderschön, die gezeichneten Bilder erschließen sich mir aber selten ganz, entweder weil das Dargestellte physikalischen Regeln widerspricht oder weil es unvollständig ist. Darauf muss man sich einlassen.

 

 

Mein Science-Fiction-Jahrgang 2022

IMG 20221231 225009Ich weiß, ich bin spät dran. Es ist bereits April, und ich komme zu meinen Highlights des Jahrgangs 2022! Ich habe lange gebraucht zum Lesen. Von den 2022 erstmals auf deutsch erschienenen Werken deutschsprachiger Autor*innen habe ich 231 Kurzgeschichten und 24 Romane gelesen bzw. angelesen. Hinzu kommen Artikel, Interviews und übersetzte Texte. Daraus, dass nur ein kleiner Teil der gelesenen Texte hier rezensiert wurde, lässt sich bereits ablesen, dass mir doch so einiges missfallen hat. Manches traf einfach nicht meinen Geschmack, anderes … nun, dazu später! Rezensiert habe ich nur, was ich auch bis zum Ende gelesen habe, und das war gerade bei den Romanen nicht so oft der Fall. Auch wenn meine Rezensionen häufig kritisch klingen: Hier rezensiert zu sein, heißt bis auf wenige Ausnahmen, dass ein Text mich grundlegend erst einmal überzeugt hat. Das Gemecker ist dann der Bonus. ;)
Wenn ich analysiere, warum ich Texte abbreche, dann ist es oft die Sprache, die mir nicht liegt. Zu konventionelle oder glatte Sprachstile langweilen mich, ebenso wie romantisierende oder adjektivlastige. So etwas habe ich einfach schon zu oft gelesen, was auch heißt, dass man mich mit ungewöhnlichen Adjektiven noch ködern kann. Ich habe auch keine Angst vor langen Sätzen. Noch öfter ist es jedoch so, dass ich einen beim ersten Auftritt überzeugenden Charakter im Verlauf eines Romans als zu flach empfinde, so dass mein Interesse nicht ausreicht, um bis zum Ende durchzuhalten. Mir fehlt dann die Weiterentwicklung oder die Anreicherung mit weiteren Aspekten. Ich bin eben auch in der Literatur psychologisch interessiert und brauche vielschichtige, lebendige Charaktere, die mich durch eine Geschichte tragen. Aber ich möchte hier ja nicht über die Durchschnittsware des Jahres schreiben, sondern über die Perlen, die mich begeistert haben, wobei die Reihenfolge tatsächlich meinem persönlichen und schrecklich subjektiven Ranking entspricht. Die meisten Bücher habe ich schon rezensiert, einige Rezis kommen noch nach, die werde ich nach und nach hier verlinken!

Christoph Grimm (Hg.) Weltenportal Nr 4. 11/2022

Liebevoll gemachtes Heft
Weltenportal 4Was sofort auffällt, wenn man dieses Heft in die Hand nimmt, ist die liebevolle und aufwendige Gestaltung. Die Illustration nimmt fast den gesamten Raum ein, die Schrift ist sehr zurückhaltend am oberen Ende der Seite platziert. Zu sehen ist eine futuristisch-asiatisch wirkende Großstadt; im Vordergrund sind zwei Figuren mit gebogenen Schwertern und auf der Rückseite eine kindlich wirkende Figur mit retrofuturistischem Helm. Der glänzende Kartoneinband lässt die Farben der Illustration brillant wirken, auch innen sprechen der großzügige Satz und die vielen Illustrationen in verschiedenen Stilen an. Die Mischung aus Kurz- und Kürzestgeschichten, einem Comic, Interviews, einem Werkstattbericht und Rezensionen wirkt ebenfalls durchdacht. Das „Weltenportal“ ist gratis als pdf zu haben, ich finde aber eindeutig, dass sich der Kauf der Printausgabe lohnt, denn so hat man einfach mehr von den Illustrationen.


Inhaltlich haben mich die Interviews und Rezensionen sehr angesprochen. Nicht alles traf meinen Geschmack, aber es ist eine breite Vielfalt von Literatur in der Phantastik abgebildet und da wird sicher jede*r etwas finden. Eine Enttäuschung waren dagegen für mich die Kurzgeschichten. Die beiden Kürzestgeschichten von Volker Dornemann empfinde ich als wenig gelungen, da kenne ich aus dem Englischen wesentlich ansprechendere und überraschendere Texte. Von den dreizehn längeren Kurzgeschichten gibt es eine, die mich wirklich überzeugt hat und zwei die ich gut lesbar und unterhaltsam fand. Drei Texten konnte ich immerhin etwas abgewinnen, aber die restlichen sieben Texte hatten entweder gravierende sprachliche Mängel oder so althergebrachte, und für Viellesende wie mich zu oft verwendete oder unlogische (oder schlicht fehlende) Plots, dass ich mich gefragt habe, warum sie für dieses Heft ausgewählt wurden. Manches davon mag einfach Geschmackssache sein – Texte verlieren mich, wenn sie sehr adjektiv- und phrasenlastig sind oder einen blumigen Stil pflegen –, anderes fällt vielleicht Leuten nicht auf, die nicht so viel lesen (was ich bei Herausgeber Christoph Grimm nicht annehme), aber an zu vielen Stellen scheint es schlicht am Handwerklichen zu fehlen, wenn beispielsweise Wendungen und Wörter sinnentstellend benutzt werden oder Sätze umständlich formuliert sind. Hier hätte ein gutes Lektorat sicher einiges reißen können. Vielleicht ist es die Idee dahinter, Neulingen einen Ort zu bieten, dagegen spricht allerdings die Tatsache, dass ich doch einige der Namen bereits kannte. Ich werde hier nur über die Texte schreiben, denen ich etwas abgewinnen konnte, einfach um die Kritik in Maßen zu halten.

Annika Beer: Succession Game. Piper

spannend und sprachlich schön

succession game taschenbuch anika beerIch mag die Sprache dieses Buches, die eigenwilligen Vergleiche und Beschreibungen, die gelungenen Beobachtungen der Charaktere. Einige Zitatbeispiele:

„„Komm“, sagte er mit einer Stimme, die sich leise und eigentümlich weich anfühlt.““

oder

„Hathis Gesicht sah irgendwie grau aus. Wie sie auf einer der Bänke hockte, fest in ihre senfgelbe Strickjacke gewickelt, die Knie bis unters Kinn gezogen und mit einer Miene, als wäre sie am liebsten in ihre Thermosflasche gekrochen.“

Ich finde, das ist atmosphärisch schön, sprechend, und doch leicht lesbar.

Mich hatte der Text auch gleich am Haken, allerdings habe ich mich dann etwas in den vielen Ebenen und Charakteren verloren: Da sind Lynn und Rafael , zwei Ärzt*innen, die einmal ein Paar waren und die die Spieler*innen des Spiels betreuen, das im Zentrum des Buches steht. Da ist eine WG mit drei Leuten, die das Spiel ansehen, wobei eine Person davon im Hintergrund Designs für das Spiel erstellt. Und da sind die Spieler*innen selbst, zehn Personen, von denen ich mir nur drei gemerkt habe: Die Wolfsperson, Theo, der bislang vier Mal in Folge das Spiel gewonnen hat, und Clue, eine Privatdetektivin.
Auch wenn die Charaktere sehr gut eingeführt werden, hat das Buch für mich dann einen Hänger: Ich verstehe nicht, warum irgendwer dieses Spiel spielen sollte, was die individuellen Gründe der Mitspielenden sind, sich dem auszusetzen. Dadurch fehlt dem Buch für mich die Tiefe. Auch werden die einzelnen Personen zwar wirklich gelungen eingeführt, es gibt aber dann nicht wirklich eine Vertiefung, sie bleiben eher wie Holzschnitte – wenn auch recht differenzierte. Es dauerte eine Weile, bis bei mir der Verdacht auftauchte, dass das damit zu tun hat, dass die Personen nur Personas sind, also Spielcharaktere, – und dass sie auf das, was sie wirklich sind, während des Spiels nur begrenzten Zugriff haben. Daraus ergibt sich dann die Schwierigkeit, den Weltenbau um das Spiel herum zu beschreiben, die Bedeutung des Spiels für die Welt klar zu machen, denn das wäre ja genau das, was den Personas verloren ging.
Es wird zwar irgendwann in einem Satz erklärt, wer das Spiel spielt, aber das ist für mich zu wenig. Auch was eine Persona ist, bleibt vage, und auch, wie die Drogen, die die Spielenden bekommen, wirken. Meines Erachtens hätte Annika Beer hier die Perspektiven, die im Außen spielen, etwas besser nutzen können um dieses Außen zu zeigen.

Sandra Bollenbacher und Dr. Benjamin Ziech (Hg.) Body Enhancements. Die Zukunft lesen in 13 Kurzgeschichten. Polarise

düstere Sammlung auf hohem sprachlichen Niveau

body enhancements

 

Am Anfang dachte ich: Ich habe eine zweite Lieblingsantho 2022 gefunden! Die Sammlung beginnt mit gut geschriebenen Texten voller beeindruckender Ideen: ein Autopilot für den Körper, Avatare, die man stundenweise mieten kann, eine Welt mit Todes-Chips. Leider hat sich das recht schnell geändert, denn mir fiel auf, dass alle Texte negativ enden. Zum Schluss konnte ich mit Sicherheit sagen: Dreizehn scheiternde Protas – das ist dann doch mehr, als ich genießen kann.
Nach fünf maximal düsteren Enden verlor ich die Lust an den Texten, nahm ich doch immer schon im Vorhinein an, dass es auch diesmal wieder bitter wird, was die Enden zu oft vorhersehbar machte. Hier wurden meines Erachtens viele tolle Möglichkeiten verschenkt und die Ausrichtung der Anthologie (an deren Ausschreibungstext ich mich noch gut erinnere) ohne Not eingeengt. Denn recht oft handelte es sich eben nicht um Verbesserungen, eine Übersetzung, die das Wort „enhancement“ auch zulässt, sondern um Zurichtungen, stellenweise bis ins Horrorhafte.

Kim de L’Horizon: Blutbuch. Dumont

intim und sprachgewaltig

BlutbuchAls dieses Buch den Deutschen Buchpreis 2022 gewann, war Autorj Kim de L’Horizon in aller Munde. Ich las zunächst Interviews mit Kim und fand die geäußerten Sichtweisen interessant. Also kaufte ich mir das Buch.

Was mir zuerst auffiel, war die Sprache. Sie fließt schnell, ist lyrisch anmutend, dicht, scheint irgendwie immer schneller zu sein, als ich lesen kann. Der Text zog mich rasch in seinen Bann, vor allem wegen dieser Sprache, aber auch wegen des Inhalts: Eine Person, die dem Namen nach mit Kim de L’Horizon identisch ist, sucht nach der eigenen Biografie, den eigenen Wurzeln und versucht, so zumindest meine Interpretation, sich darüber selbst zu erschließen. Ich empfand den Text, auf dem zwar Roman steht, der aber keinen klassischen Formen folgt und auch keinen Spannungsbogen im klassischen Sinne hat, als psychoanalytisch in seiner Suche nach dem Verschwiegenen, dem Nicht-Aussprechbaren, dem Tabuisierten. Kim geht dabei den intergenerationalen Traumata nach, dem körperlich eingeschriebenem Schmerz, der, so meine Interpretation, sich auch in Kims schwierigem Verhältnis zum eigenen Körper äußert.
Kim schreibt von einem Ich, von dem für mich unklar bleibt, ob es mit Autorj-Kim identisch ist oder nicht. Autorj-Kim treibt die Verschleierung an dieser Stelle auf die Spitze, indem in den biografischen Angaben als Geburtsort „Gethen“ und als -jahr 2666 angeben ist: Es könnten die von Hauptperson Kim sein, müssen aber natürlich nicht. Spannend für mich ist natürlich der Verweis auf Science Fiction. Gethen ist ein Planet in „The Left Hand of Darkness“ von Ursula K. Le Guin, einer Autorin, die mich sehr beeinflusst hat und die schon 1969 eine Gesellschaft geschildert hat, in der Geschlecht irrelevant ist. Mit „2666“ konnte ich nichts anfangen, aber eine Google-Suche ergibt, dass es der Titel des letzten Romans des chilenischen Autors Robert Bolano ist, der, ebenso wie das „Blutbuch“ fünf Kapitel hat und offenbar begeistert aufgenommen wurde.