S.M. Gruber, Liv Modes, Jen Pauli, Nadja Kasolowsky & Katharina Stein (Hg.) : GroßstadtGeheimnisse. Funkentanz im Dämmergrund. bod

 stilistisch und inhaltlich ansprechende Sammlung

Berlin Authors Grostadtgeheimnisse Cover klein

 

26 Kurzgeschichten sind eine Menge – meiner Erfahrung nach gelingt es fast nie, so viele Geschichten zu sammeln, bei denen ich Freude am Lesen habe. Umso erfreulicher, dass hier mein Geschmack so gut getroffen wurde: eine Perle reiht sich an die nächste. Ja, es sind einige Texte dabei, die mich weniger ansprechen, aber es gab nur einen, bei dem ich keine Qualitäten entdecken konnte – und das kann auch gut Geschmackssache sein oder ich stand einfach auf dem Schlauch. Da mein eigener Text in dieser Anthologie dabei ist, weiß ich, dass das Lektorat sehr sorgfältig war, das macht sicher viel aus, vor allem stilistisch.

Auch interessant: Nicht wenige Geschichten haben fantastische Anteile und fast alle sind irgendwie traurig, haben eine melancholische Grundstimmung. Es geht um Einsamkeit in all ihren Facetten, um die meist vergebliche Suche nach Anschluss – etwas, was viele mit Großstadt assoziieren und somit thematisch auch gut passt.

Ähnlich interessant ist für mich, dass viele Texte Beispiele für eine gute Repräsentation von Personen mit psychischen Störungen sind: Da gibt es Depressionen und Sucht, Demenz und sogar einen Text zu Schizophrenie, der mal nicht in die Klischeefalle tappt.

Uli Bendick, Aiki Mira und Mario Franke (Hg.) Am Anfang war das Bild. Hirnkost

 

Worte und Bilder

 amanfangwardasbild 800x800 2

Die Idee zu dieser Anthologie hat mich gleich überzeugt: Texte zu bereits vorhandenen Bildern. Leider ist das entstandene Papierbuch recht hochpreisig, so dass ich mich mit dem e-book begnügt habe. Und da muss ich leider sagen, dass das für mich so nicht funktioniert hat. Dass die Bilder schwarz-weiß nicht so toll wirken, hatte ich vorausgeahnt. Dass aber ein Teil der Texte unlesbar sein würde – das hatte ich nicht geahnt. Offenbar hat der Verlag ein Design gewählt, bei dem auch die Schrift Farben hat (aber natürlich kann ich nur erahnen, woran es lag). Auf meinem zugegeben nicht ganz neuen Kindle waren jedenfalls alle Überschriften und alle Kommentare zu den Bildern nicht lesbar. Dass sie vorhanden waren, erkannte ich nur beim Umblättern, da wurde die Schrift kurz sichtbar. Daran hat auch ein Ändern der Einstellungen des Readers nichts geändert. Ich kann also schonmal verraten, dass Überschriften für mich zum Textgenuss beitragen.

Trotz der technischen Herausforderungen hat sich diese Anthologie für mich gelohnt: einige Texte haben mich sehr berührt. Andere trafen nicht meinen Geschmack – oder ich habe sie vielleicht schlicht nicht verstanden.

Sven Haupt: Stille zwischen den Sternen. Eridanus

ethische Fragen lyrisch verhandelt

stille haupt eridanus cover 8579c972Ich gebe zu: Ich habe dieses Buch zunächst links liegen gelassen – und zwar wegen des mich nicht ansprechenden Covers. Ich erwartete eine süßliche Romance-Geschichte und die sind gar nicht mein Ding. Dann wurde es aber für den DSFP nominiert – und ich bin froh, dass ich das zum Anlass genommen habe, dann doch einmal reinzulesen.

Der Einstieg ließ mich zunächst verwirrt zurück: Da lese ich angeblich Aufzeichnungen einer KI und die weiß etwas, was niemand beobachtet hat und daher auch niemand wissen kann. Und dann gibt es (scheinbar) eine zweite KI, die Gefühle und eine Mutter hat – wie kann das sein?

Die Welt, die Haupt baut, wird nur sehr langsam etwas verständlicher, wobei bis zum Ende zahlreiche Fragen offen bleiben. Gleichzeitig entwickelt der Text schnell einen Sog, der nicht eigentlich in Spannung besteht – was passiert, bleibt unklar, vage, irgendwie zwischen Realität und Traum oder auch Wahn.

Das größte Rätsel an diesem Text ist, wie er es schafft, mir Rätsel über Rätsel aufzugeben, mich trotzdem bei der Stange zu halten: Viele der recht kurzen Kapitel bestehen nur aus Gedanken einer KI, es gibt keine wirkliche Handlung und die Erzählweise ist nicht chronologisch, sondern springt zwischen mindestens drei Zeitebenen hin und her (so sicher bin ich mir bei der Anzahl nicht), ohne dass mir ersichtlich wird, warum diese Art der Erzählung gewählt wird. Da sind angebliche Tagebuchauszüge, aber keiner davon ist in der Ich-Form. Auch die Protagonist:innen werden nicht recht fassbar: Da ist Hien, ein Mensch-Maschinen-Wesen, das vielleicht nie wirklich menschlich war. Und da ist die KI Jane, die auf Hien aufpassen soll, aber sehr viel menschlicher wirkt als diese. Daneben gibt es einen Vorgesetzten von Hien und einen Militärpsychologen – wobei sehr schnell sichtbar wird, dass Hien beiden meilenweit überlegen ist, was ihre Handlungsmöglichkeiten angeht – und gleichzeitig meilenweit unterlegen, denn sie scheint nicht in der Lage, irgendeine Form von wirklicher Beziehung einzugehen. Das ist das Spannungsfeld, das der Text für mich aufmacht: Fragen rund um Menschlichkeit und Beziehungsfähigkeit, um Ethik und Machbarkeit, die vage bleiben und gerade deshalb so spannend sind, denn auch in unserem Alltag lassen sie sich erfahrungsgemäß selten wirklich fassen.

Ivan Ertlov: Stargazer – Das letzte Artefakt

solide und spannend

 Cover Ertlov Stargazer 1

Ich mochte den Schreibstil von der ersten Seite an: flappsig, mit einem sarkastischen Humor, sich selbst nicht ernst nehmend. Dabei wird man in eine bunte Welt geworfen, die man sich erst einmal zusammenbasteln muss. Das dauerte mir tatsächlich etwas zu lange und als dann eine ekelhafte Kampfschilderung kam, wäre ich fast ausgestiegen. Hier hätte eine Straffung des Textes meines Erachtens gut getan.

Zum Glück geht es danach richtig los: Frank Gazer, einer der letzten lebenden Menschen, will sein Glück versuchen und ein eigenes Schiff haben. Aber die Menschen gelten als barbarisch und gefährlich und sein Startpunkt ist alles andere als gut. Natürlich schafft er es und geht im Weltall auf Schatzsuche.

 

 

Janna Ruth: Memories of Summer. Wer bist du ohne Vergangenheit. Moon Notes.

Einfühlsam und spannend

Cover Memories of SummerDer Einstieg in diesen Text ist mir leichtgefallen: Ich mochte die Sprache und die Art, wie mich Ruth gleich in den Text warf: Das erste Kapitel beginnt damit, wie der Protagonist Mika vor einem Schaufenster steht und das Objekt seiner Begierde, einen neuen Tablet-PC, bewundert. Dann geht er Erinnerungen spenden und trifft dort eine junge Frau, die eine ehemals sehr enge Freundin von ihm war (Lynn) – an die er sich aber nicht mehr erinnert. So ist das zentrale Konfliktfeld des Textes schon auf den ersten Seiten aufgemacht: Wie viel sind Erinnerungen wert?

Der Roman ist aus der Sicht von Mika geschrieben, der gerade dabei ist, erwachsen zu werden und seinen Schulabschluss macht. Eigentlich mag ich Texte im Präsens nicht, aber Mikas Erzählstimme hat mich so gut mitgenommen, dass ich ihm gern gefolgt bin. Mika scheint ein sozialer, etwas nerdiger, zugewandter Typ, der einerseits fast alles tut, um die neuesten Gadgets zu haben, andererseits aber auch sehr fürsorglich ist, wenn es um Freund:innen oder seine Familie geht. Das Ganze ist in einer etwas flapsigen, zu einem Jugendlichen passenden Sprache geschrieben, mit leicht kitschigen Einschüben, die ich Ruth verzeihen konnte, weil sie stets nur kurz sind (auch in diesem Text brechen einige Herzen – eine Formulierung, die ich eigentlich nicht mehr lesen möchte). Lynn, die zweite Hauptperson, wirkt von Anfang an weicher, aber sie ist auch ehrgeizig. Und sie ist depressiv, was gelungen beschrieben ist. Allerdings kommt ihre Therapeutin in dem Text nicht gut weg, was ich als Person des selben Faches natürlich schade finde.

Friedemann Brenneis (Hg.): Magic Future Money. Aprycot

durchwachsen, mit lesenswerten Perlen

Cover Magic Future MoneyEine Kurzgeschichtensammlung rund um das Geld der Zukunft – das klingt spannend, dachte ich. Nach den ersten beiden Geschichten war ich begeistert von dieser Anthologie. Leider lässt die Qualität der Texte danach rapide nach, manche haben sogar massive Fehler (erratisch wechselnde Zeitformen beispielsweise), die in mir die Frage aufwerfen, ob die Texte lektoriert wurden. Manche der Texte scheinen nur aufgenommen worden zu sein, weil sie möglichst absurde Ideen von Zahlungsmitteln der Zukunft präsentieren – gute Geschichten erzählen sie aber nicht. Da wird mit Leben gezahlt, mit Atomen, mit Energie, mit Glas, mit virtuellen Währungen, die automatisch mehr oder weniger werden, oder mit Zeit. Das mag thematisch spannend sein, von einer Kurzgeschichtensammlung erwarte ich aber vor allem Unterhaltung und Anregung.

Trotz dieser Einschränkungen ist die Sammlung lesenswert und enthält einige Kurzgeschichten-Perlen. Neben dem gedruckten Buch mit goldenem Cover ist sie seit einiger Zeit auch als e-book kostenlos erhältlich: https://magicfuturemoney.de/buch/#ebook

J.C. Vogt: Anarchie Déco. Fischer Tor

stimmungsvoll und spannend

9783596002214Um diesen Text bin ich eine Weile herumgeschlichen, bevor ich mich dafür entschieden habe, ihn zu lesen. Denn eigentlich bin ich kein Urban Fantasy Fan und befürchtete, das Ganze sei mir zu süßlich; ich erwartete Elfen und Zwerge und Klischees. Dann kam Yvonne Tunnat und meinte, das sei doch eigentlich Science Fiction – und was soll ich sagen? Ich gebe ihr Recht und bin froh, dass ich diesen Text gelesen habe. Er ist einer meiner Highlights im Jahrgang 2021.

Aber von vorn: Anarchie Deco spielt im Berlin der 1920er Jahre, die Zeit der Weimarer Republik, der erste Weltkrieg ist vorbei und die Nationalsozialisten beginnen, sichtbarer zu werden. Den Vögten gelingt es ganz meisterhaft, die Atmosphäre dieses Berlins einzufangen, die Armut, die dem Reichtum eines aufstrebenden Bürgertums gegenübersteht, die Freiheit in den Milieus der Tänzer:innen und Varietés, in denen mit Geschlecht gespielt werden kann und gleichzeitig die Bedrohung durch Menschen, die wollen, dass alles „seine Ordnung“ hat.

 

Raphaela Edelbauer: Dave. Klett-Cotta.

sprachlich dicht, beklemmend

 Cover Dave

„Dave“ liest sich nicht wie Science Fiction, sondern wie hohe Literatur: Die dichte, stellenweise wie eine wissenschaftliche Arbeit anmutende Sprache erlaubt kein schnelles Lesen. Es brauchte etwas Zeit, bis ich mich in diesen Text hineinfinden konnte, ich mich darauf einließ. Aber dann war es durchaus eine lohnenswerte Lektüre.

Was mir als erstes auffiel, war die Beziehungslosigkeit des Protagonisten Syz, der in der Ich-Form erzählt. Er erscheint seltsam körperlos, als schwimme er irgendwie surreal durch eine Welt, deren Weltenbau sich mir bis zum Schluss nicht wirklich erschloss. Zentral ist es, DAVE zu schaffen, eine künstliche Intelligenz, die Bewusstsein hat und sich selbst erkennen kann. Um Dave ist die gesamte Welt angeordnet, er ist die zentrale Figur oder auch Vision. Daneben erscheinen die anderen Personen fast blass: Ich verstand nicht, wie die Freundschaften funktionieren, wie Syz sich den Leuten nahe fühlt (und warum) und warum scheinbar niemand sinnlich oder körperlich spürbar zu sein scheint. Syz, so heißt es im Text, ist ein Mann, ich erlebte ihn aber nicht als solchen. Geschlechtliche Zuschreibungen werden in dem Text zwar benannt, spielen aber kaum eine Rolle, weil fast alle Personen körperlos wirken.